Urteil des BGH vom 15.09.2015

Mitleid, Schwurgericht, König, Familie

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
5 S t R 2 2 2 / 1 5
vom
15. September 2015
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 15. Septem-
ber 2015, an der teilgenommen haben:
Richter Prof. Dr. Sander
als Vorsitzender,
Richterin Dr. Schneider,
Richter Prof. Dr. König,
Richter Bellay,
Richter Dr. Feilcke
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt M. ,
Rechtsanwalt B.
als Verteidiger des Angeklagten,
Rechtsanwalt H.
als Nebenklägervertreter,
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
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für Recht erkannt:
Auf die Revision des Nebenklägers wird das Urteil des Landge-
richts Frankfurt (Oder) vom 1. Oktober 2014 aufgehoben, soweit
es den Angeklagten E. betrifft; jedoch haben die Feststellun-
gen Bestand.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an ei-
ne andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Land-
gerichts zurückverwiesen.
- Von Rechts wegen -
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten E. wegen Totschlags zu einer
Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Die Mitangeklagte Ma. hat es
wegen Aussetzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren
Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Mit seiner auf die Sachrüge gestütz-
ten Revision wendet sich der Nebenkläger, Vater des getöteten Kindes, gegen
das Urteil, soweit es den Angeklagten E. betrifft, und erstrebt dessen Verur-
teilung wegen Mordes. Der Generalbundesanwalt vertritt die Revision, soweit
der Nebenkläger die rechtliche Würdigung des Schwurgerichts zum Mord-
merkmal der niedrigen Beweggründe beanstandet. Die Revision führt zur Auf-
hebung des Schuldspruchs.
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1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
Die Mitangeklagte Ma. war Ende September 2012 mit ihren drei Kin-
dern
– der später getöteten, am 27. Dezember 2011 geborenen L. und
zwei älteren Söhnen
– bei dem Angeklagten in dessen Wohnung eingezogen.
Sehr früh wurde der Angeklagte gegenüber der Mitangeklagten und ihren Kin-
dern herrisch und bestimmend. Insbesondere das Verhältnis zu L. war ange-
spannt. Eine väterliche Beziehung bestand nie. L. hatte Angst vor ihm. Die
wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie waren schlecht. Es kam zu erhebli-
chen Auseinandersetzungen zwischen beiden Partnern; die Mitangeklagte
Ma.
war „mehr oder weniger vollständig“ vom Angeklagten E. abhän-
gig.
Am 10. Dezember 2013 besuchten die beiden Angeklagten gemeinsam
mit den Kindern Le. und L. die Familie der Angeklagten Ma. . Der
Nachmittag verlief im Wesentlichen harmonisch. Abends fuhren die beiden An-
geklagten mit den Kindern nach Hause. L. schlief bereits im Auto. Die Ange-
klagte Ma. brachte die beiden Kinder im Kinderzimmer zu Bett und setzte
sich neben den Angeklagten E.
ins Wohnzimmer. Dieser war „innerlich er-
regt“ und nach dem Genuss von mehreren Flaschen Bier alkoholisch beein-
flusst. Plötzlich stand er auf und ging in das Kinderzimmer. Die Angeklagte
Ma. hörte L. weinen und folgte ihm. Sie sah, dass der Angeklagte E.
L. hochgehoben hatte und sie kräftig schüttelte. Es gelang ihr nicht, ihn am
Arm festzuhalten. E. ließ L. schließlich aus einer Höhe von einem halben
Meter zweimal mit den Füßen zuerst auf den Boden fallen. „E. geriet weiter
in Rage“ (UA S. 20). Er packte das auf dem Boden liegende Kind am Hals und
würgte es. Ma. flehte E. an aufzuhören. Dieser zog L. im Würgegriff
an sich und schlug sie gegen den Kleiderschrank. Sodann schlug er zweimal
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ihren Hinterkopf auf den Fußboden. Nachdem er das Kind in das Kinderbett
hatte fallen lassen, versuchte die Angeklagte Ma. , L. bequem hinzulegen.
„Das passte dem Angeklagten E. nicht“. Er schlug L. mit seiner Faust
kräftig auf den Brustkorb und äußerte gegenüber der Angeklagten Ma. :
„Lass mich in Ruhe, du machst alles noch schlimmer!“.
Schließlich setzten sich die Angeklagten wieder ins Wohnzimmer. „E.
war weiter in Rage“ (UA S. 21). Er holte L. und stellte sie vor die Heizung,
wo sie „zur Strafe“ stehen bleiben musste. Als das Kind zu wanken begann,
schlug E. L. zweimal mit dem Kopf gegen den Heizkörper. Spätestens
jetzt erkannte er die Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs und nahm den Tod
des Kindes in Kauf. Dann stieß er L. auf den Fußboden. Während Ma.
versuchte, ihn zum Aufhören zu bewegen, würgte er L.
nochmals. Er „wollte
es sich nicht bieten lassen, dass die Ma.
sich einmischte“ (UA S. 22). In
dem Wissen, dass L. sterben könnte, stellte er seinen linken unbeschuhten
Fuß auf den Bauch des mit dem Rücken auf dem Boden liegenden Kleinkindes,
verlagerte sein eigenes Körpergewicht auf das Kind und stand schließlich mit
seinem vollen Körpergewicht (71 kg) auf dessen Bauch. Die Angeklagte
Ma.
„schubste“ ihn beiseite. Im weiteren Tatverlauf spritzte er dem weinen-
den Kind in der Badewanne mit der Brause kaltes Wasser ins Gesicht. Nach
einer Weile kam er mit L. aus dem Badezimmer und weinte. Er hatte erkannt,
„dass er zu weit gegangen war“ (UA S. 23). L. regte sich nicht mehr. Ma.
versuchte E. zu überzeugen, dass L. unbedingt zum Arzt gebracht wer-
den müsse. E.
wurde wieder böse und meinte: „Schenk dem Balg kein Mit-
leid, das braucht sie nicht“ (UA S. 24). Auf sein Verlangen holte die einge-
schüchterte Mitangeklagte Ma. an der nahe gelegenen Tankstelle Bier.
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Nach ihrer Rückkehr fand sie den Angeklagten E. schlafend mit L.
auf der Couch liegend vor. Er wurde wach, als sie versuchte, L. von seinem
Bauch zu nehmen. Als E. sah, dass Ma. mit dem nur noch röchelnden
Kind „kuschelte“, forderte er sie erneut auf, „dem Balg“ kein Mitleid zu schen-
ken. Nachdem Ma. das Kind wieder ins Bett gelegt hatte, schien E.
ruhiger zu werden. „Immerhin hatte er sein Ziel erreicht. Das Kind war endlich
still“ (UA S. 26). Ma. wollte auf die Aufforderung des Angeklagten E.
„Schlaf bei deinem Mistbalg!“ bei L. im Kinderzimmer bleiben. E. ergriff
L. jedoch erneut und wollte das lebensgefährlich verletzte Kind unter Hinweis
darauf, dass das Kinderbett ihm gehöre, der Angeklagten Ma. vor die Füße
werfen. Dieser gelang es, L. aufzufangen. Nachdem sich dieser Vorgang wie-
derholt hatte, „reichte es“ dem Angeklagten E. . Nun wollte er L. töten. Er
packte L. an ihrem linken Fuß und hob sie in die Höhe, so dass ihr Kopf nach
unten hing. „Wissend, dass L. sterben werde, ließ er sie aus einer Höhe von
etwa 50 cm mit dem Kopf zuerst auf den Boden fallen. Mit lautem Knall schlug
L. s Kopf auf dem Boden
auf“ (UA S. 27). E. hob L. auf und ließ sie
nochmals mit dem Kopf auf den Boden fallen. Er äußerte wiederum in Richtung
der Angeklagten Ma.
, dass sie mit „dem Balg“ kein Mitleid haben solle, „das
braucht kein Mitleid“ (UA S. 27). Da E. nun meinte, man dürfe L. nicht
allein schlafen lassen, brachte Ma. das regungslose und nur noch röcheln-
de Kind in das „elterliche“ Bett. E. „klatschte“ L. auf die Wange, um nach
Lebenszeichen zu suchen. Als Ma. versuchte, ihn am Arm festzuhalten,
stieß er ihren Arm weg und meinte: „Ich geb’ ihr noch ’ne halbe Stunde und
wenn sie bis dahin nicht verreckt ist, lege ich sie um“. Dann legte er sich ins
Bett und wollte schlafen, fühlte sich jedoch durch L. s Röcheln gestört und
sagte in ihre Richtung: „Schnauze“ und „Ick will keen Ton mehr von dir hören“
(UA S. 28).
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Erst am nächsten Morgen fuhren die Angeklagten L. zur Rettungsstel-
le, wo sie von einer Notärztin erstversorgt wurde. Das Kind starb; todesursäch-
lich war ein massives Schädel-Hirn-Trauma. Die rechtsmedizinischen Sachver-
ständigen vermochten nicht sicher zu sagen, wann L. bewusstlos wurde und
ob sie langdauernde, erhebliche Schmerzen verspürte.
2. Die Strafkammer hat „trotz Ausschöpfung aller Erkenntnisquellen“ (UA
S. 60) kein Handlungsmotiv und keinen konkreten Anlass des Gewaltausbruchs
feststellen können. Es ist ihr nicht gelungen, ein „Motivbündel herauszuarbeiten,
das den Angeklagten E.
zu der festgestellten Tat hätte hinreißen können“
(UA S. 61). Zwar könne es sein, dass E. mit seiner Gesamtsituation unzu-
frieden und von ihr überfordert gewesen sei. Dies könne jedoch nicht der Grund
dafür gewesen sein, „aus heiterem Himmel ein Kind zu töten“ (UA S. 61). Auch
die Angeklagte Ma. habe sich
– wie die Strafkammer ihr glaubt – das Ver-
halten des Angeklagten E. nicht erklären können. Schließlich habe auch
der psychiatrische Sachverständige keine Erklärung finden können. Dieser sei
zu dem Ergebnis gelangt, dass der Angeklagte E. aufgrund seiner Persön-
lichkeitsbesonderheiten, insbesondere fehlender Empathiefähigkeit, andere
Menschen in ihren Bedürfnissen nicht wahrnehmen könne. Krankheitswert habe
diese Charakterbesonderheit aber nicht. Die zwanghafte Persönlichkeitsstruktur
des Angeklagten, die Introvertiertheit seines Auftretens, seine unterentwickelten
Konfliktbewältigungsfähigkeiten und die prekäre Gesamtsituation verbunden mit
einer „Kleinigkeit“ hätten dazu geführt, dass der Angeklagte „ausgerastet“ sei
(UA S. 63). Solche „Ausbrüche“ könnten Folge an sich vollkommen belangloser
Ereignisse sein, die jederzeit eintreten könnten. Jeder könne in einer solchen
Situation Opfer der „Ausbrüche“ werden.
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Die Schwurgerichtskammer hat die Tat des Angeklagten als Totschlag
gewertet. Ein grausames Handeln hat sie nicht feststellen können. Ebenso hat
sie das Vorliegen sonstiger niedriger Beweggründe verneint, da der Angeklagte
L.
„nicht willkürlich ohne Anlass“ getötet habe. Anlass der Tat sei eine „diffuse
Unzufriedenheit“ gewesen; in deren Folge und „im Wechselspiel von vollkom-
menem Machtanspruch, Beschwichtigungsversuchen der Angeklagten Ma.
und aus Sicht des Angeklagten nicht erwarteten Reaktionen“ habe er sich im-
mer mehr in das Tatgeschehen hineingesteigert. Der Antrieb des Angeklagten
sei vom „Disziplinierungswillen“ in hemmungslose Aggression übergegangen,
die schließlich den Tötungsvorsatz ausgelöst habe. „Der Aggressionstrieb war
in der Steigerung der Ereignisse das auslösende Motiv. … Die Interaktion der
Beteiligten, der Aggressionstrieb des Angeklagten E. , die Beschwichtigun-
gen der Angeklagten Ma. und die ausbleibenden Reaktionen des Kindes
steigerten den Machtanspruch und zugleich die Verzweiflung des Angeklagten
immer mehr“ (UA S. 71). Das Tatgeschehen sei Folge und Ausfluss seiner Per-
sönlichkeitsmängel, die in die Bewertung seiner Beweggründe nicht einfließen
dürften.
3. Der Schuldspruch wegen Totschlags kann keinen Bestand haben.
Zu dem von der Schwurgerichtskammer abgelehnten Mordmerkmal der
sonstigen niedrigen Beweggründe hat der Generalbundesanwalt ausgeführt:
„Das Schwurgericht ist bei der Prüfung, ob der Tatbegehung niedri-
ge Beweggründe zugrunde liegen, von unzutreffenden rechtlichen
Bewertungen ausgegangen. …
Jede einzelne [der] festgestellten Handlungsmotivationen in den
einzelnen Handlungsabschnitten ist unzweifelhaft im Sinne des
§ 211 StGB niedrig:
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(1.) Das bewusste Abreagieren von frustrationsbedingten Ag-
gressionen an einem Opfer, das mit der Entstehung der Un-
zufriedenheit und Angespanntheit des Täters verantwortlich
weder personell noch tatsituativ etwas zu tun hat, lässt auf
das Vorliegen niedriger Beweggründe schließen (BGH, Urteil
vom 12. November 1980
– 3 StR 385/80, NStZ 1981, 100 f.;
BGH, Urteil vom 23. August 1990
– 4 StR 306/90, BGHR
StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 19): Derjenige, der
einen anderen Menschen zum Objekt seiner Wut, Gereizt-
heit, Enttäuschung oder Verbitterung macht, obschon dieser
an der Entstehung solcher Stimmungen nicht den geringsten
Anteil hat, bringt mit der Tat eine Gesinnung zum Ausdruck,
die Lust an körperlicher Misshandlung zum Inhalt hat
(MünchKomm-Schneider, StGB, 2. Aufl., § 211 Rn. 86 mwN).
Insbesondere der Aspekt der willkürlichen Opferauswahl (vgl.
insoweit auch UA S. 69) rechtfertigt die Einstufung solcher
Tötungsakte als Mord; denn eine derartige Degradierung des
Opfers zum bloßen Objekt belegt die totale Missachtung des
Anspruchs eines jeden Menschen auf Anerkennung seines
personalen Eigenwerts (Senat, Urteil vom 17. August 2004
– 5 StR 94/04, NStZ-RR 2004, 332, 333; BGH, Urteil vom
5. November 2002
– 1 StR 247/02, in NStZ-RR 2003, 78 f.;
BGH, Urteil vom 19. Oktober 2001
– 2 StR 259/01,
BGHSt 47, 128 ff.; Schneider, aaO). Der den Eigenwert des
Opfers negierende Vernichtungswille tritt hier
– neben der Art
und Weise der Tatausführung
– zusätzlich auch in der Wort-
wahl des Angeklagten zu Tage, der das Kind während seiner
Handlungen als Drecksgöre und Balg bezeichnete, mit dem
man kein Mitleid haben müsse.
Die Inkonnexität der Tötung von L. in Relation zur Motivati-
onslage des Angeklagten liegt hier auf der Hand. Zwar kann
ein Vorverhalten des Opfers gegen die Verwirklichung des
Mordmerkmals sprechen, insbesondere dann, wenn es durch
sein tatauslösendes Verhalten im Vorfeld der Tötung zur Es-
kalation beigetragen hat. Diese Fallgestaltung lag hier jedoch
unzweifelhaft nicht vor: Das Kind hatte ruhig im Bett geschla-
fen. Der Nachmittag war friedlich verlaufen. Weinen oder
Erbrechen Tage und Wochen vor der Tat sind weder ‚tatsitu-
ativ‘ noch – bei einem Kleinkind –‚verantwortet‘. Die generel-
le Existenz des Kindes, die zur Lebensunzufriedenheit des
Angeklagten beigetragen haben mag, stellt kein schuldhaftes
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Vorverhalten dar, das dem Kind zugerechnet werden müss-
te.
(2.) Auch die Wut und der Bestrafungswille des Angeklagten,
seine ‚Verzweiflung‘ (vgl. UA S. 71 unten) über die wieder-
holten Einmischungen seiner Lebensgefährtin beruhten (als
generell-abstrakt normalpsychologische Antriebe) ihrerseits
auf einer niedrigen Gesinnung.
Denn wenn die aus normalpsychologischem Antrieb began-
gene Tötung wie hier eines rechtlich beachtlichen Grundes
entbehrt (zu diesem Maßstab siehe BGH, Beschluss vom
23. Februar 1990
– 2 StR 29/90, BGHR, § 211 Abs. 2 niedri-
ge Beweggründe 17; BGH, Beschluss vom 13. Dezem-
ber 1994
– 4 StR 680/94, BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige
Beweggründe 30), so ist die Annahme eines niedrigen Tat-
antriebs gerechtfertigt.
Nur wenn sich die Tötung in Ansehung der einzelfallspezifi-
schen Gegebenheiten nach normativen Deutungsmustern
als begreiflich erweist, kann das ihr zugrunde liegende Tö-
tungsmotiv nicht als niedrig klassifiziert werden (BGH, Urteil
vom 14. Oktober 1992
– 3 StR 320/92, NStZ 1993, 182
[183]; BGH, Beschluss vom 22. Juli 2010
– 4 StR 180/10,
NStZ 2011, 35).
Entscheidungserheblich sind demnach die Gründe, die den
Täter in Wut oder Verzweiflung versetzt und ihn zur Tötung
gebracht haben (vgl. Schneider, aaO, Rn. 99 mwN).
Die festgestellten näheren Umstände der Tat sowie deren
Entstehungsgeschichte als auch die Persönlichkeit des Tä-
ters und dessen Beziehung zum Opfer (vgl. hierzu BGH, Be-
schluss
vom
25. Oktober 2010
– 1 StR
57/10,
NStZ-RR 2011, 7, 8; Schneider, aaO, Rn. 99; Fischer, StGB,
62. Aufl., § 211 Rn. 19) lassen hier keinen Zweifel daran,
dass die Tatbegehung auch unter diesem Aspekt als niedrig
zu qualifizieren ist (vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom
24. Mai 2012
– 4 StR 62/12, NStZ 2012, 694, 695): Das Kind
hatte ruhig geschlafen. Die Unzufriedenheit des Angeklagten
hatte es nicht zu verantworten, sondern nur er selbst. Die
Versuche seiner Lebensgefährtin, ihn davon abzuhalten, L.
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zu schütteln und später so zu misshandeln, dass sie starb,
hat der Angeklagte durch sein Vorverhalten selbst herbeige-
führt. Gleiches gilt für die ihn störende mangelnde Standfes-
tigkeit des Kindes L.
beim ‚Strafe stehen‘ und die von ihr
ausgehenden Geräusche (schweres, röchelndes, ‚ungesun-
des‘ Atmen) nach seinen Misshandlungen. Selbstverschulde-
te Bedrängnisse des Täters können und dürfen auf die sozi-
alethische Beurteilung seiner normalpsychologischen Tö-
tungsbeweggründe keinen entlastenden Einfluss gewinnen
(Schneider, aaO, Rn. 100).
Auch die im Urteil beschriebene Persönlichkeitsstruktur des
Angeklagten ist weder für sich genommen noch in Verknüp-
fung mit der Tatsituation geeignet, die Tötung des Kleinkin-
des, das sich nichts hat zuschulden kommen lassen, einfach
nur existiert, als menschlich verständlich erscheinen zu las-
sen und bietet keinen beachtlichen Grund, der der Wertung
der Handlungsantriebe des Angeklagten als auf sittlich tiefs-
ter Stufe stehend entgegenwirken könnte (vgl. auch BGH,
Urteil vom 14. Oktober 1992
– 3 StR 320/92, NStZ 1993,
182, 183).
(3.) Soweit das Schwurgericht im Rahmen der rechtlichen Wür-
digung ausführt, der Ablauf der Tat sei auch Ausdruck einer
vollkommenen Überforderung
‘ (UA S. 72) gewesen, vermag
diese Wertung die Qualifizierung der Tat als niedrig nicht in
Frage zu stellen. Die allgemeine Lebensunzufriedenheit des
Angeklagten und seine daraus resultierende Wut und Verär-
gerung sind mit den in der Rechtsprechung des Bundesge-
richtshofs anerkannten ‚nervlichen Überforderungen‘ (vgl.
u. a. BGH, Urteil vom 14. Dezember 2006
– 4 StR 419/06,
NStZ-RR 2007, 111) nicht vergleichbar, die die Verzweiflung
oder Wut eines Angeklagten als menschlich begreifbar er-
scheinen lassen könnten.
Die vorliegende Tat war ein reiner Willkürakt ohne jede durch
das Opfer (oder anderen Personen) hervorgerufene nervli-
che Überforderung, sei es durch Streit, intensive Beleidigun-
gen, Zusammenbruch der eigenen ‚Lebenswelt‘ oder lang-
andauerndes Weinen oder Schreien eines Kindes. Nichts
davon lag hier vor.
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All dies hat das Schwurgericht verkannt. Auf die Frage eines
‚bewusstseinsdominanten Beweggrundes‘ (UA S. 71) kam es
angesichts der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu
den Beweggründen und wirkmächtigen Antrieben zur Tat aus
den dargestellten Gründen nicht an: Jede einzelne Hand-
lungsmotivation des Angeklagten war niedrig.“
Dem tritt der Senat angesichts des außergewöhnlich brutalen, eklatant
menschenverachtenden Tatbildes bei (vgl. auch BGH, Urteil vom 22. Okto-
ber 2014
– 5 StR 380/14, BGHSt 60, 52 mwN). Er bemerkt ergänzend, dass
auch das Merkmal der Grausamkeit erneut zu prüfen sein wird; jedenfalls einen
Teil des Geschehens auch nach Fassung des Tötungsvorsatzes hat das Kind
mit Bewusstsein erlebt (vgl. UA S. 22, 23). Sollte das neue Tatgericht zu einer
Verurteilung des Angeklagten wegen Mordes gelangen, so wird es sich auch
mit der Frage der besonderen Schwere der Schuld (§ 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB)
auseinanderzusetzen haben. Im Rahmen der anzustellenden Gesamtwürdigung
wird es zu erwägen haben, dass die Tat jedenfalls eine Nähe zu den Mord-
merkmalen der Grausamkeit und der Mordlust aufweist.
4. Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten (§ 301 StPO) lässt das
angefochtene Urteil nicht erkennen. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststel-
lungen können bestehen bleiben. Sie können durch ihnen nicht widersprechen-
de neue Feststellungen ergänzt werden.
Sander
Schneider
König
Bellay
Feilcke
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