Urteil des BGH vom 21.06.2012

Leitsatzentscheidung zu Ausschluss der Öffentlichkeit, Vollstreckung der Strafe, Rüge, Strafverfahren, Bindungswirkung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 623/11
vom
21. Juni 2012
BGHSt:
ja
BGHR:
ja
Nachschlagewerk:
ja
Veröffentlichung:
ja
–––––––––––––––––––––––––––––
GVG § 171b
StPO § 257c Abs. 3 Satz 4, Abs. 4 Satz 1
1. Nach § 171b GVG darf die Öffentlichkeit auch während der Verlesung des Ankla-
gesatzes von der Verhandlung ausgeschlossen werden.
2. a) Die Zustimmungserklärung der Staatsanwaltschaft zu dem Verständigungsvor-
schlag des Gerichts ist als gestaltende Prozesserklärung unanfechtbar und un-
widerruflich.
b) Das Entfallen der Bindungswirkung der Verständigung für das Gericht nach
§ 257c Abs. 4 Satz 1 StPO tritt nicht kraft Gesetzes ein, sondern erfordert eine
dahingehende gerichtliche Entscheidung.
BGH, Urteil vom 21. Juni 2012 - 4 StR 623/11 - LG Essen
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 21. Juni 2012,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Ernemann,
Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Mutzbauer,
Bender,
Dr. Quentin
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des
Landgerichts Essen vom 21. Juli 2011 wird verworfen.
Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die
insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklag-
ten.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den umfassend geständigen Angeklagten nach
einer Verständigung (§ 257c StPO) wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit
vorsätzlicher Körperverletzung und Beleidigung zu der Freiheitsstrafe von zwei
Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Hierge-
gen richtet sich die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der
Staatsanwaltschaft. Mit Verfahrensbeschwerden wendet sich die Staatsanwalt-
schaft gegen den Ausschluss der Öffentlichkeit während der Verlesung des An-
klagesatzes und beanstandet im Zusammenhang mit der Verständigung, dass
das Landgericht es unterlassen habe, sich im Urteil mit den Gründen für das
Festhalten an der Verständigung auseinanderzusetzen, obwohl aufgrund neu in
der Hauptverhandlung zutage getretener Umstände Veranlassung bestanden
habe, sich nach § 257c Abs. 4 StPO von der Verständigung zu lösen. Die
Sachrüge ist mit Angriffen gegen den Strafausspruch näher ausgeführt.
Das vom Generalbundesanwalt nicht vertretene Rechtsmittel bleibt ohne
Erfolg.
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I.
Nach den Feststellungen kam es zwischen dem Angeklagten und der
Nebenklägerin im Erdgeschoss des vom Angeklagten allein bewohnten Hauses
zunächst zum einvernehmlichen Geschlechtsverkehr, in dessen Verlauf der
Angeklagte unvermittelt begann, ihn erregende und für die Nebenklägerin
schmerzhafte Handlungen, unter anderem Schläge mit der flachen Hand gegen
die Brust der Nebenklägerin, vorzunehmen, worauf die Nebenklägerin vergeb-
lich versuchte, den Angeklagten wegzudrücken. Nachdem der Angeklagte die
Nebenklägerin, die eine entsprechende Aufforderung zuvor abgelehnt hatte, in
das im Obergeschoss gelegene Schlafzimmer geschoben hatte, führte er den
Geschlechtsverkehr mit der auf dem Bett liegenden Nebenklägerin unter den-
selben Begleitumständen weiter. Als die Nebenklägerin ihn bei ihrer fortdauern-
den Gegenwehr mit ihren Fingernägeln am Hals verletzte, schlug der Angeklag-
te, der zu diesem Zeitpunkt erkannt hatte, dass die Fortführung des Ge-
schlechtsverkehrs und die Schläge gegen die Brüste gegen den Willen der Ne-
benklägerin geschahen, ihr mit beiden Händen nacheinander ins Gesicht. So-
dann setzte er den Geschlechtsverkehr mit der resignierenden und jede Ge-
genwehr aufgebenden Nebenklägerin fort und urinierte ihr anschließend auf
den Bauch. In der Folgezeit vollzog der Angeklagte mit der Nebenklägerin den
Analverkehr unter Einsatz eines Gleitgels und - nach einer Unterbrechung, in
der sich der Angeklagte von hinten an die Nebenklägerin anschmiegte und äu-
ßerte, er könne auch kuscheln - ein weiteres Mal den vaginalen Geschlechts-
verkehr, ehe er der Nebenklägerin erneut auf den Bauch urinierte. Bei Tatbege-
hung war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund des vorangegan-
genen Alkoholgenusses nicht ausschließbar erheblich beeinträchtigt.
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II.
Die Verfahrensrügen dringen nicht durch.
1. Die Staatsanwaltschaft beanstandet gemäß § 338 Nr. 6 StPO den
Ausschluss der Öffentlichkeit bei der Verlesung des Anklagesatzes und macht
geltend, § 171b GVG lasse eine Beschränkung der Öffentlichkeit während der
Anklageverlesung nicht zu.
a) Die Rüge ist zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Da die Be-
anstandung des Verfahrens die prinzipielle Reichweite der Ausschließungsbe-
fugnis nach § 171b GVG zum Gegenstand hat, sind die Einzelheiten der im Zu-
sammenhang mit der Ausschließungsentscheidung der Strafkammer angefalle-
nen Unterlagen, deren Vortrag der Generalbundesanwalt und die Verteidigung
vermissen, für die Entscheidung über die Verfahrensrüge ohne Bedeutung.
b) Die Regelung des § 171b Abs. 3 GVG i.V.m. § 336 Satz 2 StPO steht
der erhobenen Rüge nicht entgegen. Gemäß § 171b Abs. 3 GVG unanfechtbar
und daher gemäß § 336 Satz 2 StPO der revisionsgerichtlichen Überprüfung
entzogen ist die gerichtliche Entscheidung darüber, ob die in § 171b Abs. 1
Satz 1 GVG normierten tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Aus-
schluss der Öffentlichkeit im Einzelfall vorliegen (vgl. BGH, Urteil vom
21. Februar 1989 - 1 StR 786/88, BGHR GVG § 171b Abs. 1 Dauer 1; Be-
schluss vom 19. Dezember 2006 - 1 StR 268/06, StV 2007, 514; vgl. auch den
Entwurf der Bundesregierung für ein Erstes Gesetz zur Verbesserung der Stel-
lung des Verletzten im Strafverfahren, BT-Drucks. 10/5305 S. 23 f.). Damit ist
es dem Revisionsgericht verwehrt, die Begründung einer nach § 171b GVG
ergangenen Entscheidung inhaltlich zu überprüfen (vgl. Wickern in
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Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 171b GVG, Rn. 25). Die Rüge der Staats-
anwaltschaft zielt indessen nicht auf die Tragfähigkeit der von der Strafkammer
für ihre Ausschließungsanordnung angeführten Gründe, sondern stellt die gene-
relle Befugnis für den Ausschluss der Öffentlichkeit während der Verlesung des
Anklagesatzes in Frage. Diese Beanstandung wird von § 171b Abs. 3 GVG
nicht ausgeschlossen.
c) Die Rüge ist unbegründet. Nach § 171b GVG darf die Öffentlichkeit
auch während der Verlesung des Anklagesatzes von der Verhandlung ausge-
schlossen werden.
Die Vorschrift des § 171b GVG knüpft an den Begriff der Verhandlung
vor dem erkennenden Gericht in § 169 Satz 1 GVG an und lässt beim Vorliegen
der Voraussetzungen des § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG einen Ausschluss der
Öffentlichkeit für sämtliche Abschnitte der Hauptverhandlung zu (vgl. BGH, Be-
schluss vom 10. März 1992 - 1 StR 105/92, BGHR GVG § 171b Abs. 1 Dauer 5;
Wickern aaO, Rn. 21). Die Ausschließungsbefugnis nach § 171b GVG reicht
nicht weniger weit als bei den Ausschlusstatbeständen des § 171a GVG und
§ 172 GVG, für welche ausdrücklich normiert ist, dass die Öffentlichkeit für die
(Haupt-)Verhandlung oder einen Teil davon ausgeschlossen werden kann. Da-
für spricht auch die Entstehungsgeschichte des § 171b GVG. Durch die Schaf-
fung des § 171b GVG sollte der bis dahin in § 172 Nr. 2 GVG in der Fassung
vom 9. Mai 1975 geregelte Schutz des persönlichen Lebensbereichs eines
Prozessbeteiligten oder Zeugen durch eine Änderung des Abwägungsmaß-
stabs zugunsten des Persönlichkeitsschutzes verbessert, der Ausschluss der
Öffentlichkeit bei Erörterung von Umständen aus dem persönlichen Lebensbe-
reich aus dem Zusammenhang der übrigen Ausschlussgründe gelöst und pla-
kativ an die Spitze gestellt werden (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung,
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BT-Drucks. 10/5305 S. 23). Dafür, dass bei dem neu in das Gerichtsverfas-
sungsgesetz aufgenommenen § 171b GVG - anders als bei § 172 GVG - be-
stimmte Verfahrensabschnitte der Hauptverhandlung von der Ausschließungs-
befugnis ausgenommen sein sollten, bietet die Entstehungsgeschichte keinen
Anhalt. Das Gesetz enthält in § 173 GVG lediglich für die Urteilsverkündung
eine besondere Regelung, wonach die Verlesung der Urteilsformel stets öffent-
lich zu erfolgen hat und der Ausschluss der Öffentlichkeit während der Eröff-
nung der Urteilsgründe einen besonderen Beschluss des Gerichts nach
§§ 171b, 172 GVG erfordert. Die eine Gegenausnahme zu den Ausschlie-
ßungstatbeständen der §§ 171a, 171b und 172 GVG beinhaltende Bestimmung
des § 173 GVG ist entgegen der Ansicht der Revision einer ausdehnenden,
ihren Anwendungsbereich auf andere Verfahrensvorgänge erstreckenden Aus-
legung nicht zugänglich.
Die Hauptverhandlung beginnt mit dem Aufruf der Sache (§ 243 Abs. 1
Satz 1 StPO) und umfasst nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO die Verlesung des
Anklagesatzes. Die Verlesung ist ein Teil der Verhandlung, für den bei Vorlie-
gen der gesetzlichen Voraussetzungen die Öffentlichkeit ausgeschlossen wer-
den darf (vgl. für § 172 GVG RG, Urteil vom 13. Mai 1927 - 1. D 392/1927;
Wickern aaO, § 172 GVG, Rn. 39). Auch bei der Verlesung des Anklagesatzes
können Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozessbeteilig-
ten, Zeugen oder durch eine rechtswidrige Tat Verletzten zur Sprache kommen,
die einen Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG zu
rechtfertigen vermögen, weil deren öffentliche Erörterung schutzwürdige Inte-
ressen verletzen würde, ohne dass das Interesse an der öffentlichen Erörterung
dieser Umstände überwiegt. Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffas-
sung der Revision weder aus dem Umstand, dass der Inhalt des Anklagesatzes
auf einer vorläufigen Bewertung des Ermittlungsergebnisses durch die Staats-
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anwaltschaft beruht, noch aus der verfahrensrechtlichen Funktion des Anklage-
satzes zur Umgrenzung und Konkretisierung des Verfahrensgegenstandes.
2. Im Zusammenhang mit der Verständigung nach § 257c StPO macht
die Revision einen Verstoß gegen die §§ 257c, 261, 267 StPO geltend. Sie be-
anstandet, das Landgericht habe trotz des von der Staatsanwaltschaft erklärten
Widerrufs der Zustimmung zu dem gerichtlichen Verständigungsvorschlag in
den Urteilsgründen nicht ausgeführt, ob und aus welchen Gründen es an der
Verständigung habe festhalten wollen. Die in der Hauptverhandlung neu zutage
getretenen Umstände - die erheblichen psychischen Tatfolgen für die Neben-
klägerin und das erst im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung nach Interven-
tion der Staatsanwaltschaft erfolgte Eingeständnis des erzwungenen Analver-
kehrs durch den Angeklagten - hätten der Strafkammer Anlass geben müssen,
den der Verständigung zugrunde gelegten Strafrahmen zu verlassen.
Der Rüge bleibt der Erfolg versagt.
a) Nach der Konzeption des § 257c StPO kommt eine Verständigung
über das Ergebnis des Verfahrens durch einen Vorschlag des Gerichts und die
Zustimmungserklärungen des Angeklagten sowie der Staatsanwaltschaft zu-
stande. Das Gericht gibt nach § 257c Abs. 3 Satz 1 StPO den Inhalt einer mög-
lichen Verständigung bekannt und macht dabei regelmäßig von der Möglichkeit
Gebrauch, gemäß § 257c Abs. 3 Satz 2 StPO eine Strafober- und Strafunter-
grenze anzugeben (vgl. BGH, Urteil vom 17. Februar 2011 - 3 StR 426/10,
NStZ 2011, 648; Beschluss vom 16. März 2011 - 1 StR 60/11, StV 2012, 134,
135). Für die in § 257c Abs. 3 Satz 4 StPO als Vorschlag bezeichnete Bekannt-
gabe hat das Gericht das vom Angeklagten im Rahmen der Verständigung er-
wartete Prozessverhalten, bei dem es sich in aller Regel um ein Geständnis
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handeln wird (§ 257c Abs. 2 Satz 2 StPO), genau zu bezeichnen und unter an-
tizipierender Berücksichtigung dieses Verhaltens und Beachtung der Vorgaben
des materiellen Rechts eine strafzumessungsrechtliche Bewertung des Ankla-
gevorwurfs vorzunehmen (vgl. Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur
Regelung der Verständigung im Strafverfahren, BT-Drucks. 16/12310 S. 14;
Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Straf-
verfahren, § 257c Rn. 56). Die Verständigung kommt gemäß § 257c Abs. 3
Satz 4 StPO zustande, wenn der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft dem
gerichtlichen Verständigungsvorschlag zustimmen. Die Zustimmungserklärung
der Staatsanwaltschaft ist als gestaltende Prozesserklärung (vgl. Meyer-
Goßner, StPO, 54. Aufl., Einleitung, Rn. 95, 102, 116) unanfechtbar und unwi-
derruflich (vgl. Niemöller aaO, Rn. 28; Altvater, Festschrift für Rissing-van Saan,
2011, S. 26; Meyer-Goßner aaO, § 257c, Rn. 25). Die Staatsanwaltschaft hat
auch dann von sich aus keine Möglichkeit, die getroffene Verständigung mit der
daraus resultierenden Bindungswirkung für das Gericht nachträglich zu Fall zu
bringen, wenn sie die Voraussetzungen des § 257c Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO
für ein Entfallen der Bindungswirkung als gegeben ansieht (vgl. Niemöller aaO,
Rn. 39, 111; Altvater aaO; Eschelbach in Graf, StPO, § 257c, Rn. 30; Velten in
SK-StPO, 4. Aufl., § 257c, Rn. 25; Ambos/Ziehn in Radtke/Hohmann, StPO,
§ 257c, Rn. 35).
b) Das Entfallen der Bindungswirkung der Verständigung für das Gericht
tritt ungeachtet des insoweit unklaren Wortlauts des § 257c Abs. 4 Satz 1 StPO
nicht kraft Gesetzes von selbst ein, sondern erfordert eine dahingehende ge-
richtliche Entscheidung. Die Prüfung, ob eine mit dem materiellen Recht in Ein-
klang stehende Ahndung auch bei veränderter Beurteilungsgrundlage noch im
Rahmen der getroffenen Verständigung möglich ist, liegt im Verantwortungsbe-
reich des Gerichts. Um ein materiell-rechtlich richtiges und gerechtes Urteil zu
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gewährleisten (BT-Drucks. 16/12310 S. 14), räumt § 257c Abs. 4 StPO dem
Gericht die Befugnis ein, sich unter den in § 257c Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO
geregelten Voraussetzungen aus der Bindung durch die Verständigung zu
lösen. Das Abweichen von der Verständigung ist das Gegenstück zu dem ge-
richtlichen Verständigungsvorschlag und stellt sich der Sache nach als Widerruf
der zum Bestandteil der Verständigung gewordenen Strafrahmenzusage dar.
Dies macht eine entsprechende Entscheidung des Gerichts erforderlich (vgl.
Niemöller aaO, Rn. 113; BT-Drucks. 16/12310 S. 15; a.A. Altvater aaO, S. 24).
Die Notwendigkeit einer gerichtlichen Entscheidung folgt zudem aus der Rege-
lung des § 257c Abs. 4 Satz 1 StPO, die das Entfallen der Bindung an die Ver-
ständigung unter anderem davon abhängig macht, dass das Gericht wegen der
veränderten Beurteilungsgrundlage zu der Überzeugung gelangt, dass der in
Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist. Für
die danach erforderliche Überzeugungsbildung bedarf es zwingend einer ge-
richtlichen Entscheidung. Die Entscheidung über das Abweichen von der Ver-
ständigung ist nach § 257c Abs. 4 Satz 4 StPO unverzüglich mitzuteilen, um
dem Angeklagten und den weiteren Verfahrensbeteiligten - insbesondere mit
Blick auf das mit dem Entfallen der Bindung des Gerichts an die Verständigung
gemäß § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO verknüpfte Verwertungsverbot für ein im Zu-
ge der Verständigung abgelegtes Geständnis des Angeklagten - die Möglichkeit
zu geben, ihr Prozessverhalten auf die neue Verfahrenslage einzurichten (vgl.
BT-Drucks. 16/12310 S. 15).
c) Ein Abweichen von der Verständigung setzt unter anderem voraus,
dass das Gericht wegen der veränderten Beurteilungsgrundlage zu der Über-
zeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat-
oder schuldangemessen ist. Dies ist in § 257c Abs. 4 Satz 1 StPO ausdrücklich
geregelt, gilt in gleicher Weise aber auch für die Fälle des § 257c Abs. 4 Satz 2
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StPO. Gegenstand der in § 257c Abs. 4 Satz 2 StPO angesprochenen Progno-
se ist die strafzumessungsrechtliche Bewertung, die das Gericht bei seiner Zu-
sage der Strafrahmengrenzen unter antizipierender Berücksichtigung des nach
dem Inhalt des Verständigungsvorschlags erwarteten Prozessverhaltens des
Angeklagten vorgenommen hat. Von einem nicht der Prognose entsprechenden
Verhalten des Angeklagten, das ein Abweichen von der Verständigung zu
rechtfertigen vermag, kann daher nur dann die Rede sein, wenn das von der
Erwartung abweichende tatsächliche Prozessverhalten aus der Sicht des Ge-
richts der Strafrahmenzusage die Grundlage entzieht.
Bei der Beantwortung der Frage, ob die in Aussicht gestellten Strafrah-
mengrenzen auch auf veränderter Beurteilungsgrundlage eine tat- und schuld-
angemessene Ahndung ermöglichen, kommt dem Gericht - wie auch sonst bei
Wertungsakten im Bereich der Strafzumessung - ein weiter Beurteilungsspiel-
raum zu, der erst überschritten ist, wenn der zugesagte Strafrahmen nicht mehr
mit den Vorgaben des materiellen Rechts in Einklang zu bringen ist. Dies wäre
etwa anzunehmen, wenn die Strafrahmenzusage sich unter Berücksichtigung
von neu eingetretenen oder erkannten Umständen oder des tatsächlichen Pro-
zessverhaltens des Angeklagten so weit von dem Gedanken eines gerechten
Schuldausgleichs entfernte, dass sie als unvertretbar erschiene. In diesem Fall
wäre das Gericht jedenfalls aus Gründen sachlichen Rechts verpflichtet, von
der getroffenen Verständigung abzuweichen. Da die Anforderungen des mate-
riellen Strafrechts im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO nicht dis-
ponibel sind (vgl. nur BT-Drucks. 16/12310 S. 7 ff., 13 f.), wäre ein auf der
Grundlage der Verständigung ergehendes Urteil sachlich-rechtlich fehlerhaft.
Ob in einem Festhalten an der Verständigung bei nach Maßgabe von § 257c
Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO unvertretbar gewordener Strafrahmenzusage zu-
gleich ein Verfahrensverstoß gegen § 257c Abs. 4 StPO läge, kann der Senat
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dahinstehen lassen. Denn im vorliegenden Fall hat das Landgericht den ihm im
Rahmen des § 257c Abs. 4 StPO zukommenden Beurteilungsrahmen nicht
überschritten. Die Revision der Staatsanwaltschaft zeigt keine nach § 257c
Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO neu in die strafzumessungsrechtliche Bewertung ein-
zubeziehenden Umstände auf, die geeignet sind, die Vertretbarkeit der von der
Strafkammer in ihrem Verständigungsvorschlag in Aussicht gestellten Straf-
ober- und Strafuntergrenze in Frage zu stellen. Dies gilt sowohl für den
Umstand, dass der Angeklagte den gewaltsam erzwungenen Analverkehr erst
im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung glaubhaft eingeräumt hat, als auch
für die erheblichen psychischen Folgen der Tat für die Nebenklägerin.
d) Ausführungen in den Urteilsgründen zum Festhalten an oder Abwei-
chen von der Verständigung sind entgegen der Ansicht der Revision nicht er-
forderlich. Während in dem Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums für
ein Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren ursprünglich die
Feststellung in den Urteilsgründen vorgesehen war, dass dem Urteil eine Ver-
ständigung zugrunde liegt (vgl. Referentenentwurf S. 6 f. bei Niemöller aaO,
Anhang 4), verlangt die Gesetz gewordene Regelung des § 267 Abs. 3 Satz 5
StPO lediglich die Angabe, dass dem Urteil eine Verständigung (§ 257c StPO)
vorausgegangen ist. Die Vorschrift soll auch für die Urteilsgründe Transparenz
herstellen (vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 15). Die Darstellung des Inhalts der
Verständigung ist dabei nicht geboten. Insoweit findet die notwendige Doku-
mentation gemäß § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO in der Sitzungsniederschrift statt,
welche die Grundlage einer vom Revisionsgericht auf Verfahrensrüge hin ge-
gebenenfalls vorzunehmenden Prüfung des Verfahrens nach § 257c StPO bil-
det (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. Oktober 2010 - 1 StR 359/10, NStZ 2011,
170; vom 19. August 2010 - 3 StR 226/10, BGHR StPO § 267 Abs. 3 Satz 5
Offenlegung 1; vom 13. Januar 2010 - 3 StR 528/09, NStZ 2010, 348). Für das
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Abrücken von der Verständigung nach § 257c Abs. 4 StPO verbleibt es man-
gels einer anderen gesetzlichen Regelung bei dem Grundsatz, dass Ver-
fahrensvorgänge im Urteil nicht zu erörtern sind (vgl. BGH, Beschlüsse
vom 27. Mai 2009 - 1 StR 99/09, NJW 2009, 2612, 2613; vom 8. Mai 2007
- 1 StR 202/07, NStZ-RR 2007, 244; a.A. für § 257c Abs. 4 Meyer-Goßner aaO,
§ 267, Rn. 23a; Velten aaO, § 257c, Rn. 41). Die Mitteilung nach § 257c Abs. 4
Satz 4 StPO über die Entscheidung zum Abgehen von der Verständigung und
deren Gründe ist gemäß § 273 Abs. 1a Satz 2 StPO in das Sitzungsprotokoll
aufzunehmen und nimmt an dessen Beweiskraft teil.
III.
Die Sachrüge bleibt - auch unter Berücksichtigung des § 301 StPO -
ebenfalls ohne Erfolg. Die Strafzumessung und die Bewährungsentscheidung
im angefochtenen Urteil halten einer rechtlichen Prüfung stand.
1. Die Annahme einer alkoholbedingten erheblichen Verminderung der
Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB ist nicht zu beanstanden. Das Landge-
richt hat ohne Rechtsfehler, gestützt auf die durch die Bekundungen der
Nebenklägerin partiell bestätigten Angaben des Angeklagten, den Umfang des
Alkoholkonsums des Angeklagten festgestellt und auf dieser Grundlage sach-
verständig beraten eine maximale Blutalkoholkonzentration des Angeklagten
zur Tatzeit von 2,9 Promille ermittelt. Ausgehend von dieser in den Blutkreislauf
aufgenommenen Alkoholmenge, die zutreffend als gewichtiges Beweis-
anzeichen für eine die Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigende Alkohol-
intoxikation gewertet worden ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Oktober 2004
- 1 StR 248/04,
BGHR
StGB
§ 21
Blutalkoholkonzentration 37;
vom
9. November 1999 - 4 StR 521/99, NStZ 2000, 136; Urteil vom 29. April 1997
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- 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 69 ff.), hat es eine Gesamtwürdigung der sonsti-
gen Begleitumstände unter Einbeziehung des Verhaltens des Angeklagten und
dessen nicht gegebener Alkoholgewöhnung vorgenommen und ist zu der Über-
zeugung gelangt, dass eine erhebliche Beeinträchtigung des Hemmungsver-
mögens aufgrund der Alkoholisierung nicht ausgeschlossen werden kann. Dies
lässt weder eine unzutreffende Anwendung des Zweifelssatzes noch anderwei-
tige Rechtsfehler erkennen.
2. Die grundsätzlich dem Tatrichter vorbehaltene Strafzumessung kann
vom Revisionsgericht nur auf Rechtsfehler überprüft werden; eine ins Einzelne
gehende Richtigkeitskontrolle ist ausgeschlossen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Be-
schluss vom 10. April 1987 - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349). Einen Rechts-
fehler zeigt die Revision nicht auf. Die Strafkammer hat die erheblichen psychi-
schen Tatfolgen für die Nebenklägerin zu Lasten des Angeklagten berücksich-
tigt. Die dem nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB und §§ 46a, 49 Abs. 1 StGB doppelt
geminderten Strafrahmen des § 177 Abs. 2 Satz 1 StGB entnommene Strafe ist
zwar milde, sie liegt aber nicht außerhalb des dem Tatrichter eröffneten Beurtei-
lungsrahmens.
3. Ohne Erfolg wendet sich die Revision schließlich gegen die dem An-
geklagten gewährte Strafaussetzung zur Bewährung. Den dem Tatrichter bei
der Gesamtwürdigung nach § 56 Abs. 1 und 2 StGB eingeräumten Beurtei-
lungsspielraum (vgl. Fischer, StGB, 59. Aufl., § 56, Rn. 11, 25 m.w.N.) hat das
Landgericht nicht überschritten. Es hat alle wesentlichen für die Entscheidung
maßgeblichen Gesichtspunkte erwogen und sich für die Bejahung besonderer
Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB in rechtlich nicht zu beanstandender
Weise auf die bisherige Unbestraftheit des Angeklagten, sein Geständnis und
den gelungenen Täter-Opfer-Ausgleich gestützt. Vor dem Hintergrund dieser
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von der Strafkammer angeführten gewichtigen Milderungsgründe liegt auch in
dem Fehlen von Ausführungen im Urteil zur Frage, ob die Verteidigung der
Rechtsordnung ausnahmsweise die Vollstreckung der Strafe gebietet (§ 56
Abs. 3 StGB), kein Rechtsfehler. Denn einer ausdrücklichen Erörterung der Vor-
aussetzungen des § 56 Abs. 3 StGB bedarf es nur dann, wenn aus den Urteils-
gründen ersichtliche Umstände die Anwendung dieser Vorschrift nahelegen
(vgl. BGH, Urteile vom 14. Juli 1994 - 4 StR 252/94, BGHR StGB § 56 Abs. 3
Verteidigung 15; vom 30. Oktober 1990 - 1 StR 500/90, BGHR StGB § 56
Abs. 3 Verteidigung 9).
Ernemann
Roggenbuck
Mutzbauer
Bender
Quentin