Urteil des BGH vom 21.06.2016

Zustand, Adhs, Körperliche Unversehrtheit, Psychische Störung

ECLI:DE:BGH:2016:210616B4STR161.16.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 161/16
vom
21. Juni 2016
in der Strafsache
gegen
wegen besonders schwerer sexueller Nötigung u.a.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbun-
desanwalts und des Beschwerdeführers am 21. Juni 2016 gemäß § 349 Abs. 2
und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Land-
gerichts Bielefeld vom 2. Dezember 2015 mit den Feststel-
lungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklag-
ten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet wor-
den ist und soweit die Strafkammer von einer erheblich ver-
minderten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der Tat
vom 11. April 2015 ausgegangen ist.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück-
verwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer sexu-
eller Nötigung und wegen Wohnungseinbruchdiebstahls zu einer Gesamtfrei-
heitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psy-
chiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtet sich seine auf die
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Sachrüge gestützte Revision, die in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang
Erfolg hat.
I.
1. Zum Tatgeschehen hat die Strafkammer im Wesentlichen folgende
Feststellungen getroffen:
Der Angeklagte hatte an der Nebenklägerin, die im Hochparterre eines
seiner Wohnung gegenüber gelegenen Gebäudes wohnte und zu deren Wohn-
zimmer er Sichtkontakt hatte, Gefallen gefunden, obwohl zwischen ihnen kei-
nerlei Kontakt bestand. Zwischen dem 14. und dem 20. März 2015 brach der
Angeklagte während einer Urlaubsabwesenheit der Nebenklägerin in deren
Wohnung ein und entwendete neben Wertgegenständen, die er für sich behal-
ten wollte, auch Unterwäsche „als Erinnerungsstücke“ (abgeurteilt als Woh-
nungseinbruchdiebstahl mit einer Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr und
sechs Monaten).
Am frühen Morgen des 11. April 2015 fasste der alkoholisierte Angeklag-
te den Entschluss, bei der inzwischen aus dem Urlaub zurückgekehrten Neben-
klägerin erneut einzubrechen und mit ihr ungeachtet eines entgegenstehenden
Willens den Geschlechtsverkehr auszuüben. Er drang in die Wohnung ein, hielt
der im Bett liegenden Nebenklägerin den Mund zu und befahl ihr, ruhig zu sein.
Anschließend berührte er den Körper der mit T-Shirt und Unterwäsche beklei-
deten Nebenklägerin, die daraufhin laut zu schreien begann. Um die Schreie zu
unterbinden, schlug der Angeklagte der Nebenklägerin kräftig mit der Hand ins
Gesicht. Sodann berührte er sie wieder am Körper, unter anderem an den Bei-
nen, an dem mit einem Slip bekleideten Bereich zwischen den Beinen und an
der Brust. Versuche, auch unter die Kleidung zu greifen, misslangen, weil sich
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die Nebenklägerin wand und wegdrehte. Auch einen Kuss wehrte die Neben-
klägerin durch Beißen und Kratzen ab. Hierüber in Wut geraten schlug der An-
geklagte der Nebenklägerin mehrfach heftig mit der Faust ins Gesicht, wodurch
diese unter anderem einen Nasenbeinbruch erlitt. Nach weiteren sexuellen
Handlungen, während derer der Angeklagte die Nebenklägerin weiter schlug
und ihr androhte, sie zu töten, gelang der Nebenklägerin schließlich die Flucht
ins Wohnzimmer, wo sie das Fenster öffnete und laut nach Hilfe rief. Dabei er-
griff sie der Angeklagte, schlug erneut auf sie ein, warf sie zu Boden und würgte
sie. Schließlich flüchtete er durch das Fenster und lief davon (abgeurteilt als
besonders schwere sexuelle Nötigung mit einer Einzelfreiheitsstrafe von sechs
Jahren und sechs Monaten).
2. Während die Strafkammer hinsichtlich des Wohnungseinbruchdieb-
stahls eine (erhebliche) Verminderung des Einsichts- und Steuerungsvermö-
gens beim Angeklagten verneinte, bejahte sie hinsichtlich der Tat vom 11. April
2015 die Voraussetzungen des § 21 StGB. Bei dieser Tat sei das Steuerungs-
vermögen des Angeklagten durch seine alkoholbedingte Enthemmung bereits
(wenn auch noch nicht erheblich) vermindert gewesen. Erheblich sei die Beein-
trächtigung der Steuerungsfähigkeit (erst) geworden, als die Nebenklägerin ge-
schrien und sich gewehrt habe. Denn diese Entwicklung habe den Angeklagten
überfordert und es habe sich die durch die Alkoholisierung verstärkte Sympto-
matik der
– schon seit langem bestehenden – ADHS-Erkrankung in einer Im-
pulsivität und mangelnden Selbstkontrolle derart geäußert, dass es ihm erheb-
lich schwerer gefallen sei, seine Gewalthandlungen zu unterdrücken und zu
dosieren.
Da aufgrund der ADHS-Erkrankung des Angeklagten auch in Zukunft mit
weiteren erheblichen rechtswidrigen Taten des Angeklagten vor allem gegen
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die körperliche Unversehrtheit, nämlich mit Gewalt- und Sexualdelikten (UA
S. 51), zu rechnen sei, sei er vor allem dann für die Allgemeinheit gefährlich,
wenn sich die Krankheitssymptome durch Alkohol verstärkten, zu welchem der
Angeklagte gerade aufgrund seiner ADHS-Erkrankung neige (UA S. 50).
3. Auch in einem gegen den Angeklagten am 13. März 2013 unter ande-
rem wegen besonders schweren Raubes ergangenen (Berufungs-)Urteil des
Landgerichts Bielefeld war die dortige Strafkammer von einem erheblich ver-
minderten Steuerungsvermögen des Angeklagten aufgrund seiner ADHS-
Erkrankung im Zusammenwirken mit einer akuten Alkoholintoxikation ausge-
gangen. Eine Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Kran-
kenhaus gemäß § 63 StGB sah sie damals jedoch als unverhältnismäßig an.
II.
1. Das Urteil hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, soweit die Unter-
bringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63
StGB angeordnet worden ist.
a) Denn die Feststellungen der Strafkammer belegen nicht, dass beim
Angeklagten bei Begehung der Tat vom 11. April 2015 und auch noch in der
Hauptverhandlung ein dauerhafter Zustand im Sinn des § 63 StGB vorlag.
aa) Die Anordnung der Unterbringung gemäß § 63 StGB setzt die positi-
ve Feststellung eines länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekts
voraus, der zumindest eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit zur
Tatzeit im Sinne des § 21 StGB begründet. Dabei bedeutet ein länger dauern-
der Zustand nicht eine ununterbrochene Befindlichkeit. Entscheidend und für
die Maßregelanordnung ausreichend ist vielmehr, dass der Zustand der Grund-
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erkrankung länger andauert, sofern er dazu führt, dass schon alltägliche Ereig-
nisse die akute erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit auslösen kön-
nen (vgl. BGH, Urteile vom 17. Februar 1999
– 2 StR 483/98, BGHSt 44, 369,
375 f., juris Rn. 32; vom 10. August 2005
– 2 StR 209/05, BGHR StGB § 63
Ablehnung 2, juris Rn. 17; vom 3. Dezember 2015
– 4 StR 387/15, juris Rn. 25;
Beschlüsse vom 14. Januar 2009
– 2 StR 565/08, NStZ-RR 2009, 136, juris
Rn. 9; vom 21. November 2012
– 4 StR 257/12, juris Rn. 7 jeweils mwN).
War der Täter bei Begehung der Tat alkoholisiert und hat „letztlich“ der
Konsum von Alkohol seine Schuldfähigkeit bei Begehung der Tat aufgehoben
oder erheblich vermindert, so ist für die Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus zwar grundsätzlich nur Raum, wenn er an einer krankhaften Alko-
holsucht leidet oder in krankhafter Weise alkoholüberempfindlich ist (vgl. etwa
BGH, Urteil vom 17. Februar 1999
– 2 StR 483/98, BGHSt 44, 369, 372 f., juris
Rn. 19; Beschluss vom 9. Juni 2010
– 2 StR 201/10, juris Rn. 6, jeweils mwN).
Ein Zustand im Sinne des § 63 StGB liegt aber
– entsprechend obiger Recht-
sprechung
– auch vor, wenn der Täter an einer länger dauernden geistig-
seelischen Störung leidet, bei der bereits geringer Alkoholkonsum oder andere
alltägliche Ereignisse die akute erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit
auslösen können und dies getan haben (vgl. BGH, Urteile vom 17. Februar
1999
– 2 StR 483/98, BGHSt 44, 369, 374, juris Rn. 27; vom 29. September
2015
– 1 StR 287/15, NJW 2016, 341 f., juris Rn. 11; Beschlüsse vom 1. April
2014
– 2 StR 602/13, juris Rn. 5; vom 5. Juli 2011 – 3 StR 173/11, NStZ 2012,
209, juris Rn. 5; vom 23. September 2015
– 4 StR 371/15, juris Rn. 9), wenn
tragender Grund seines Zustandes mithin die länger andauernde krankhafte
geistig-seelische Störung und die Alkoholisierung lediglich der auslösende Fak-
tor war und ist (vgl. BGH, Urteil vom 17. Februar 1999
– 2 StR 483/98, BGHSt
44, 369, 374, juris Rn. 25 f.).
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bb) Dies zugrunde gelegt, belegen die Feststellungen die Annahme der
Strafkammer nicht, beim Angeklagten habe bei Begehung der Tat vom 11. April
2015 und auch noch in der Hauptverhandlung ein dauerhafter Zustand im Sinn
des § 63 StGB vorgelegen.
(1) Insofern ist bereits zu besorgen, dass die Strafkammer ihrer recht-
lichen Würdigung miteinander nicht vereinbare, jedenfalls in einer Alternative
die Maßregelanordnung nicht tragende Feststellungen zugrunde gelegt hat.
Denn sie geht einerseits davon aus, dass aufgrund der ADHS-
Erkrankung des Angeklagten auch in Zukunft mit weiteren erheblichen rechts-
widrigen Taten des Angeklagten zu rechnen sei, wenn sich die Krankheitssymp-
tome durch Alkohol verstärkten, zu welchem der Angeklagte gerade aufgrund
seiner ADHS-Erkrankung neige (UA S. 50). Andererseits legt das Landgericht
dar, dass die ADHS-Erkrankung und der Einfluss von Alkohol nicht ausreichen,
um beim Angeklagten den von § 63 StGB vorausgesetzten Zustand einer zu-
mindest erheblich verminderten Schuldfähigkeit zu begründen. Vielmehr errei-
che die ADHS-Symptomatik erst im Zusammenwirken mit Alkohol und den An-
geklagten überfordernden Geschehensabläufen ein erhebliches Ausmaß (UA
S. 37); das Steuerungsvermögen des Angeklagten bei der Tat vom 11. April
2015 sei deshalb erst dann erheblich beeinträchtigt gewesen, als die Nebenklä-
gerin geschrien und sich gewehrt habe und der Angeklagte hierdurch überfor-
dert gewesen sei (UA S. 24, 39).
(2) Reichte hiernach aber die Grunderkrankung auch in Verbindung mit
den Folgen des Alkoholkonsums für die Annahme einer erheblich verminderten
Steuerungsfähigkeit beim Angeklagten nicht aus (so ausdrücklich UA S. 39),
sondern wurde diese erst durch das Hinzutreten weiterer Umstände begründet,
muss es sich bei diesen um „alltägliche Ereignisse“ gehandelt haben, um einen
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dauerhaften Zustand im Sinn des § 63 StGB zu begründen. Denn eine allein auf
eine geistig-seelische Störung und Alkoholkonsum zurückzuführende Disposi-
tion, nicht aufgrund von alltäglichen Ereignissen, sondern lediglich in bestimm-
ten Belastungssituationen wegen mangelnder Fähigkeit zur Impulskontrolle in
den Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit zu geraten, stellt kei-
nen dauerhaften Zustand im Sinn des § 63 StGB dar (vgl. BGH, Urteile vom
17. Juni 2015
– 2 StR 358/14, juris Rn. 7, sowie vom 3. Dezember 2015 – 4 StR
387/15, juris Rn. 24; Beschlüsse vom 21. November 2012
– 4 StR 257/12, juris
Rn. 7; vom 29. Januar 2008
– 4 StR 595/07, juris Rn. 12 jeweils mwN).
Dass der Angeklagte bereits durch „alltägliche Ereignisse“ in einen dau-
erhaften Zustand im Sinn des § 63 StGB gerät, hat die Strafkammer indes nicht
tragfähig festgestellt. Auch lässt sich dies dem Gesamtzusammenhang der
Urteilsgründe nicht hinreichend sicher entnehmen. Zwar verweist die Straf-
kammer insofern darauf, dass die im Zusammenhang mit der ADHS-
Erkrankung zu sehenden Aggressionsmuster bereits seit seinem Jugendalter zu
beobachten seien (UA S. 52). Andererseits legt sie aber dar, dass diese Proble-
matik „im normalen Alltag ... noch nicht so ausgeprägt“ sei (UA S. 37). Ihre Be-
wertung, dass die ADHS-Erkrankung des Angeklagten in Verbindung mit Alko-
holkonsum und mit Situationen, die ihn überfordern, zu einer deutlich herabge-
setzten Kontrollierbarkeit der Impulsivität führe (vgl. etwa UA S. 37, 39, 40), be-
gründet sie sodann mit den „in der wiederholten Straffälligkeit des Verurteilten
erken
nbaren Verhaltensweisen“ (UA S. 51) des Angeklagten, für die sie konkret
neben einer Tat vom 9. Dezember 2007 und der abgeurteilten sexuellen Nöti-
gung lediglich auf die dem Berufungsurteil vom 13. März 2013 zugrunde liegen-
de Tat Bezug nimmt. Hinsichtlich dieses Raubes ist indes ein den Anklagten
„überfordernder Geschehensablauf“ weder belegt, noch ist ein solcher aufgrund
der Tatschilderung (UA S. 8 f.) ersichtlich. Vielmehr ist dort ausgeführt, dass der
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Angeklagte in seinem Steuerungsvermögen erheblich vermindert gewesen sei,
weil er in seiner Fähigkeit ei
ngeschränkt gewesen sei, „sich dem Reiz zu ent-
ziehen, anlässlich der (geplanten) Gewaltanwendung auch noch Sachen aus
der Wohnung des Geschädigten mitzunehmen“ (UA S. 15). Hinsichtlich der „im
Rahmen eines Streitgesprächs“ mit seinem Vater begangenen Tat vom
9. Dezember 2007 (UA S. 6) nimmt die Strafkammer selbst lediglich an, dass
diese auf eine gesteigerte Impulsivität in Situationen emotionaler Anspannung
„hindeute“ (UA S. 39).
b) Ferner belegen die Feststellungen nicht hinreichend, dass beim Ange-
klagten bei Begehung der Tat vom 11. April 2015 die Voraussetzungen des
§ 21 StGB sicher vorlagen.
aa) Die richterliche Entscheidung, ob die Fähigkeit des Angeklagten, das
Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem
der in § 20 StGB bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermin-
dert ist, erfolgt in einem aus mehreren Schritten bestehenden Verfahren. Zu-
nächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychi-
sche Störung vorliegt, die unter eines der psychopathologischen Eingangs-
merkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind in einem weiteren
Schritt der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale
Anpassungsfähigkeit des Angeklagten zu untersuchen (BGH, Urteile vom
12. Juni 2008
– 3 StR 154/08, NStZ-RR 2008, 338, 339, juris Rn. 7; vom
17. April 2012
– 1 StR 15/12, NStZ 2013, 53, 54, juris Rn. 24; Beschluss vom
12. März 2013
– 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519, 520, juris Rn. 7). Haben bei der
Tat mehrere Faktoren zusammengewirkt und kommen mehrere Eingangs-
merkmale gleichzeitig in Betracht, so dürfen diese hierbei nicht isoliert abge-
handelt, sondern müssen einer Gesamtbetrachtung unterzogen werden (BGH,
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Beschluss vom 12. März 2013
– 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519, 520, juris Rn. 7,
mwN).
bb) Es bedarf keiner Entscheidung, ob eine ADHS-Erkrankung als
krankhafte seelische Störung (so UA S. 12, offen gelassen auf UA S. 36) oder
als eine schwere andere seelische Abartigkeit einzuordnen ist (so UA S. 44; vgl.
dazu auch Nedopil/Müller, Forensische Psychiatrie, 4. Aufl., S. 136, und OLG
Hamm, Beschluss vom 5. November 2007
– 3 Ss 461/07, NStZ-RR 2008, 138,
juris Rn. 13). Denn keines dieser Eingangsmerkmale des § 20 StGB ist von der
Strafkammer tragfähig festgestellt.
(1) Allein eine psychiatrische Diagnose ist nicht mit einem Eingangs-
merkmal des § 20 StGB gleichzusetzen. Hierfür sind vielmehr
– wie oben dar-
gelegt
– der Ausprägungsgrad der Störung und ihr Einfluss auf die soziale An-
passungsfähigkeit entscheidend (BGH, Beschlüsse vom 22. Mai 2013
– 1 StR
71/13, juris Rn. 6; vom 19. Dezember 2013
– 2 StR 534/13, BGHR StGB § 20
Wahnvorstellungen 1, juris Rn. 4; vom 8. Januar 2014
– 2 StR 514/13, juris
Rn. 8; Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß, NStZ 2005, 57, 58). Die positive Fest-
stellung, dass der Angeklagte eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuld-
unfähigkeit oder der erheblich verminderten Schuldfähigkeit begangen hat, setzt
dabei voraus, dass in der Person des Angeklagten letztlich nicht nur Eigen-
schaften und Verhaltensweisen hervorgetreten sind, die sich im Rahmen des-
sen halten, was bei schuldfähigen Menschen anzutreffen und übliche Ursache
für strafbares Verhalten ist (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Februar 2015
– 2 StR
420/14, juris Rn. 7; ferner Urteil vom 2. April 1997
– 2 StR 53/97, BGHR StGB
§ 21 Psychose 1, juris Rn. 7; Beschluss vom 15. Juli 1997
– 4 StR 303/97,
BGHR StGB § 63 Zustand 26, juris Rn. 6). Hierzu gehören etwa Eigenschaften
wie Stimmungsschwankungen, geringe Frustrationstoleranz, Tendenz zu Strei-
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tereien und Impulsivität; diese sind nicht ohne weiteres dazu geeignet, eine
Person in einen Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit zu versetzen
(vgl. BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2006
– 2 StR 349/06, NStZ 2007, 29 f.,
juris Rn. 4).
Für die Bewertung der Schwere einer krankhaften seelischen Störung ist
vielmehr insbesondere maßgebend, ob es im Alltag außerhalb der beschuldig-
ten Delikte zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermö-
gens gekommen ist (BGH, Beschluss vom 22. Mai 2013
– 1 StR 71/13, juris
Rn. 6; Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß, NStZ 2005, 57, 58). Dies gilt in gleicher
Weise, wenn es um die Einordnung als schwere andere seelische Abartigkeit
geht. Auch für die Bewertung deren Schwere ist im Allgemeinen maßgebend,
ob es im Alltag außerhalb des Delikts zu Einschränkungen des beruflichen und
sozialen Handlungsvermögens gekommen ist (vgl. BGH, Urteile vom 21. Januar
2004
– 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52, juris Rn. 31; vom 1. Juli 2015 – 2 StR
137/15, NJW 2015, 3319, 3320, juris Rn. 14; OLG Hamm aaO juris Rn. 13; vgl.
auch Nedopil/Müller aaO S. 139). Erst wenn das Muster des Denkens, Fühlens
oder Verhaltens sich im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychia-
trischen Voraussetzungen vorliegen, die an krankhafte seelische Störungen
oder an eine
– dieser gleichzustellenden – schwere andere seelische Abartig-
keit zu stellen sind (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2004
– 1 StR 346/03,
BGHSt 49, 45, 52, juris Rn. 31).
(2) Eine solche Prüfung, ob es im Alltag außerhalb der beschuldigten De-
likte zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens
gekommen ist, lässt das Urteil
– wie oben dargelegt – indes vermissen (vgl.
insbesondere UA S. 44).
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Hinzu kommt, dass das von der Strafkammer festgestellte Tatgeschehen
jedenfalls in weiten Teilen nicht die typischen Merkmale eines auf einer Impuls-
kontrollstörung beruhenden Geschehens aufweist (vgl. dazu auch BGH, Urteil
vom 21. Januar 2004
– 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52, juris Rn. 32). Vielmehr
hat der Angeklagte seinen Entschluss, mit der Nebenklägerin auch gegen deren
Willen den Geschlechtsverkehrs auszuüben, umgesetzt, indem er sich zur
Wohnung der Nebenklägerin begab, zu dem gekippten Fenster kletterte, dieses
öffnete, ihr den Mund zuhielt, ihr das Mobiltelefon abnahm, um dessen Benut-
zung zu verhindern, auf das Einschalten des Lichts dadurch reagierte, dass er
die Kapuze seines Sweatshirts aufsetzte und anschließend das Licht wieder
ausschaltete, und schließlich auch auf die Flucht der Nebenklägerin ins Wohn-
zimmer noch interessengerecht reagierte. Zudem handelte er bei dem ersten
Schlag, um die Schreie der Nebenklägerin zu unterbinden, bei den weiteren, zu
dem Nasenbeinbruch führenden Gewalthandlungen schlug er aus Wut über die
körperliche Gegenwehr der Nebenklägerin und damit ebenfal
ls aus „einem
gewissen Beweggrund“ zu (vgl. BGH, Beschluss vom 30. September 2008
– 5 StR 305/08, juris Rn. 4). Nicht für eine Überforderung, sondern ein plau-
sibles Motiv der Misshandlungen spricht auch, dass der Angeklagte selbst ein-
geräumt hat, dass „Ziel seiner Schläge ... gewesen (sei), die Schreie und Hilfe-
rufe der Nebenklägerin zu unterbinden, damit keine Dritten auf die Situation
a
ufmerksam werden würden“ (UA S. 29).
c) Die Rechtsfehler führen zur Aufhebung des Urteils mit den Feststel-
lungen, soweit die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen
Krankenhaus angeordnet worden ist und soweit die Strafkammer von einer er-
heblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der Tat vom
11. April 2015 ausgegangen ist.
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2. Im Übrigen weist das Urteil aus den vom Generalbundesanwalt in der
Antragsschrift vom 11. Mai 2016 dargelegten Gründen keinen den Angeklagten
beschwerenden Rechtsfehler auf (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Senat schließt im
Hinblick auf obige Ausführungen aus, dass im neuen Verfahren eine Schuld-
unfähigkeit des Angeklagten festgestellt wird oder dass der Tatrichter geringere
Einzelstrafen oder eine mildere Gesamtstrafe festgesetzt hätte (zumal der An-
geklagte über die Maßregelanordnung hinaus durch die Anwendung von § 21
StGB in Verbindung mit § 49 Abs. 1 StGB nicht beschwert ist) oder im neuen
Verfahren festsetzen würde, auch wenn er erneut eine Maßregel nach § 63
StGB verhängt.
Sost-Scheible
Roggenbuck
Franke
Mutzbauer
Quentin
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