Urteil des BGH vom 03.02.2015

Rechtsform, Rüge, Missbrauch, Dissimulation, Einverständnis

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 S t R 5 5 7 / 1 4
vom
3. Februar 2015
in der Strafsache
gegen
wegen besonders schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbun-
desanwalts und des Beschwerdeführers am 3. Februar 2015 gemäß § 349
Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landge-
richts Koblenz vom 23. Mai 2014 mit den Feststellungen aufgeho-
ben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schweren
sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von
Schutzbefohlenen in zwei Fällen, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern
in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen
und sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in drei Fällen zu einer Ge-
samtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt, seine Unter-
bringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet und eine Adhäsionsent-
scheidung getroffen. Die Revision des Angeklagten hat mit der Rüge Erfolg,
zwei Berichte des Johanniter-Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie
N. seien entgegen den §§ 250, 256 StPO in der Hauptverhandlung ver-
lesen und den Urteilsgründen verwertet worden; auf die weiteren verfahrens-
sowie sachlichrechtlichen Beanstandungen kommt es deshalb nicht mehr an.
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1. Der Rüge liegt zugrunde:
Nach den Feststellungen missbrauchte der Angeklagte den am
21. Dezember 1997 geborenen Zeugen M. in dem Zeitraum vom
22. Dezember 2010 bis zum 1. September 2012 sexuell. Der Zeuge befand
sich zeitweise in ambulanter Behandlung bei dem genannten Johanniter-
Zentrum.
Der Angeklagte hat die Vorwürfe bestritten. Die Strafkammer hat ihre
Überzeugung im Wesentlichen auf die Bekundungen des Zeugen gestützt und
ausgeführt, es habe aufgrund der "Aussage gegen Aussage"-Konstellation
einer umfassenden Überprüfung von dessen Angaben bedurft.
Im Hauptverhandlungstermin am 4. April 2014 sind auf Anordnung des
Vorsitzenden ohne Beschluss der Strafkammer zwei den Zeugen betreffende
ärztliche Berichte des Johanniter-Zentrums, das in der Rechtsform einer GmbH
betrieben wird, verlesen worden. In den Urteilsgründen hat die Strafkammer
den Inhalt der Berichte zunächst bei der Prüfung der Konstanz der Aussage
des Zeugen gewürdigt. Im Rahmen der Prüfung der Zeugentüchtigkeit hat es
sodann die in den Berichten enthaltenen Diagnosen - u.a. schwere depressive
Episode ohne psychotische Symptome, Verdacht auf posttraumatische Belas-
tungsstörung, einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, Zustand nach
hyperkinetischer Störung des Sozialverhaltens - dargestellt und ausgeführt,
diese seien nicht relevant für die Aussagetüchtigkeit, da sie keine Auswirkung
auf die Fähigkeit hätten, einen Lebenssachverhalt wahrzunehmen, zu spei-
chern und später zu reproduzieren. Insbesondere böten die Berichte keine kon-
kreten Anhaltspunkte dafür, dass die Erinnerungs-, Merk- oder Aussagefähig-
keit des Zeugen aus besonderen, psychodiagnostisch erfassbaren Gründen
eingeschränkt sei. Es handele sich nicht um ein Störungsbild, das die Zeugen-
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tüchtigkeit in Frage stelle, da sich keine Hinweise auf eine geistige Erkrankung
oder aktuelle psychopathologische Defekte ergäben. Hieran ändere auch eine
aufgeführte Tendenz zur Dissimulation nichts. Gestützt auf diese Erwägungen
ist die Strafkammer von der Aussagetüchtigkeit des Zeugen ausgegangen.
2. Damit hat das Landgericht gegen § 250 Satz 2 StPO verstoßen, denn
es hat von einer Vernehmung der behandelnden Ärzte abgesehen, seine Be-
weiswürdigung allein auf deren schriftliche Erklärungen gestützt und deren In-
halten eine wesentliche Beweisbedeutung zum Nachteil des Angeklagten bei-
gemessen. Eine Verlesung nach § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) StPO kam be-
reits deshalb nicht in Betracht, weil das in der Rechtsform einer GmbH betrie-
bene Johanniter-Zentrum nicht als öffentliche Behörde im Sinne der genannten
Vorschrift anzusehen ist (vgl. für ein in Form einer GmbH betriebenes Kranken-
haus BGH, Urteil vom 3. Juni 1987 - 2 StR 180/87, bei Pfeiffer NStZ 1988, 19).
Der Auffassung des Generalbundesanwalts, in Betracht komme eine
Verlesung im allseitigen Einverständnis gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO, ist
nicht zu folgen. Entgegen den Ausführungen des Generalbundesanwalts hat
der Revisionsführer in der Begründung seines Rechtsmittels ausdrücklich vor-
getragen, dass der Angeklagte und seine Verteidigung der Verlesung der Ur-
kunden nicht zugestimmt hätten; sie seien insoweit nicht einmal angehört wor-
den. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass das Landgericht zu erkennen ge-
geben hätte, nach der genannten Vorschrift verfahren zu wollen, sind nicht er-
sichtlich. Darauf, dass der Verlesung auch kein Beschluss der Strafkammer
zugrunde lag (§ 251 Abs. 4 Satz 1 StPO), kommt es deshalb nicht mehr an.
3. Das Urteil beruht auf dem beanstandeten Mangel. Es ist mit Blick auf
die Bedeutung, welche die Strafkammer der Aussagetüchtigkeit des Zeugen
beigemessen hat, trotz der im Übrigen rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung
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nicht auszuschließen, dass sie sich nicht von der Täterschaft des Angeklagten
überzeugt hätte, hätte sie den Verfahrensfehler nicht begangen.
Becker Schäfer Mayer
Gericke Spaniol