Urteil des BGH vom 10.12.2014

Rüge, Ermittlungsverfahren, Geschäftsleitung, Eigenschaft, Protokollführung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 S t R 4 8 9 / 1 4
vom
10. Dezember 2014
in der Strafsache
gegen
wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u.a.
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundes-
anwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 10. Dezember 2014
gemäß § 349 Abs. 2 StPO einstimmig beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Hannover vom 2. Juni 2014 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu
tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäu-
bungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen Besitzes halbautomatischer
Kurzwaffen in Tateinheit mit Besitz von Munition zu der Gesamtfreiheitsstrafe
von acht Jahren verurteilt und zu seinen Lasten 2.505
€ für verfallen erklärt. Die
auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts und auf Verfahrensbeanstan-
dungen gestützte Revision des Angeklagten ist unbegründet im Sinne des
§ 349 Abs. 2 StPO. Näherer Erörterung bedürfen ergänzend zur Antragsschrift
des Generalbundesanwalts lediglich die nachfolgenden Verfahrensrügen:
1. Die Rüge, das Landgericht habe bei seiner Entscheidung die Aussage
eines Zeugen in der Hauptverhandlung nicht berücksichtigt und dadurch gegen
§ 261 StPO verstoßen, ist unbegründet.
a) Der Rüge liegt zugrunde:
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Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklag-
ten im Wesentlichen auf die Aussage des zwischenzeitlich verstorbenen Zeu-
gen T. im Ermittlungsverfahren gestützt. Dieser hatte dort unter anderem be-
kundet, der Angeklagte habe ihn zuhause aufgesucht, um ihn zur Mitwirkung an
dem Drogengeschäft zu gewinnen. Bestätigt gesehen hat das Landgericht die-
se Aussage unter anderem dadurch, dass der Zeuge C. T., Sohn des Zeugen
T., bei einer Lichtbildvorlage im Ermittlungsverfahren erklärt hatte, den Ange-
klagten als den seinerzeitigen Besucher wiederzuerkennen. Im Übrigen teilt das
Urteil mit, der Zeuge C. T. habe in der Hauptverhandlung von seinem Aus-
kunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch gemacht. Demgegenüber
ist im Hauptverhandlungsprotokoll festgehalten, dass der Zeuge C.T. nach Be-
lehrung zunächst zur Sache ausgesagt und dann erklärt hat, keine weiteren
Angaben zur Sache machen zu wollen.
b) Bei dieser Sachlage steht einem Erfolg der Rüge das Verbot einer Re-
konstruktion der tatrichterlichen Beweisaufnahme entgegen, denn ohne eigene
Ermittlungen zum Inhalt einer Aussage des Zeugen C. T. in der Hauptverhand-
lung wäre das Revisionsgericht außer Stande, die für die Begründetheit des
Rechtsmittels maßgebliche Frage zu beurteilen, ob sich der Zeuge in Wider-
spruch zu seinen Angaben im Ermittlungsverfahren setzte oder ob er sonst
neue Umstände bekundete, zu deren Erörterung sich das Landgericht bei der
Würdigung der Beweise hätte gedrängt sehen müssen. Nicht allein schon die
fehlende Erwähnung der Aussage eines laut Protokoll in der Hauptverhandlung
gehörten Zeugen begründet die Inbegriffsrüge (vgl. nur BGH, Beschluss vom
27. Januar 2010 - 5 StR 224/09, NJW 2010, 882, 883); die hinzutretende pro-
tokollwidrige Darlegung, der Zeuge habe von § 55 StPO Gebrauch gemacht,
vermag hieran nichts zu ändern. Dies unterscheidet die vorliegende Fallgestal-
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tung, anders als die Revision meint, auch wesentlich von der vom Bundesge-
richtshof bereits entschiedenen, dass ein Angeklagter sich entgegen den Ur-
teilsgründen laut Protokoll doch zur Sache eingelassen hatte (BGH, Beschluss
vom 10. August 2007 - 2 StR 204/07, StV 2008, 235). Auf den Inhalt kam es
dort von vornherein nicht an, denn die Einlassung des Angeklagten hat der
Tatrichter stets mitzuteilen; sie bestimmt Umfang und Inhalt der Darlegungen
im Übrigen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 267 Rn. 12 mwN).
c) Der Rüge verhilft es auch nicht zum Erfolg, dass das Landgericht in den
Gründen eines in der Hauptverhandlung ergangenen Haftfortdauerbeschlusses
ausgeführt hat, das Wiedererkennen des Angeklagten durch den Zeugen C. T.
bei der Lichtbildvorlage im Ermittlungsverfahren sei mit dessen Spontanäuße-
rung in der Hauptverhandlung, den anwesenden Angeklagten nicht zu kennen,
zunächst nicht in Einklang zu bringen. Die Gründe dieses Beschlusses entfal-
ten in Bezug auf eine Aussage des Zeugen C. T. zur Sache keine Beweiskraft.
Der Senat hält daran fest, dass der Inhalt einer Zeugenaussage in der Haupt-
verhandlung, soweit er nicht in der Urteilsurkunde wiedergegeben ist, nur durch
ein Wortprotokoll nach § 273 Abs. 3 Satz 1 StPO bewiesen werden kann (hier-
zu BGH, Urteil vom 3. Juli 1991 - 2 StR 45/91, BGHSt 38, 14, 16).
2. Die Rüge, die in der Hauptverhandlung am 28. Mai 2014 als Urkundsbe-
amte der Geschäftsstelle tätig gewordenen Justizangestellten S. und H. seien
nicht im Sinne von § 153 Abs. 5 Satz 1 GVG mit der Wahrnehmung dieser Auf-
gabe betraut gewesen, weshalb die Hauptverhandlung nicht in ununterbroche-
ner Gegenwart eines Urkundsbeamten der Geschäftsstelle stattgefunden habe
(§ 226 Abs. 1, § 338 Nr. 5 StPO), erweist sich als unzulässig.
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a) Allerdings belegen die vom Beschwerdeführer mitgeteilten Auskünfte
des Präsidenten des Landgerichts Hannover vom 20. und vom 29. August
2014, dass die in § 9 Abs. 1 Satz 2 der Geschäftsordnungsvorschriften Nieder-
sachsen (GOV-Nds; AV des Niedersächsischen Ministers der Justiz vom
6. Dezember 2004 [Nds. Rpfl. 2005, 15] und vom 23. Januar 2013 [Nds. Rpfl.
2013, 70]) für den Einsatz eines Angestellten als Urkundsbeamter der Ge-
schäftsstelle geforderte schriftliche Entscheidung der Geschäftsleitung bei bei-
den genannten Justizangestellten fehlte, soweit die Protokollführung in Straf-
sachen betroffen ist. Die im Wesentlichen gleichlautenden schriftlichen Verfü-
gungen vom 22. Februar 1993 bzw. vom 27. Juli 1995 beschränken sich
- was mit § 153 Abs. 5 Satz 1 GVG in Einklang steht (vgl. Kissel/Mayer, GVG,
7. Aufl., § 153 Rn. 22; aA LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 153 GVG Rn. 8) - auf
die Übertragung der Befugnisse zur Erteilung von Ausfertigungen und beglau-
bigten Abschriften sowie zur Ausführung von Benachrichtigungen, Zustellungen
und Ladungen. Wie in der Begründungsschrift dargelegt, ergeben sich auch
weder aus den Auskünften des Präsidenten des Landgerichts Hannover noch
sonst Anhaltspunkte für eine mündliche richterliche Eilmaßnahme nach § 9
Abs. 1 Satz 3 GOV-Nds.
b) Indes verhält sich die Begründungsschrift nicht zu einer möglichen form-
losen Entscheidung der Geschäftsleitung des Landgerichts Hannover, die Jus-
tizangestellten S. und H. mit den Aufgaben eines Urkundsbeamten der Ge-
schäftsstelle auch in der Hauptverhandlung in Strafsachen zu betrauen.
aa) Nach § 153 Abs. 5 Satz 1 GVG können der Bund und die Länder be-
stimmen, dass mit Aufgaben eines Urkundsbeamten der Geschäftsstelle auch
eine Person betraut werden kann, welche die in den Absätzen 2 oder 3 be-
schriebenen Voraussetzungen nicht erfüllt, aber in dem ihr zu übertragenden
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Aufgabengebiet einen Wissens- und Leistungsstand aufweist, der dem durch
eine Ausbildung nach Absatz 2 vermittelten Stand gleichwertig ist. Zwar ist der
Erwerb der Eigenschaft eines Urkundsbeamten der Geschäftsstelle danach
- ebenso wie nach Absatz 2 Satz 1 und Absatz 3 - an die konkrete Betrauung
der Person mit entsprechenden Aufgaben geknüpft. Eine besondere Form hier-
für sieht § 153 GVG aber in keinem dieser Fälle vor; die Betrauung kann viel-
mehr stets auch formlos geschehen, insbesondere mündlich ausgesprochen
werden (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Februar 2011 -1 StR 24/10, BGHR GVG
§ 153 Abs. 5 Betrauung 1, Rn. 8; Kissel/Mayer aaO Rn. 19; KK-Mayer, StPO,
7. Aufl., § 153 GVG Rn. 6; Stein/Jonas/Jacobs, ZPO, 22. Aufl., § 153 GVG
Rn. 19, 21; jeweils mwN). Auch auf der Grundlage eines formlosen, auf die
Übertragung eines entsprechenden Aufgabenkreises gerichteten Willensakts
der Gerichts- oder Justizverwaltung erwirbt die Person deshalb (insoweit) un-
eingeschränkt die Eigenschaft eines Urkundsbeamten der Geschäftsstelle.
Dass § 9 Abs. 1 Satz 2 GOV-Nds demgegenüber auf eine Einengung des Be-
griffs der Betrauung im Sinne von § 153 GVG abzielt und die Forderung nach
Schriftlichkeit nicht lediglich als Ordnungsvorschrift zur Herstellung von Rechts-
klarheit, sondern als konstitutives Element wirksamer Bestellung begreift, wird
schon nicht ersichtlich. Im Übrigen könnte Landesrecht oder - wie hier - eine
Verwaltungsvorschrift Tatbestandsmerkmale des § 153 GVG inhaltlich ohnehin
nicht modifizieren. Die Öffnungsklausel des § 153 Abs. 5 Satz 1 GVG stellt es
lediglich frei, eine Rechtsgrundlage für die Betrauung anderer als der in Absät-
zen 2 und 3 genannten Personen zu schaffen (vgl. Kissel/Mayer aaO Rn. 22).
bb) Da hiernach eine dem Tätigwerden vorangegangene (BGH aaO, Rn. 6)
formlose Entscheidung der Geschäftsleitung des Landgerichts Hannover, die
Justizangestellten S. und H. mit den Aufgaben eines Urkundsbeamten der Ge-
schäftsstelle auch in der Hauptverhandlung in Strafsachen zu betrauen, der
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Rüge den Boden entzöge, wäre der Beschwerdeführer gehalten gewesen, hier-
zu vorzutragen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dies überspannt nicht die Anforde-
rungen an den Revisionsvortrag. Der Beschwerdeführer hätte auch zu dieser
Frage ohne Weiteres noch eine Erklärung des Präsidenten des Landgerichts
Hannover einholen können. Nahe gelegen hätte dies schon deshalb, weil be-
reits die mitgeteilte erste Auskunft vom 20. August 2014 zur Annahme einer
formlosen Beauftragung geradezu drängte. Danach waren beide Justizange-
stellte einer Service-Einheit zugewiesen, in der die Mitübernahme der Protokoll-
führung jedenfalls wünschenswert ist (Anlage 1 zu den GOV-Nds). Beide wur-
den zudem schon in der Vergangenheit regelmäßig als Protokollführerinnen in
Hauptverhandlungen tätig; die erforderliche Qualifikation hat die Verwaltung
nach eigener Aussage "durch umfassende Einarbeitung durch Beamte sicher-
gestellt".
Becker Pfister Hubert
Mayer Spaniol