Urteil des BGH vom 09.06.2016

Akteneinsicht, Geldstrafe, Verfolgungsverjährung, Serie

ECLI:DE:BGH:2016:090616B2STR70.16.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
2 StR 70/16
vom
9. Juni 2016
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen u.a.
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundes-
anwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 9. Juni 2016 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landge-
richts Aachen vom 25. September 2015 mit den Feststellun-
gen aufgehoben,
a) in den Fällen 1 bis 16 und 23 der Urteilsgründe,
b) im Ausspruch über die Einzelstrafe im Fall 29 der Ur-
teilsgründe und
c) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels und die dem Nebenkläger hierdurch entstandenen not-
wendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landge-
richts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen
wegen Nötigung in 29 Fällen, davon in 12 Fällen in Tateinheit mit sexuellem
Missbrauch von Jugendlichen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren
verurteilt. Gegen die Verurteilung richtet sich die auf die Rüge der Verletzung
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materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat in
dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist
es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Generalbundeanwalt hat in seiner Antragsschrift vom 26. Februar
2016 u.a. ausgeführt:
"1. Hinsichtlich der Taten zum Nachteil der Zeugen H. und
S. (Fälle 1 bis 16 der Urteilsgründe) könnte Verfolgungs-
verjährung eingetreten sein. Die richterliche Durchsuchungsan-
ordnung vom 25. März 2014 (SA Bd. I Bl. 130) bezog sich nur
auf die Taten zum Nachteil des Nebenklägers K. und
konnte daher keine Verjährungsunterbrechung hinsichtlich der
Taten zum Nachteil dieser Zeugen herbeiführen. Die Existenz
dieser weiteren Geschädigten gelangte erst durch den - nach Ak-
teneinsicht übersandten - Schriftsatz des Verteidigers vom
7. Oktober 2014 (SA Bd. II Bl. 292 ff.) zur Kenntnis der Ermitt-
lungsbehörden. Eine Unterbrechungshandlung hinsichtlich dieser
Taten liegt aber in der Anordnung der sachbearbeitenden
Staatsanwältin vom 30. Januar 2015 (SA Bd. II Bl. 339), dem
Verteidiger erneut Akteneinsicht zu gewähren, denn aus den
Umständen wird klar ersichtlich, dass die dem Verteidiger ge-
währte Akteneinsicht zur Information des Beschuldigten über
Existenz, Inhalt und Umfang des Ermittlungsverfahrens dienen
sollte und auch tatsächlich gedient hat (vgl. BGH NStZ 2008,
214). Der Verfügung der sachbearbeitenden Staatsanwältin vom
10. Oktober 2014 (SA Bd. II Bl. 296), die durch die Akteneinsicht
zur Kenntnis des Verteidigers gebracht wurde, war dabei eindeu-
tig zu entnehmen, dass sich der Verfolgungswille der Staatsan-
waltschaft nunmehr auch auf die zum Nachteil der weiteren Ge-
schädigten begangenen Straftaten erstreckte. Da sich die Wir-
kung der im Katalog des § 78c Abs. 1 Satz 1 StGB vorgesehe-
nen Unterbrechungshandlungen jeweils auf die einzelne Tat im
prozessualen Sinn bezieht, stünde der Umstand, dass dem An-
geklagten bereits die Einleitung des Ermittlungsverfahrens zum
Nachteil des Nebenklägers bekannt gegeben worden war, einer
Unterbrechungswirkung dieser Übersendungsverfügung nach
§ 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB nicht entgegen.
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Den Urteilsfeststellungen lässt sich aber nicht eindeutig entneh-
men, ob die relevanten Taten jeweils vor dem 31. Januar 2010
begangen wurden, die Verfolgungsverjährung zum Zeitpunkt der
ersten in Betracht kommenden Unterbrechungshandlung also
bereits eingetreten war. Für die Taten zum Nachteil des Zeugen
H. (Fälle 1 bis 12 der Urteilsgründe) werden jeweils Tat-
zeiten zwischen April 2009 und dem 15. Mai 2013 genannt, für
die Taten zum Nachteil des Zeugen S. (Fälle 13 bis 16 der
Urteilsgründe) Tatzeiten zwischen April 2009 und dem Ende des
Jahres 2011 (soweit diese Jahreszahl bei den Feststellungen zu
Fall 13 der Urteilsgründe, UA S. 9, fehlt, liegt ein offensichtliches
Schreibversehen vor, wie ein Vergleich mit den Feststellungen
zu den weiteren Fällen dieser Serie zeigt). Auch unter ergänzen-
der Berücksichtigung der weiteren Erwägungen der Strafkammer
zur zeitlichen Eingrenzung der Taten (UA S. 17 f.) lässt sich kei-
ne eindeutige Zuordnung der abgeurteilten Taten zum verjährten
oder nicht verjährten Zeitraum vornehmen. Es ist aber nicht aus-
zuschließen, dass bei einer erneuten Hauptverhandlung insoweit
ergänzende Feststellungen getroffen werden können, die eine
Verurteilung in diesen Fällen zulassen.
2. Die Feststellungen zu den Fällen 18 bis 23 der Urteilsgründe (UA
S. 12) tragen lediglich die Verurteilung wegen fünf und nicht we-
gen sechs Taten; es werden nämlich eine Tat im Jahr 2009 und
jeweils zwei Taten in den Jahren 2010 und 2011 aufgeführt. Zu
der weiteren Tat (die sich laut zugelassener Anklageschrift im
Zeitraum Januar bis August 2012 ereignet haben soll, vgl. SA
Bd. III Bl. 434) fehlen jegliche näheren Feststellungen. Auch aus
dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe lassen sich keine
ausreichenden Feststellungen ergänzen
; […] Auch insoweit ist
aber nicht auszuschließen, dass die erforderlichen Feststellun-
gen bei einer erneuten Hauptverhandlung nachgeholt werden
können.
3. Die Aufhebung der Schuldsprüche zu den erwähnten Taten ent-
zieht den Einzelstrafen in diesen Fällen und damit dem Gesamt-
strafenausspruch die Grundlage. Unabhängig hiervon bestehen
gegen die Strafzumessung in den Fällen 1 bis 16 und 29 der Ur-
teilsgründe rechtliche Bedenken. Die Strafkammer, die rechtsfeh-
lerfrei in allen Fällen von einer Verwirklichung des Regelbeispiels
nach § 240 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 StGB ausgegangen ist, hat den
Strafrahmen des § 240 Abs. 4 Satz 1 StGB angewendet, den sie
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wegen eines Täter-Opfer-Ausgleichs in Anwendung des § 49
Abs. 1 StGB gemildert hat. Bei der Erörterung, ob Umstände vor-
liegen, welche die Indizwirkung des Regelbeispiels entfallen las-
sen könnten, hat die Strafkammer indes den vertypten Strafmil-
derungsgrund des § 46a StGB unberücksichtigt gelassen. Das ist
rechtsfehlerhaft, denn das Vorliegen derartiger vertypter Straf-
milderungsgründe kann nach ständiger Rechtsprechung bei der
Strafrahmenwahl Anlass geben, jedenfalls im Zusammenhang
mit den allgemeinen Strafmilderungsgründen (wenn diese hierfür
allein nicht ausreichen) trotz Vorliegen eines Regelbeispiels ei-
nen besonders schweren Fall zu verneinen und die Strafe dem
Regelstrafrahmen zu entnehmen (vgl. nur BGH, Beschluss vom
13. Juli 2000 - 4 StR 271/00 - m.w.N., insoweit in NStZ 2000, 592
u.a. nicht abgedruckt). Es ist nicht völlig auszuschließen, dass
die Strafkammer bei zutreffender Berücksichtigung dieses Ge-
sichtspunkts zur Anwendung des Regelstrafrahmens des § 240
Abs. 1 StGB und im Ergebnis zu einer niedrigeren Strafe gelangt
wäre.
In den Fällen 17 bis 28 der Urteilsgründe kann sich der Rechts-
fehler im Ergebnis dagegen nicht ausgewirkt haben. Zwar hat die
Strafkammer auch in diesen Fällen den nach § 49 Abs. 1 StGB
gemilderten Strafrahmen des § 240 Abs. 4 Satz 1 StGB ange-
wendet (UA S. 20). Dieser entspricht indes dem nach § 49 Abs. 1
StGB gemilderten Strafrahmen des § 182 Abs. 1 Nr. 1 StGB, der
nach § 52 Abs. 2 Satz 1 StGB anzuwenden gewesen wäre.
[…]“
Dem tritt der Senat bei. Soweit die Strafkammer von einer Mindestfrei-
heitsstrafe von einem Monat ausgegangen ist und die Möglichkeit der Verhän-
gung einer Geldstrafe nach Art. 12 Abs. 1 Satz 1 EGStGB unberücksichtigt ge-
lassen
hat
(vgl.
Senat,
Urteil
vom
17.
März
2015
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379/14, BGHR EGStGB Art. 12 Abs. 1 Geldstrafe 1), schließt der Senat aus,
dass der Strafausspruch hierauf beruht, da die Verhängung einer Geldstrafe
offensichtlich ferngelegen hat.
Fischer Appl Eschelbach
Ott Zeng