Urteil des BGH vom 25.03.2015

Psychische Störung, Missbrauch, Vertreter, Pädophilie

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 S t R 4 0 9 / 1 4
vom
25. März 2015
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25. März
2015, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Appl
als Vorsitzender,
die Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Krehl,
Dr. Eschelbach,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Ott,
der Richter am Bundesgerichtshof
Zeng,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwalt
als Vertreter der Nebenklägerinnen O. ,
Rechtsanwalt
als Vertreter der Nebenklägerin W. ,
Rechtsanwalt
als Vertreter der Nebenklägerin D. ,
Justizhauptsekretärin in der Verhandlung,
Justizangestellte bei der Verkündung
als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landge-
richts Kassel vom 17. Februar 2014
1. im Schuldspruch dahin abgeändert, dass der Angeklagte
des sexuellen Missbrauchs von Kindern in 119 Fällen, da-
von
- in zwei Fällen in Tateinheit mit versuchtem schweren se-
xuellen Missbrauch von Kindern,
- in elf Fällen in Tateinheit mit versuchtem sexuellen Miss-
brauch Widerstandsunfähiger und
- in einem Fall in Tateinheit mit Verletzung des höchstper-
sönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen,
des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 22
Fällen, davon
- in zwölf Fällen in Tateinheit mit versuchtem schweren se-
xuellen Missbrauch Widerstandsunfähiger,
- in sieben Fällen in Tateinheit mit Verletzung des höchst-
persönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen,
des Zugänglichmachens kinderpornographischer Schriften
in sieben Fällen und
des Besitzes kinderpornographischer Schriften
schuldig ist,
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2. im Straf- und Maßregelausspruch mit den zugehörigen
Feststellungen aufgehoben.
II. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück-
verwiesen.
III. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 119 Fällen, davon in zwei Fällen
in Tateinheit mit versuchtem schweren sexuellen Missbrauch von Kindern, in elf
Fällen in Tateinheit mit versuchtem sexuellen Missbrauch Widerstandsunfähiger
und in zwei Fällen in Tateinheit mit Verletzung des höchstpersönlichen Lebens-
bereichs durch Bildaufnahmen, ferner wegen schweren sexuellen Missbrauchs
von Kindern in 22 Fällen, davon in zwölf Fällen in Tateinheit mit versuchtem
schweren sexuellen Missbrauch Widerstandsunfähiger und in neun Fällen in
Tateinheit mit Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bild-
aufnahmen, außerdem wegen Zugänglichmachens kinderpornographischer
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Schriften in sieben Fällen und wegen Besitzes kinderpornographischer Schrif-
ten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren und anschließender Unter-
bringung in der Sicherungsverwahrung verurteilt. Außerdem hat es ausgespro-
chen, dass der Angeklagte allen Nebenklägerinnen jeweils ein Schmerzensgeld
von 15.000 Euro nebst "5 % Zinsen über dem Basiszinssatz" zu zahlen hat, für
die Nebenklägerinnen A. und S. O. ab dem 29. Januar 2014,
für die Nebenklägerinnen W. und Or. ab dem 14. Februar
2014. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachbe-
schwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat in dem aus
der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbe-
gründet.
I.
Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der Angeklagte an ei-
ner sexuellen Deviation im Sinne einer Kernpädophilie. Seit Anfang der 1980er
Jahre empfindet er sexuelles Interesse an Mädchen im vorpubertären Alter. Im
Herbst 1980 kam es zu einem ersten sexuellen Übergriff auf die damals fünf
oder sechs Jahre alte Schwester seiner Freundin. Es folgte eine Vielzahl sexu-
eller Übergriffe auf Mädchen aus dem Umfeld des Angeklagten.
Im Zeitraum von 1994 bis 1996 beging der Angeklagte mehrfach sexuel-
len Missbrauch der Nebenklägerin D. dadurch, dass er das Kind an
der Scheide streichelte. Ab 1998 missbrauchte er die Nebenklägerin
Or. , indem er das Kind an der Scheide streichelte, es dazu veranlasste, an
seinem Glied zu reiben oder versuchte, mit seinem Glied einzudringen. Ab 2003
beging er ähnliche Taten zum Nachteil der Nebenklägerin W. , wo-
bei er in einem Teil der Fälle mit seinem Glied oder mit einem Finger in sie ein-
drang und in einer Reihe von Fällen den Missbrauch beging, während sich das
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Kind schlafend stellte. Von 2007 bis 2013 missbrauchte der Angeklagte die Ne-
benklägerin A. O. und von 2009 bis 2013 auch die Nebenklägerin
S. O. . Einige der Vorfälle filmte er mit einer Kamera.
Vom 5. April 2011 bis zum 31. Juli 2012 machte der Angeklagte kinder-
pornographische Filmdateien über eine Internettauschbörse anderen Internet-
nutzern zugänglich. Weil der Angeklagte seinen Computer über ein bis zwei
Wochen hinweg durchgängig laufen ließ, hat das Landgericht sieben selbstän-
dige Handlungen des Zugänglichmachens kinderpornographischer Schriften
angenommen.
Der Angeklagte verfügte zurzeit der Durchsuchung seiner Wohnung über
mindestens 2.000 kinderpornographische Dateien.
II.
Die Revision des Angeklagten ist teilweise begründet.
1. Die Verfahrensrügen bleiben aus den vom Generalbundesanwalt in
seiner Antragsschrift vom 24. Oktober 2014 genannten Gründen ohne Erfolg.
2. Soweit sich die Revision mit der Sachrüge gegen den Schuldspruch
richtet, führt sie nur zu einer geringfügigen Änderung des Schuldspruchs, weil
das Landgericht übersehen hat, dass § 201a StGB erst nach Begehung der
Taten in den Fällen 59 bis 61 in Kraft getreten ist. Insoweit muss die tateinheitli-
che Verurteilung wegen dieses Tatbestands in diesen Fällen entfallen.
3. Der Rechtsfolgenausspruch hat keinen Bestand.
a) Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte bei kei-
ner der Taten gemäß § 21 StGB in seiner Unrechtseinsichts- oder Steuerungs-
fähigkeit erheblich beeinträchtigt war.
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Die Strafkammer hat sich bei ihrer Einschätzung auf den gerichtlichen
Sachverständigen gestützt. Dieser ist zunächst davon ausgegangen, eine
schwere andere seelische Abartigkeit des Angeklagten sei nicht anzunehmen.
Zu den Auswirkungen der festgestellten Pädophilie hat er später angemerkt, es
sei nicht auszuschließen, dass die sexuelle Deviation das Ausmaß einer schwe-
ren anderen seelischen Abartigkeit erreicht habe; jedoch sei nicht von einer er-
heblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit auszugehen. Daraus hat
das Landgericht entnommen, selbst wenn man die Pädophilie "als schwere an-
dere seelische Abartigkeit einstufe", habe diese "keine Auswirkungen auf die
Einsichts- und Steuerungsfähigkeit" des Angeklagten gehabt.
Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Landgericht von einem
falschen rechtlichen Maßstab ausgegangen ist. Die richterliche Entscheidung,
ob die Fähigkeit des Täters, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach die-
ser Einsicht zu handeln, bei der Begehung der jeweiligen Tat erheblich vermin-
dert war, besteht in einem aus mehreren Schritten bestehenden Verfahren (vgl.
BGH, Beschluss vom 12. März 2013 - 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519, 520). Zu-
erst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische
Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der
Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Aus-
prägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähig-
keit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen
Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der
Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Die anschließende Frage der Erheb-
lichkeit der Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens ist eine Rechtsfrage,
die das Tatgericht selbst zu beantworten hat, nicht der Sachverständige (vgl.
BGH, Urteil vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 77; Urteil vom
21. Januar 2004 - 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 53).
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Wird im Einzelfall eine schwere andere seelische Abartigkeit als Ein-
gangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB bejaht, so liegt wegen der damit festge-
stellten Schwere der Abartigkeit auch eine erhebliche Beeinträchtigung des
Steuerungsvermögens gemäß § 21 StGB nahe (vgl. BGH, Beschluss vom
16. Mai 1991 - 4 StR 204/91, BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 20; Be-
schluss vom 6. Mai 1997 - 1 StR 17/97, BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit
31; Fischer, StGB, 62. Aufl., § 21 Rn. 8). Dies hat das Landgericht nicht be-
dacht, als es die Frage nach dem Vorliegen eines Eingangsmerkmals offen ge-
lassen und die Frage der Erheblichkeit einer hieraus gegebenenfalls resultie-
renden Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit verneint hat.
Der Senat kann nicht ausschließen, dass bei ordnungsgemäßer Prüfung
jedenfalls für einen Teil der abgeurteilten Taten eine erhebliche Beeinträchti-
gung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten anzunehmen ist. Eine festge-
stellte Pädophilie kann im Einzelfall die Annahme einer schweren anderen see-
lischen Abartigkeit und einer hierdurch erheblich beeinträchtigten Steuerungs-
fähigkeit rechtfertigen, wenn Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhal-
tensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zu-
nehmende Frequenz der devianten Handlungen, Ausbau des Raffinements
beim Vorgehen und gedankliche Einengung des Täters auf diese Praktik aus-
zeichnen (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juli 2007 - 4 StR 242/07, NStZ-RR
2007, 337; Beschluss vom 20. Mai 2010 - 5 StR 104/10; NStZ-RR 2011, 170;
Beschluss vom 6. Juli 2010 - 4 StR 283/10, NStZ-RR 2010, 304, 305; Be-
schluss vom 10. September 2013 - 2 StR 321/13, NStZ-RR 2014, 8, 9). Inso-
weit könnten entgegen der Auffassung des Landgerichts eine gedankliche Ein-
engung des Angeklagten auf sexuelle Handlungen mit Kindern und eine Pro-
gredienz der lange andauernden Fehlentwicklung festzustellen sein, die in den
letzten Jahren, in denen der Angeklagte zur gleichen Zeit sexuelle Handlungen
an mehreren sehr jungen Kindern vornahm und auch nicht mehr mit seiner Ehe-
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frau sexuell verkehrte, zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB ge-
führt haben. Ob und in welchem zeitlichen Umfang dies der Fall ist, kann der
Senat anhand der Urteilsgründe nicht feststellen, weshalb er den Straf-
ausspruch im Ganzen aufhebt.
b) Es ist nicht auszuschließen, dass der Rechtsfehler bei der Prüfung
von § 21 StGB auch Auswirkungen auf die Anordnung der Unterbringung des
Angeklagten in der Sicherungsverwahrung hat, die gemäß § 66 Abs. 2 StGB
eine Ermessensentscheidung anhand aller wesentlichen Umstände des Einzel-
falls erfordert. Der neue Tatrichter wird gegebenenfalls zu erwägen haben, ob
der Angeklagte bei Eingreifen von § 21 StGB gemäß § 63 StGB in einem psy-
chiatrischen Krankenhaus unterzubringen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai
2010 - 5 StR 104/10; NStZ-RR 2011, 170).
4. Der Ausspruch über die Adhäsionsanträge bleibt von der Aufhebung
des strafrechtlichen Rechtsfolgenausspruchs unberührt. Über seine Aufhebung
ist vom neuen Tatrichter auf der Grundlage der Ergebnisse der neuen Haupt-
verhandlung zu entscheiden (vgl. Senat, Beschluss vom 17. Dezember 2014
- 2 StR 78/14, StV 2015, 292, 293).
Der Senat weist darauf hin, dass er mit Beschluss vom 8. Oktober 2014 -
2 StR 137/14 und 2 StR 337/14 (ZfSch 2015, 203 ff.) bei den anderen Strafse-
naten und bei dem Großen Senat des Bundegerichtshofs für Zivilsachen gemäß
§ 132 GVG angefragt hat, ob an Rechtsprechung festgehalten wird, die bei der
Bemessung des Schmerzensgeldes eine Berücksichtigung der Vermö-
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gensverhältnisse von Schädiger und Geschädigtem fordert. Der Senat beab-
sichtigt, diese Rechtsprechung, von der das Landgericht ausgegangen ist, auf-
zugeben. Nach seiner Ansicht kommt es auf die wirtschaftlichen Verhältnisse
von Täter und Opfer für die Bemessung des Schmerzensgeldes nicht an.
RiBGH Dr. Appl ist Krehl Eschelbach
an der Beifügung seiner
Unterschrift gehindert.
Krehl
Ott
RiBGH Zeng ist an der
Beifügung seiner Unter-
schrift gehindert.
Krehl