Urteil des BGH vom 22.04.2015

Elterliche Sorge, Unterbringung, Stieftochter, Zustand

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 S t R 3 9 3 / 1 4
vom
22. April 2015
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 22. April
2015, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Krehl
als Vorsitzender,
der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Eschelbach,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Ott,
der Richter am Bundesgerichtshof
Zeng,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Bartel,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
- in der Verhandlung -
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landge-
richts Bonn vom 13. Januar 2014 im Ausspruch über die Maßregel
mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an
eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird als unbegrün-
det verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von
Schutzbefohlenen in 15 Fällen, hiervon in elf Fällen in Tateinheit mit schwerem
sexuellen Missbrauch von Kindern, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jah-
ren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
angeordnet. Die dagegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision führt
zur Aufhebung der Maßregel; im Übrigen ist sie unbegründet, weil die Nachprü-
fung des Schuld- und Strafausspruchs keinen Rechtsfehler zum Nachteil des
Angeklagten erkennen lässt.
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I.
Dem Urteil liegen folgende Feststellungen und Wertungen zugrunde:
1. Der Angeklagte leidet seit frühester Kindheit an einer Schwerhörigkeit
sowie einer leichten bis mittelgradigen Intelligenzminderung (Gesamt-IQ 49).
2004 heiratete er die in Russland lebende Mutter der am 22. November 1995
geborenen Geschädigten. Während die Mutter bald nach Deutschland übersie-
delte und in die Wohnung des Angeklagten einzog, konnte die Geschädigte ih-
rer Mutter erst im Sommer 2007 folgen. Die Geschädigte ist wie ihre Mutter ge-
hörlos und beherrschte zunächst nur die russische Gebärdensprache.
Bereits eine Woche nach ihrer Ankunft fragte der Angeklagte die Ge-
schädigte mittels Gebärden, ob sie mit ihm "Sex machen" wolle. In der Folge-
zeit rieb er wiederholt seinen erigierten Penis zwischen den nackten Gesäßhälf-
ten der Geschädigten. Spätestens seit Herbst 2008 führte er regelmäßig, min-
destens aber in 15 Fällen, den vaginalen Geschlechtsverkehr mit seiner
Stieftochter durch; in einem Fall erfolgte zudem Oralverkehr, in einem weiteren
Fall versuchter Analverkehr (Fälle II. 1. bis 15. der Urteilsgründe), wobei die
Geschädigte in vier Fällen nicht ausschließbar bereits 14 Jahre alt war (Fäl-
le II. 10. bis 13. der Urteilsgründe).
Der Angeklagte hat das Tatgeschehen im Wesentlichen eingeräumt, wo-
bei er aber die Initiative hierfür der Geschädigten zugeschrieben hat, die ihn
"verliebt gemacht" habe.
2. Das sachverständig beratene Landgericht ist davon ausgegangen,
dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten auf-
grund der bei ihm bestehenden Intelligenzminderung, die in ihrem Schweregrad
das Eingangsmerkmal des "Schwachsinns" erfülle, erheblich vermindert gewe-
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sen sei (§ 21 StGB). Die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatri-
schen Krankenhaus habe angeordnet werden müssen. Aufgrund der weiterhin
bestehenden Intelligenzminderung seien in jedem Fall ähnlich gelagerte,
schwerwiegende Straftaten zu erwarten.
II.
Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
nach § 63 StGB hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Das Landgericht hat den für die Annahme erheblich verminderter
Steuerungsfähigkeit vorausgesetzten ursächlichen symptomatischen Zusam-
menhang der von dem Sachverständigen diagnostizierten leichten bis mittel-
gradigen Intelligenzminderung mit dem Tatgeschehen nicht ausreichend belegt.
Die Frage, ob die Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung aufgrund einer
festgestellten Störung im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert war, ist
tatsachengestützt zu begründen. Dies erfordert es, sowohl konkrete Feststel-
lungen zum Ausmaß der vorhandenen Störung zu treffen als auch ihre Auswir-
kungen auf die Tat darzulegen. Geboten ist insbesondere eine Auseinanderset-
zung damit, ob in der Person des Angeklagten letztlich nicht nur Eigenschaften
und Verhaltensweisen hervortreten, die sich im Rahmen dessen halten, was bei
voll schuldfähigen Menschen anzutreffen und übliche Ursache für strafbares
Verhalten ist (vgl. Senatsbeschluss vom 19. Februar 2015 - 2 StR 420/14
mwN).
Daran fehlt es hier. Die Strafkammer hat zwar dargelegt, dass der Ange-
klagte an einem unter die Eingangsmerkmale des § 20 StGB fallenden krank-
haften dauerhaften Zustand leidet. Sie hat es aber versäumt, in einer für das
Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise zu erörtern, dass und wie sich dieser
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Zustand in der konkreten Tat ausgewirkt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Juli
1997 - 4 StR 303/97, NStZ-RR 1998, 106).
Das Landgericht hat insoweit "in Übereinstimmung" mit dem Sachver-
ständigen lediglich ausgeführt, der Angeklagte sei aufgrund seiner Intelligenz-
minderung "nur schwer" in der Lage gewesen, aus seiner (erhalten gebliebe-
nen) Unrechtseinsicht "die Schlussfolgerung zu ziehen, keine sexuellen Hand-
lungen mit seiner Stieftochter zu begehen". Er sei in der Fähigkeit, seinen se-
xuellen Trieb und die Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse zu kontrollie-
ren, erheblich beeinträchtigt gewesen.
Diese knappen Ausführungen lassen nicht erkennen, auf welcher Tatsa-
chengrundlage die Annahme des Sachverständigen - und ihm folgend des Tat-
gerichts - beruht, dass die Missbrauchstaten auf die Intelligenzminderung und
nicht etwa auf andere Ursachen, wie zum Beispiel eine sexuelle Präferenz des
Angeklagten, zurückgehen. Überhaupt fehlen Ausführungen dazu, welchen Ein-
fluss die Intelligenzminderung auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten
in den konkreten Tatsituationen hatte. Auch im Hinblick auf die Erheblichkeit der
Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit fehlt jede tatbezogene Betrachtung.
Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen lässt sich daher nicht
die Annahme rechtfertigen, der Angeklagte habe aufgrund seiner Intelligenz-
minderung bei allen Taten jeweils sicher im Zustand erheblich verminderter
Steuerungsfähigkeit gehandelt.
2. Auch die Gefährlichkeitsprognose wird durch die bisherigen Feststel-
lungen nicht getragen.
a) Die der Entscheidung der Strafkammer zugrunde gelegte Bewertung
des Sachverständigen, dass aufgrund der Diskrepanz zwischen körperlicher
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sexueller Reife und sozialer Kompetenz des Angeklagten in jedem Fall ähnlich
gelagerte, schwerwiegende Straftaten zu erwarten seien, ist nicht im Einzelnen
mit Tatsachen belegt.
Richten sich Straftaten, aufgrund derer die Unterbringung angeordnet
wird, nur gegen eine bestimmte Person oder haben sie in der Beziehung zu
dieser Person ihre alleinige Ursache, so bedarf die Annahme, dass der Täter für
die Allgemeinheit gefährlich ist, genauer Prüfung und Darlegung aufgrund kon-
kreter tatsächlicher Feststellungen (vgl. BGH, Urteil vom 9. November 1989 - 4
StR 342/89, NZV 1990, 77 mwN; Senatsbeschluss vom 4. Oktober 2006 - 2 StR
349/06, NStZ 2007, 29). Das Landgericht hat insoweit lediglich ausgeführt, dass
die Möglichkeiten des Angeklagten, Einfluss und Eindruck auf erwachsene
Frauen als mögliche Sexualpartnerinnen auszuüben, wegen seiner Intelligenz-
minderung erheblich eingeschränkt seien, weshalb eine Verschiebung seiner
sexuellen Bedürfnisse auf schwächere Bezugspersonen in Gestalt von jungen
Mädchen weiterhin zu befürchten sei.
Dabei hat das Gericht schon nicht berücksichtigt, dass der zum Zeitpunkt
der Hauptverhandlung 38jährige und nicht vorbestrafte Angeklagte seit 2004
verheiratet ist und mit seiner Frau eine gemeinsame, 2008 geborene Tochter
hat. Worauf die Annahme der Kammer gründet, dass die Möglichkeiten des An-
geklagten, erwachsene Sexualpartnerinnen zu finden, tatsächlich eingeschränkt
sind, wird nicht ausgeführt.
Aber auch die Bewertung, dass eine Verschiebung seiner sexuellen Be-
dürfnisse auf junge Mädchen weiterhin zu befürchten sei, lässt eine Erörterung
tatspezifischer Umstände vermissen; denn bei der durch die Missbrauchstaten
Geschädigten handelte es sich um die mit dem Angeklagten in einem Haushalt
lebende Stieftochter, die zudem gehörlos ist und erst unmittelbar vor den ersten
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sexuellen Übergriffen nach Deutschland gekommen war. Tatsächliche Anhalts-
punkte dafür, dass der Angeklagte wieder die Gelegenheit haben könnte, ent-
sprechend nachhaltig auf ein solchermaßen schutzbedürftiges junges Mädchen
einzuwirken, hat die Strafkammer weder mitgeteilt noch sind solche ersichtlich,
zumal auch die jüngere Schwester der Geschädigten schon 2011 aus der Fami-
lie genommen und den Eltern die elterliche Sorge entzogen worden ist.
b) Die Ausführungen der Strafkammer lassen zudem besorgen, dass sie
bei der Gefährlichkeitsprognose einen unzutreffenden Maßstab zugrunde gelegt
hat. Eine Unterbringung nach § 63 StGB kommt nur dann in Betracht, wenn
eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Begehung künftiger Taten be-
steht. Die Kammer hat sich insoweit "nach eigener Prüfung" den Ausführungen
des Sachverständigen angeschlossen, der davon ausgegangen ist, dass "in
jedem Fall" ähnlich gelagerte Straftaten zu erwarten seien. Sie ist dann mit er-
gänzenden Erwägungen zu dem Ergebnis gelangt, dass Missbrauchstaten ge-
gen junge Mädchen weiterhin "zu befürchten" seien, ohne sich zu dem Grad der
Wahrscheinlichkeit überhaupt zu verhalten und diesen tatsachengestützt zu
begründen.
3. Der Senat hebt den Maßregelausspruch mit den zugrunde liegenden
Feststellungen auf. Der neue Tatrichter wird sich naheliegender Weise unter
Heranziehung eines anderen Sachverständigen erneut mit der Intelligenzminde-
rung des Angeklagten und ihren Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit ausei-
nanderzusetzen haben.
Schuld- und Strafausspruch können bestehen bleiben. Der Senat
schließt aus, dass sich dabei Feststellungen ergeben könnten, die zu einer
Schuldunfähigkeit des Angeklagten führen könnten. Denn das Landgericht hat
auf breiter Tatsachengrundlage es zum einen dargestellt, dass der Angeklagte,
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der eingeräumt habe zu wissen, dass man seine Stieftochter "nicht anfassen"
dürfe, trotz seiner Intelligenzminderung das Unrecht seiner Tat erkannt habe.
Es hat zum anderen ausgeführt, dass eine vollständige Aufhebung der Steue-
rungsfähigkeit ausgeschlossen werden könne, weil den Missbrauchstaten je-
weils eine nicht unerhebliche Planung der Ausführung vorausgegangen sei, der
Angeklagte zielgerichtet nach Möglichkeiten der Ausführung gesucht und dabei
zahlreiche Sicherungstendenzen gezeigt habe.
Soweit die Strafkammer aufgrund der dargelegten rechtfehlerhaften Wer-
tung die Voraussetzungen des § 21 StGB bejaht und die Strafe dem jeweils
gemäß § 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen entnommen hat, ist der An-
geklagte hierdurch nicht beschwert (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Februar 2015
- 4 StR 498/14, NStZ-RR 2015, 137, 138). Dass ohne die Anordnung der Un-
terbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus eine niedrigere Strafe ver-
hängt worden wäre, vermag der Senat auszuschließen (vgl. Senatsbeschluss
vom 1. April 2014 - 2 StR 602/13).
Krehl Eschelbach Ott
Zeng Bartel
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