Urteil des BGH vom 08.11.2016

Morphin, Konsum, Opium, Unmittelbarer Besitz

ECLI:DE:BGH:2016:081116U1STR492.15.0
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 492/15
vom
8. November 2016
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen zu 1.: Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge u.a.
zu 2.: unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer
Menge u.a.
- 2 -
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Hauptverhandlung
vom 27. Oktober 2016 in der Sitzung am 8. November 2016, an denen teilge-
nommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Raum,
die Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Graf,
Prof. Dr. Jäger,
Prof. Dr. Radtke
und die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Fischer,
Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
– in der Verhandlung vom 27. Oktober 2016 –
als Verteidiger des Angeklagten U. ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger des Angeklagten G. ,
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
1. Auf die Revision des Angeklagten G. wird das Urteil
des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 18. Juni 2015 im
Rechtsfolgenausspruch aufgehoben.
Die weitergehende Revision des Angeklagten G.
wird verworfen.
2. Auf die Revision des Angeklagten U. wird das vorge-
nannte Urteil
a) im Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass der
Angeklagte der Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von
Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tatein-
heit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln
schuldig ist und
b) im gesamten Strafausspruch aufgehoben.
Die weitergehende Revision des Angeklagten U. wird
verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Ver-
handlung und Entscheidung, auch über die Kosten der
Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landge-
richts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten G. wegen unerlaubter Einfuhr
von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen vorsätzlichen Be-
sitzes einer verbotenen Waffe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren
und neun Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsan-
stalt sowie den Vorwegvollzug eines Teils der Strafe angeordnet. Den Ange-
klagten U. hat es wegen Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungs-
mitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln
in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Im
Übrigen wurden die Angeklagten freigesprochen.
Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Ange-
klagten G. beanstandet insbesondere die Bestimmung der nicht geringen
Menge des Wirkstoffgehalts von Schlafmohnkapseln „analog“ zu Opium. Der
Angeklagte U. hat die nicht ausgeführte Sachrüge erhoben.
Die Revisionen der Angeklagten haben den aus dem Urteilstenor ersicht-
lichen Erfolg.
I.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts erwarb der Angeklagte
G. im Januar 2014 in einem Geschäft in Wien (Österreich) etwa 48 kg
Schlafmohnkapseln, die dort zu dekorativen Zwecken verkauft wurden. Der An-
geklagte U.
hatte ihm 1.000 € mitgegeben und gebeten, auch für ihn solche
Kapseln mitzubringen. Er war davon ausgegangen, mindestens 10 kg zu erhal-
ten, hatte aber auch eine Menge bis zu 15 kg billigend in Kauf genommen und
es für möglich gehalten, dass der Angeklagte G. eine ähnlich große Menge
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für sich selbst erwerben würde; mit mehr als 30 kg hatte er jedoch nicht ge-
rechnet.
Der Angeklagte G. bewahrte die Kapseln und
– absprachegemäß
auch den etwa 15 kg betragenden Anteil des Angeklagten U.
– in seiner
Wohnung und in der Garage auf. Üblicherweise konsumierte er morgens und
abends je zwei Teelöffel gemahlener Kapseln mit warmem Wasser. Verlangte
der Angeklagte U. Mohnkapseln, händigte ihm G. (gemahlene) Kap-
seln aus.
Am 4. April 2014 wurde die Garage des Angeklagten G. durchsucht.
Es wurden 32,4 kg Schlafmohnkapseln sichergestellt. Eine Durchsuchung des
Anwesens selbst am 23. Oktober 2014 führte zur Sicherstellung von knapp
16 kg
– zum Teil gemahlener – Kapseln und eines Schlagringmessers.
In der Wohnung des Angeklagten U. wurden 42,4 g gemahlene Kap-
seln sichergestellt.
Der Wirkstoffgehalt der Mohnkapseln lag zwischen 0,19 % und 1,55 %
Morphinbase und 0,017 % und 0,27 % Codeinbase.
2. Die „nicht geringe Menge“ im Sinne von § 29a Abs. 1 Nr. 2, § 30
Abs. 1 BtMG hat die Kammer
– sachverständig beraten – „analog“ zu Opium
bestimmt. Schlafmohnkapseln seien opiumähnlich. Opium werde im Regelfall
im Gegensatz zu Morphintabletten geraucht und die nicht geringe Menge des-
halb mit 6 g Morphinhydrochlorid und 15 g Codeinphosphat angesetzt. Die ora-
le Aufnahme des Opiums über den Magen sei gefährlicher, da beim Rauchen
der Substanz ein erheblicher Teil verbrenne. Deshalb könne auch daran ge-
dacht werden, den
Grenzwert zur nicht geringen Menge „analog“ zu Morphin
bei 4,5 g Morphinhydrochlorid anzusetzen. Allerdings hätten die Angeklagten
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die Substanz mit Wasser stark verdünnt. Dadurch trete ein Resorptionsverlust
ein und die bioverfügbare Menge sei geringer. Die Wirkung sei daher ver-
gleichbar mit (gerauchtem) Opium.
Die Schlafmohnkapseln enthielten 569 g Morphinhydrochlorid und 97,8 g
Codeinphosphat, so dass die nicht geringe Menge an Morphinhydrochlorid um
das 94-fache und an Codeinphosphat um das 6,4-fache überschritten worden
sei.
3. Der Angeklagte U. habe sich nicht nur der Beihilfe zur unerlaubten
Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gemacht, son-
dern auch des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Er ha-
be zu den vom Angeklagten G. absprachegemäß für ihn verwahrten
Mohnkapseln aufgrund ihrer Freundschaft und ihrer Einkaufsgemeinschaft ei-
nen so sicheren Zugang gehabt, dass er ohne Schwierigkeiten darüber habe
verfügen können. Dem stehe nicht entgegen, dass er den genauen Lagerort
nicht gekannt hätte, denn er hätte diesen jederzeit von G. erfahren kön-
nen.
II.
Die Revision des Angeklagten G. ist im Schuldspruch unbegründet,
im Rechtsfolgenausspruch begründet.
1. Der Senat setzt den Grenzwert der nicht geringen Menge des Mor-
phinhydrochlorids in Schlafmohnkapseln (Papaver somniferum) auf 70 g fest.
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Bei der Festlegung der nicht geringen Menge ist nur auf das Hauptalka-
loid Morphin als dem quantitativ und in der Gefährlichkeit dominierenden Wirk-
stoff in Schlafmohnkapseln abzustellen. Codein bleibt außer Betracht, da es
nicht wirkungsbestimmend ist.
2. Nach der in ständiger Rechtsprechung vom Bundesgerichtshof ange-
wandten Methode zur Bestimmung des Grenzwerts eines Betäubungsmittels
(vgl. BGH, Urteile vom 3. Dezember 2008
– 2 StR 86/08, BGHSt 53, 89 ff.; vom
17. November 2011
– 3 StR 315/10, BGHSt 57, 60 ff.; vom
14. Januar 2015
– 1 StR 302/13, BGHSt 60, 134, 136 und vom 5. November 2015 – 4 StR
124/14, StraFo 2016, 37, 38) ist dieser stets in Abhängigkeit von der konkreten
Wirkungsweise und Wirkungsintensität des Betäubungsmittels festzulegen.
Maßgeblich ist zunächst die äußerst gefährliche, gar tödliche Dosis des
Wirkstoffs (vgl. BGH, Beschluss vom 7. November 1983
– 1 StR 721/83,
BGHSt 32, 162, 164; Urteil vom 22. Dezember 1987
– 1 StR 612/87, BGHSt 35,
179, 183). Fehlen hierzu gesicherte Erkenntnisse, so errechnet sich der
Grenzwert als ein Vielfaches der durchschnittlichen Konsumeinheit eines nicht
an den Genuss dieser Droge gewöhnten Konsumenten. Ist auch die zur Erzie-
lung eines Rauschzustands durch einen nicht an den Genuss dieser Droge ge-
wöhnten Konsumenten adäquate Dosis nicht feststellbar, ist die maßgebliche
Einzelmenge am Tagesbedarf zu bemessen (BGH, Urteil vom 2. November
2010
– 1 StR 581/09, BGHSt 56, 52). Das Vielfache ist nach Maßgabe der Ge-
fährlichkeit des Stoffes, insbesondere seines Abhängigkeiten auslösenden oder
sonst die Gesundheit schädigenden Potentials zu berechnen (BGH, Urteil vom
3. Dezember 2008
– 2 StR 86/08, BGHSt 53, 89). Die Dosis ist hierbei von der
Darreichungsform abhängig. Lassen sich auch zum Konsumverhalten keine
ausreichenden Erkenntnisse gewinnen, so entscheidet ein Vergleich mit ver-
wandten Wirkstoffen (vgl. BGH, Urteile vom 24. April 2007
– 1 StR 52/07,
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BGHSt 51, 318, 322 und vom 17. November 2011
– 3 StR 315/10, BGHSt 57,
60, 64).
3. Zur Wirkung und Gefährlichkeit von Schlafmohnkapseln hat der Se-
nat, sachverständig beraten durch die Sachverständigen A. und
S. , nach deren Anhörung in der Hauptverhandlung Folgendes fest-
gestellt:
a) Opium aus dem Milchsaft der Schlafmohnkapsel enthält zu 3 bis 18 %
(im Mittel ca. 10 %) Morphin als Hauptalkaloid sowie weitere Alkaloide. Darun-
ter ist an zweiter Stelle der wirksamen Inhaltsstoffe Codein mit einem Gehalt
von 0,2 bis 6 % (im Mittel ca. 5 %).
Hohe Dosierungen von Morphin führen aufgrund der zentral dämpfenden
Wirkung zu einer Atemdepression, also einer das Atemzentrum lähmenden
Wirkung, die tödlich sein kann. Da Opium und Mohnstroh
– getrocknete Schlaf-
mohnkapseln ohne Samenkapseln
– weitere Alkaloide enthalten, die zum Teil
einen stimulierenden Effekt auf die Atmung haben, ist es möglich, dass eine
Atemdepression im Vergleich zur Applikation reinen Morphins erst bei höherer
Dosierung eintritt. Auch Codein kann die Morphinwirkung modifizieren oder
modulieren. Gesicherte Erkenntnisse, ob überhaupt und ggf. inwieweit die
atemdepressiven Effekte des Morphins durch opiumtypische Begleitsubstanzen
abgeschwächt werden können, fehlen.
b) Getrocknete Schlafmohnkapseln enthalten (neben weiteren Alkaloi-
den) durchschnittlich 1 bis 1,5 % Morphin.
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c) Der Konsum von Schlafmohnkapseln führt u.a. zu einer entspannen-
den, euphorisierenden, tendenziell schlaffördernden Wirkung. Eine Abhängig-
keit entwickelt sich nur langsam und weniger als bei anderen Konsumformen.
Bei an den Konsum gewöhnten Konsumenten treten acht bis zehn Stunden
nach dem Konsum Entzugserscheinungen auf (z.B. Knochenschmerzen, Spei-
chelfluss, Juckreiz u.a.). Organische Schäden verursacht der Konsum von
Schlafmohnkapseln nicht.
Die akute Gefährlichkeit von Schlafmohnkapseln beruht auf der Atemde-
pression, die bei Konsum größerer Mengen eintreten kann. Atemdepressive
Effekte wurden schon bei Konsum von Kapseln mit Wirkstoffmengen zwischen
200 und 250 mg Morphinhydrochlorid berichtet, auch wenn diese Mengen eine
letale Dosis noch nicht erreichen.
Da der Wirkstoffgehalt getrockneter Schlafmohnkapseln stark schwankt,
kann es bei Aufnahme gleicher Mengen gemahlener Kapseln leichter zu unbe-
absichtigten Fehldosierungen kommen. Schlafmohnkapseln sind ohne aufwän-
dige Verarbeitung und Aufreinigung nur für die orale Aufnahme geeignet.
Im Vergleich zu injiziertem Morphin sind Schlafmohnkapseln weniger ge-
fährlich, weil deren orale Aufnahme eine langsamere Resorption zur Folge hat
und die primäre Leberpassage zu einem First-Pass-Effekt führt; d.h. der Wirk-
stoff steht dem Körper nach Abschluss des Leberstoffwechsels nicht mehr in
vollem Umfang zur Verfügung (sog. reduzierte Bioverfügbarkeit). Die Biover-
fügbarkeit bei oraler Aufnahme gemahlener Kapseln mit Hilfe von Flüssigkeit
beträgt ca. 20 %, d.h. nur etwa 20 % des Wirkstoffs erreichen nach Passage
von Darm und Leber den Wirkort. Die parenterale Applikation von Morphin (in-
travenös, subkutan oder intramuskulär injiziert) ist gefährlicher als die orale Ap-
plikation, weil sie nicht zu einem Wirkstoffverlust führt und einen schnellen
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Wirkeintritt hat („Kick“). Intravenös angewendete Opiate/Opinoide werden des-
halb als mindestens doppelt so gefährlich eingeschätzt wie oral applizierte.
Bei Rauchopium tritt keine Minderung der Bioverfügbarkeit ein, weil die
Passage über den Magen-Darm-Trakt und die Leber umgangen wird; der Wirk-
stoff flutet schnell an. Allerdings verbrennt ein schwer zu beziffernder Anteil.
Die Gefährlichkeit von Schlafmohnkapseln ist im Vergleich zu Heroin,
das den gleichen Wirkmechanismus hat, wesentlich geringer einzustufen, da
Schlafmohnkapseln nur oral aufgenommen werden können, ein deutlich gerin-
geres suchterzeugendes Potential haben und es nicht wie bei Heroin zu einer
extrem schnellen Wirkstoffanflutung kommt.
Kokain und Methamphetamin sind im Vergleich zu oral applizierten Opia-
ten gefährlicher.
Der Konsum von Cannabis kann unabhängig von der Dosierung keine
letalen Folgen haben, aber Drogenpsychosen auslösen. Gerauchtes Cannabis
kann die Lungenfunktion beeinträchtigen. Cannabis besitzt nur ein gering aus-
geprägtes Abhängigkeitspotential.
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Für Cannabisprodukte hat der BGH einen Grenzwert von 7,5 g Tetrahyd-
rocannabinol (500 Konsumeinheiten zu je 15 mg, vgl. BGH, Urteil vom 18. Juli
1984
– 3 StR 183/84, BGHSt 33, 8, 14) festgesetzt, aber darauf hingewiesen,
dass
„die hohe Zahl von 500 durchschnittlichen Konsumeinheiten wegen der
berücksichtigten Unsicherheitsfaktoren nicht ohne weiteres auch für die Be-
rechnung der nicht geringen Menge anderer Betäubungsmittel angewendet
werden kann“. Cannabis und Opium sind auch deshalb kaum miteinander ver-
gleichbar, da sie unterschiedliche Wirkmechanismen haben.
Unter den Betäubungsmitteln bietet sich deshalb am ehesten ein Ver-
gleich des oralen Konsums von Schlafmohnkapseln mit Morphin an, da hier
vom gleichen Wirkmechanismus ausgegangen werden kann.
d) Eine als äußerst gefährlich zu bezeichnende, potentiell einen Atem-
stillstand auslösende Menge kann nicht exakt angegeben werden, weil die
Bioverfügbarkeit bei oraler Aufnahme von verschiedenen Faktoren, insbeson-
dere auch der Konstitution des Konsumenten abhängt, und daher unterschied-
lich ist. Hinzu kommt der geringe Wirkstoffgehalt von Schlafmohnkapseln, der
eine exakte Bestimmung der letalen Dosis weiter erschwert.
Bei oral in Tabletten aufgenommenem Morphin liegt die äußerst gefährli-
che Dosis zwischen 250 und 1000 mg Morphinhydrochlorid. In der Annahme
einer verzögerten und unvollständigen Freisetzung des Morphins, das mittels
getrockneter, gemahlener und mit Wasser versetztem Pulver eingenommen
wurde, erhöht sich die „äußerst gefährliche“ Menge weiter. Eine weitere Erhö-
hung würde sich ergeben, wenn Codein und andere in den Kapseln enthaltene
Alkaloide den Effekt von Morphin teilweise ausgleichen könnten. Verlässliche
Grenzen für eine letale Dosis existieren nicht.
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e) Auch die durchschnittliche Konsumeinheit bei oral konsumierten
Schlafmohnkapseln lässt sich nicht ausreichend exakt bestimmen. Der Wirk-
stoffgehalt getrockneter Schlafmohnkapseln schwankt stark, abhängig von
Größe, Anbaugebiet, Erntezeitpunkt und anderen Faktoren. Auch bei der Art
und Menge der oralen Applikation gibt es unterschiedliche Konsumgewohnhei-
ten, beginnend mit der verwendeten Flüssigkeit (kaltes oder heißes Wasser,
Alkohol, Zugabe von Essig u.a.), die die Wasserlöslichkeit des Wirkstoffs beein-
flusst. Die von den Konsumenten eingenommenen Wirkstoffmengen sind eben-
falls unterschiedlich, da sie sich am kulturellen Hintergrund, an medizinischen
Erwartungen, an erwünschten betäubenden u.a. Effekten ausrichten.
f) In Ermangelung gesicherter Erkenntnisse zu einer äußerst gefährli-
chen oder gar tödlichen Dosis, zur Darreichungsform und zum Konsumverhal-
ten orientiert sich der Senat bei der Bestimmung des Grenzwerts der nicht ge-
ringen Menge des Wirkstoffs in Schlafmohnkapseln an der Festsetzung der
nicht geringen Menge für Morphinzubereitungen bei intravenöser Injektion
(BGH, Urteil vom 22. Dezember 1987
– 1 StR 612/87 – BGHSt 35, 179 - 183).
Hier besteht eine hohe Vergleichbarkeit, da Morphin das Hauptalkaloid von
Opium ist und mithin im Grundsatz identische Wirkmechanismen vorliegen.
Die "nicht geringe Menge" wurde für Morphinzubereitungen bei intrave-
nöser Injektion unter der Annahme von 45 äußerst gefährlichen Dosen (je
100 mg Morphinhydrochlorid intravenös injiziert) auf 4,5 g Morphinhydrochlorid
festgesetzt.
Der Wert kann allerdings nicht ohne Korrektur übernommen werden, da
sich für intravenös injiziertes Morphinhydrochlorid eine letale Dosis für den
Morphinungewohnten (100 mg
– intravenös injiziert – als äußerst gefährliche
Einzeldosis) festlegen ließ, während bei gemahlenen und oral aufgenommenen
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Schlafmohnkapseln eine als äußerst gefährlich zu bezeichnende, potentiell ei-
nen Atemstillstand auslösende und daher letale Dosis nicht exakt angegeben
werden kann. Zudem ist die intravenöse Applikation von Morphinhydrochlorid
mindestens doppelt so gefährlich wie die orale Applikation. Weiter ist zu be-
rücksichtigen, dass die Bioverfügbarkeit beim Konsum von gemahlenen
Schlafmohnkapseln nur 10 bis 20 % beträgt.
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Der Senat hält es deshalb für angemessen, den Grenzwert für intrave-
nös injiziertes Morphinhydrochlorid von 4,5 g Morphinhydrochlorid mit dem Fak-
tor 2 zu multiplizieren, um die geringere Gefährlichkeit bei oraler Applikation
auszugleichen und mit dem Faktor 10 zu multiplizieren, um die geringe Biover-
fügbarkeit bei Schlafmohnkapseln zu erfassen. Der stark schwankende Wirk-
stoffgehalt der Schlafmohnkapseln wird durch einen Abschlag berücksichtigt.
4. Der Angeklagte G. wusste, dass die Schlafmohnkapseln die Ei-
genschaften eines Rauschgifts aufwiesen. So war ihm bekannt, dass das Ab-
setzen der Kapseln zu Entzugserscheinungen führt. Ein Tatbestandsirrtum
nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB scheidet daher aus, weil der Angeklagte auch in
seiner Laienspähre erkannt hat, dass es sich um Betäubungsmittel handelte.
Sein Irrtum bezog sich deshalb allein darauf, ob das von ihm erworbene Betäu-
bungsmittel in Deutschland verboten ist. Dies berührt aber
– wie das Landge-
richt zutreffend ausgeführt hat
– nur die Frage eines etwaigen Verbotsirrtums
(§ 17 StGB), lässt aber den Vorsatz unberührt.
5. Der Angeklagte handelte auch schuldhaft.
Soweit das Landgericht einen Verbotsirrtum des Angeklagten als ver-
meidbar gemäß § 17 StGB angesehen hat, hält dies rechtlicher Überprüfung
stand.
Zwar hatte der Angeklagte G. vorgetragen, er sei davon ausgegan-
gen, dass die Kapseln in Deutschland legal seien, da er sie in Österreich habe
legal erwerben können. Allerdings hatte die Beweisaufnahme ergeben, dass
die Kapseln in Österreich nur zu Dekorationszwecken erlaubt sind und hierauf
wie der polizeiliche Ermittlungsbeamte berichtet hatte
– in dem Geschäft hin-
gewiesen worden war. In Deutschland wurden sie überhaupt nicht verkauft, was
Anlass für die Einkaufsfahrt gewesen war. Die Kammer hat deshalb ohne
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Rechtsfehler in ihre Überzeugungsbildung eingestellt, dass dies den Angeklag-
ten hätte misstrauisch machen und zur Einholung weiterer Informationen hätte
veranlassen müssen.
6. Die (Neu)Festsetzung der nicht geringen Menge durch den Senat lässt
den Schuldspruch unberührt. Das Landgericht ist im Ergebnis zu Recht davon
ausgegangen, dass das in den Schlafmohnkapseln enthaltene Morphinhydro-
chlorid die Grenze zur nicht geringen Menge i.S.v. § 29a Abs. 1 Nr. 2, § 30
Abs. 1 BtMG überschritten hat.
7. Jedoch hat der Strafausspruch angesichts dessen, dass der Grenz-
wert bei weitem nicht um das 94-fache überschritten worden ist, keinen Be-
stand. Eine starke Überschreitung der nicht geringen Menge ist bestimmender
Strafschärfungsgrund (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Februar 2016
– 2 StR
39/16, NStZ-RR 2016, 141; vom 30. Juni 2016
– 2 StR 476/15 und vom
27. September 2016
– 2 StR 41/16).
Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass sich das neu zur Entschei-
dung berufene Tatgericht bei der Prüfung einer Strafrahmenverschiebung nach
§ 17 Satz 2, § 49 Abs. 1 StGB eingehender als bisher damit zu befassen haben
wird, ob
der Irrtum tatsächlich „auf einfachste Weise“ zu vermeiden war.
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8. Der Senat hebt mit Rücksicht auf die seit dem Urteil des Landgerichts
verstrichene Zeit und die deutlich abweichende Einstufung der Gefährlichkeit
oral applizierter Schlafmohnkapseln durch den Senat auch die Maßregel (ein-
schließlich des Vorwegvollzugs) auf, da im Rahmen der (neuen) Prüfung des
§ 64 StGB eine andere Beurteilung des Hangs und eine andere Gefährlich-
keitsprognose möglich erscheinen.
III.
1. Der Schuldspruch des Angeklagten U. wegen Beihilfe zur uner-
laubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge ist frei von
Rechtsfehlern.
2. Die Verurteilung wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht ge-
ringer Menge hat keinen Bestand.
Besitz im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes setzt ein tatsächliches
Innehaben, ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis und Besitzwillen voraus, der
darauf gerichtet ist, sich die Möglichkeit ungehinderter Einwirkung auf die Sa-
che zu erhalten (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 3. März 1978
– 2 StR 717/77,
BGHSt 27, 380, 382 und vom 22. Januar 1998
– 4 StR 393/97, NStZ-RR 1998,
148 f.; Beschlüsse vom 2. September 1994
– 2 StR 429/94, BGHR BtMG § 29
Abs. 1 Nr. 3 Besitz 2; vom 15. Oktober 1997
– 2 StR 393/97, BGHR BtMG § 29
Abs. 1 Nr. 3 Besitz 4 und vom 27. Juli 2004
– 3 StR 71/04, BGHR BtMG § 29
Abs. 1 Nr. 3 Besitz 5 mwN). Die den Besitz von Betäubungsmitteln begründen-
de tatsächliche Verfügungsmacht über das Rauschgift hat es dem Täter zu er-
möglichen, mit den Betäubungsmitteln nach Belieben zu verfahren, insbeson-
dere sie zu verbrauchen, abzugeben, zu verstecken oder zu vernichten. Aus
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dieser Sicht begründet es keinen sachlichen Unterschied, ob der Täter selbst
„unmittelbar besitzt“ oder ob er anderweit einen so sicheren Zugang zu dem an
irgendeiner Stelle verwahrten Rauschgift hat, dass er ohne Schwierigkeit tat-
sächlich darüber verfügen kann (BGH, Urteil vom 3. März 1978
– 2 StR 717/77,
BGHSt 27, 380, 382). Solches belegen die Feststellungen nicht.
a) Der Angeklagte U. hatte keinen ungehinderten Zugang und damit
auch keine sichere Zugriffsmöglichkeit auf den ihm zustehenden Anteil von et-
wa 15 kg, den der Angeklagte G. in seinem Anwesen an einem ihm nicht
bekannten Ort verwahrte. Er war auf dessen Anwesenheit und Kooperation an-
gewiesen, ihm entweder den Zutritt zum Haus und seinem Anteil zu gewähren
oder ihm diesen auszuhändigen.
Der aufgezeigte Mangel zwingt nicht zur Aufhebung der für sich gesehen
rechtlich nicht zu beanstandenden Verurteilung wegen Beihilfe zur unerlaubten
Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Lediglich die tateinheit-
liche Verurteilung wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge entfällt.
b) Unmittelbaren Besitz hatte der Angeklagte U. jedoch an den in
seiner Wohnung sichergestellten 42,4 g gemahlener Schlafmohnkapseln. Die-
sen unmittelbaren Besitz hatte er in dem Moment begründet, als ihm der Ange-
klagte G. diese oder eine diese Teilmenge umfassende größere Menge
ausgehändigt hat. Damit hat er sich des unerlaubten Besitzes von Betäu-
bungsmitteln schuldig gemacht, der mit der Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von
Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tatmehrheit (§ 53 StGB) steht.
c) Diese Tat in der Anklageschrift nach Tatzeit, Tatort und Betäubungs-
mittelmenge
– als unmittelbarer Besitz zur Zeit der Durchsuchung – konkreti-
siert. In der rechtlichen Würdigung wird dem Angeklagten U. sein zunächst
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vollständig bei dem Angeklagten G. verwahrter, einschließlich der später
ausgehä
ndigten Teilmenge von 42,4 g, Anteil als unerlaubter („mittelbarer“)
Besitz von etwa 15 kg Betäubungsmitteln zugerechnet. Aus rechtlichen Grün-
den kann ihm jedoch nur die bei ihm selbst sichergestellte Teilmenge zuge-
rechnet werden.
Die umfassende Kognitionspflicht (§ 264 Abs. 1 StPO) des Gerichts ge-
bietet es jedoch, die Anklage, wie sie im Eröffnungsbeschluss zugelassen ist,
vollständig zu erschöpfen, also die den Untersuchungsgegenstand bildende
angeklagte Tat restlos nach allen tatsächlichen (§ 244 Abs. 2 StPO) und denk-
baren rechtlichen (§ 265 StPO) Gesichtspunkten aufzuklären und abzuurteilen
ohne Rücksicht auf die der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss zugrunde
gelegte rechtliche Bewertung (vgl. z.B. BGH, Urteile vom 12. Juli 2016
– 1 StR
595/15 und vom 11. November 2015
– 1 StR 235/15, NStZ-RR 2016, 47 - 49;
Beschluss vom 24. September 2009
– 3 StR 280/09, StV 2010, 131 f.;
d) Soweit der Angeklagte U. auch an weiteren Tagen durch die Ent-
gegennahme der ihm wunschgemäß von dem Angeklagten G. ausgehän-
digten Mengen an Schlafmohnkapseln Besitz an Betäubungsmitteln begründet
und damit jeweils den Tatbestand des unerlaubten Besitzes von Betäubungs-
mitteln erfüllt hat, waren diese als selbständige prozessuale Taten zu wertende
Geschehen nicht Gegenstand der Anklage. Eine Ergänzung des Schuldspruchs
ist daher nicht möglich.
Der Gegenstand der gerichtlichen Untersuchung und Entscheidung
reicht nur soweit wie der aus der Anklageschrift erkennbare Verfolgungswille
der Anklagebehörde. Enthält die Anklageschrift mehrere Taten, sind nur dieje-
nigen angeklagt, auf die sich der aus der Anklageschrift zu entnehmende Ver-
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folgungswille der Staatsanwaltschaft bezieht. Wichtiger Hinweis ist dabei die
Aufnahme des tatsächlichen Geschehens in den Anklagesatz. Ob aus der
Schilderung eines konkreten Geschehens im Anklagesatz der Verfolgungswille
der Staatsanwaltschaft entnommen werden kann, ist mit Blick auf sämtliche
vom Gesetz in § 200 Abs. 1 StPO vorgeschriebenen Bestandteile des Anklage-
satzes und die nach § 200 Abs. 2 StPO vorgesehenen Ausführungen zum we-
sentlichen Ergebnis der Ermittlungen zu entscheiden (vgl. BGH, Urteil vom
15. Mai 1997
– 1 StR 233/96, BGHSt 43, 96, 99 f.; vgl. LR/Stuckenberg, StPO,
26. Aufl., § 264 Rn. 35 mwN).
Danach erfasste die Anklage den Vorwurf weiterer Delikte des unerlaub-
ten Besitzes von Betäubungsmitteln nicht. Im Anklagesatz fehlen insoweit die
nach § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO erforderlichen Angaben zu den gesetzlichen
Merkmalen der Straftaten und zu der anzuwendenden Strafvorschriften. In der
Anklageschrift sind weitere Taten des unerlaubten Besitzes von Betäubungs-
mitteln weder nach Zeit, Ort noch Menge konkretisiert. Es wird lediglich mitge-
teilt, dass der Angeklagte G. dem Angeklagten U. , wenn dieser Bedarf
an Kapseln hatte, ihm (gemahlene) Kapseln mit in den von beiden besuchten
Si. -Tempel in N. brachte oder sie der Angeklagte U. bei ihm abhol-
te. Auch wird der Sachverhalt im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen nicht
3. Der Strafausspruch beruht auf dem mitabgeurteilten unerlaubten Be-
sitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 29a Abs. 1 BtMG,
da das Landgericht die festzusetzende Strafe gemäß § 52 Abs. 2 StGB aus
diesem Tatbestand und nicht dem des über § 27 Abs. 2 Satz 2, § 49 Abs. 1
Nr. 3 StGB gemilderten Strafrahmen des § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG entnommen
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hat. Aus diesem Grund ist auch die festgesetzte Einzelstrafe und damit der
Strafausspruch mitaufzuheben.
IV.
Die bisherigen Feststellungen können bestehen bleiben, nachdem es
sich lediglich um Wertungsfehler handelt. Das neu zur Entscheidung berufene
Tatgericht darf
– dies betrifft insbesondere die Prüfung einer Strafrahmenver-
schiebung nach § 17 Satz 2, § 49 Abs. 1 StGB bei dem Angeklagten G.
ergänzende Feststellungen treffen, soweit sie den bisher getroffenen nicht wi-
dersprechen.
Raum Graf Jäger
Radtke Fischer
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