Urteil des BGH vom 09.08.2016

Diplom, Einverständnis, Behandlung, Rüge

ECLI:DE:BGH:2016:090816B1STR334.16.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 334/16
vom
9. August 2016
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. August 2016 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO nach Anhörung des Beschwerdeführers und des General-
bundesanwalts
– zu Ziffer 2 auf dessen Antrag – beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landge-
richts Deggendorf vom 10. März 2016 im Strafausspruch mit
den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurück-
verwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von
Kindern in 17 tatmehrheitlichen Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit
Herstellen von kinderpornographischen Bildaufnahmen, zu einer Gesamtfrei-
heitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine auf die Verlet-
zung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat mit einer Verfah-
rensrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4
StPO); im Übrigen ist die Revision unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2
StPO.
1. Der Angeklagte beanstandet zu Recht eine Verletzung des § 250
StPO durch Verlesung einer Stellungnahme einer Diplom-Psychologin, bei der
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die Geschädigte wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung in Behand-
lung war.
a) Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Im Vorfeld der Hauptverhandlung ist auf Anordnung der Vorsitzenden die
Stellungnahme der Diplom-Psychologin, die als Sachverständige nicht allge-
mein vereidigt war, dem Verteidiger zur Kenntnis gebracht worden. Diese Stel-
lungnahme befasste sich mit dem Inhalt der Behandlung der Geschädigten in
ihrer Praxis sowie den Diagnosen und Tatfolgen. Zugleich ist durch die Vorsit-
zende mitgeteilt worden, dass das Gericht beabsichtige, „die Tatfolgen durch
Verlesung der
beigefügten Stellungnahme festzustellen“. In der Hauptverhand-
lung ist diese Stellungnahme sodann verlesen worden, ohne dass Erörterungen
hierzu stattgefunden hätten. Eine Beanstandung als unzulässig erfolgte nicht.
Von keinem Verfahrensbeteiligten ist ein Einverständnis zur Verlesung erteilt
worden. Es ist weder ein Grund für die Verlesung angegeben, noch ist ein Be-
schluss hierzu gefasst worden. Die Diplom-Psychologin ist nicht in der Haupt-
verhandlung vernommen worden.
Im Urteil ist ausgeführt, dass die Feststellungen hinsichtlich der belas-
tenden Tatfolgen für die Geschädigte auf dem Attest der Diplom-Psychologin
beruhten und diese Folgen strafschärfend zu berücksichtigen seien.
b) Die Rüge ist zulässig. Der Angeklagte hat einen Sachverhalt vorgetra-
gen, der es dem Revisionsgericht ohne weiteres ermöglicht, allein aufgrund
seines Vortrags zu überprüfen, ob der gerügte Rechtsfehler vorliegt, wenn die
behaupteten Tatsachen erwiesen werden (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom
14. Oktober 2014
– 3 StR 167/14, wistra 2015, 148 und vom 29. April 2015
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– 1 StR 235/14, NStZ-RR 2015, 278; Urteil vom 15. Dezember 2015 – 1 StR
236/15). Damit sind die Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erfüllt.
Insbesondere bedurfte es entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts
nicht des Vortrags, dass die vor der Hauptverhandlung erfolgte Mitteilung zur
beabsichtigten Verlesung auch an Staatsanwaltschaft und Nebenklägervertre-
ter erfolgt ist. Denn die Frage, ob eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrund-
satzes vorlag, kann von der vor der Hauptverhandlung erfolgten und in dieser
auch nicht wieder thematisierten bloßen Ankündigung, etwas verlesen zu wol-
len, nicht beeinflusst werden. Zumal diese Absichtserklärung ohne Angabe
eines Verlesungsgrundes erfolgte.
c) Die Rüge zeigt auch einen Rechtsfehler auf. Die Verlesung der Stel-
lungnahme im Wege des Urkundsbeweises war nicht zulässig. Die Vorausset-
zungen der die vernehmungsersetzende Verlesung ausnahmsweise gestatten-
den § 251 Abs. 1 StPO oder § 256 StPO lagen nicht vor; einer Beanstandung
nach § 238 Abs. 2 StPO bedurfte es nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Okto-
ber 2011
– 3 StR 315/11, NStZ 2012, 585).
aa) Schon die Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO liegen
nicht vor. Ein Einverständnis mit der Verlesung ist weder vom Angeklagten oder
seinem Verteidiger noch seitens der Staatsanwaltschaft ausdrücklich erteilt
worden. Eine stillschweigende Zustimmung liegt nicht vor. Eine solche kommt
überhaupt nur in Betracht, wenn auf Grund der vorangegangenen Verfahrens-
gestaltung davon ausgegangen werden darf, dass sich alle Verfahrensbeteilig-
ten der Tragweite ihres Schweigens bewusst waren (BGH, Beschluss vom
12. Juli 1983
– 1 StR 174/83, NJW 1984, 65 f.; OLG Köln, Beschluss vom
15. September 1987
– Ss 450/87, NStZ 1988, 31; vgl. auch BGH, Urteil vom
17. Mai 1956
– 4 StR 36/56, BGHSt 9, 230, 232 f.; Löwe/Rosenberg-Sander/
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Cirener, StPO, 26. Aufl., § 251 Rn. 22 mwN). Daran fehlt es hier. Zu keinem
Zeitpunkt ist eine auf § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO gestützte oder durch Einver-
ständnis legitimierte Verlesung thematisiert worden. Auch ist die Anordnung
entgegen § 251 Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO vom Gericht nicht beschlossen und
der Grund der Verlesung nicht bekanntgegeben worden. Damit konnte dem
Angeklagten und dem Verteidiger aber unter keinen Umständen bewusst sein,
dass es entscheidend auf ihre Zustimmung ankommen könnte. Allein ihr
Schweigen auf eine Verlesung kann daher nicht dahin gedeutet werden, dass
sie mit der Verlesung einverstanden gewesen wären.
bb) Die Stellungnahme enthielt auch kein Zeugnis oder ein Gutachten
einer öffentlichen Behörde (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 a StPO), eines allgemein verei-
digten Sachverständigen (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 b StPO) oder eines Arztes (§ 256
Abs. 1 Nr. 1 c, Nr. 2 StPO).
2. a) Der Senat kann jedoch ein Beruhen des im Übrigen revisionsrecht-
lich nicht zu beanstandenden Schuldspruchs auf diesem Rechtsfehler aus-
schließen. Das Landgericht hat die Stellungnahme für seine diesbezügliche
Überzeugung nicht herangezogen, sondern sich insoweit auf andere gewichtige
Beweismittel, u.a. das weitreichende Geständnis des Angeklagten, gestützt.
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b) Der gesamte Strafausspruch kann hingegen wegen des Rechtsfehlers
keinen Bestand haben. Denn die Strafzumessung ist ausweislich der Urteils-
gründe maßgeblich durch die Tatfolgen, wie sie sich nur aus der Stellungnah-
me der Diplom-Psychologin ergeben, beeinflusst.
Graf Cirener Radtke
Mosbacher Fischer
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