Urteil des BGH vom 22.09.2016

Gesamtstrafe, Urkunde, Auflösung, Fälschung

ECLI:DE:BGH:2016:220916B1STR316.16.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 316/16
vom
22. September 2016
in der Strafsache
gegen
wegen Betruges
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerde-
führers und des Generalbundesanwalts
– zu 3. auf dessen Antrag – am
22. September 2016 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landge-
richts Kempten (Allgäu) vom 18. Januar 2016 mit den zugehö-
rigen Feststellungen aufgehoben,
a) im Schuldspruch, soweit der Angeklagte im Fall II. 2. der
Urteilsgründe wegen Betruges verurteilt worden ist und
b) im Gesamtstrafenausspruch.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückver-
wiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten
– unter Freispruch im Übrigen –
wegen Betruges in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren
und drei Monaten sowie zur Zahlung von 15.000 Euro an den Adhäsionskläger
verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung
formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit
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einer Verfahrensrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg
(§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es gemäß § 349 Abs. 2 StPO unbegründet.
1. Der Verfahrensrüge, mit der die Verletzung des § 261 StPO geltend
gemacht wird, liegt folgendes Geschehen zugrunde: Das Landgericht hat die
Bestätigung der türkischen A. AG vom 16. Mai 2011, die dem Geschädig-
ten vorgelegt wurde, als Fälschung angesehen. Den Inhalt der Urkunde hat es
– so die dienstliche Erklärung der beteiligten Berufsrichter – durch Vorhalt im
Rahmen der Vernehmung des Geschädigten, wie auch durch förmliche Verle-
sung eingeführt.
Im Rahmen der Beweiswürdigung gewinnt das Landgericht aufgrund ei-
ner „Inaugenscheinnahme“ der Urkunde die Überzeugung, dass es sich um
eine Fälschung handele. Gestützt werde dies zudem durch den Vergleich mit
einer einem anderen Zeugen vorgelegten „Bankbestätigung“, die sich im weite-
ren Verlauf ebenso als Fälschung herausgestellt habe.
2. Die zulässig erhobene Rüge ist begründet, weil ein Augenschein der
Urkunde nicht stattgefunden hat. Damit hat das Landgericht § 261 StPO ver-
letzt.
a) Für die richterliche Überzeugung des Landgerichts waren das äußere
Erscheinungsbild und die Beschaffenheit der vorgenannten Urkunden maßgeb-
lich. Insoweit handelte es sich bei den Urkunden aber um Gegenstände
des Augenscheins (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. April 1999
– 1 StR 107/99,
NStZ 1999, 424; vom 30. August 2011
– 2 StR 652/10,
NJW 2011, 3733 und
vom 12. Dezember 2013
– 3 StR 267/13, NStZ 2014, 606 [607];
MünchKommStPO/Miebach, 1. Aufl., § 261 StPO, Rn. 47), die prozess-
ordnungsgemäß durch Inaugenscheinnahme in die Hauptverhandlung hätten
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eingeführt werden müssen. Eine solche ist nicht erfolgt. Die Verlesung der Ur-
kunde oder ihr Vorhalt im Rahmen der Zeugeneinvernahmen betreffen allein
ihren Inhalt, nicht aber ihr äußeres Erscheinungsbild. Dies gilt im besonderen
Maße für den äußerlichen Vergleich von verschiedenen Personen vorgelegten
Urkunden.
b) Auf diesem Verfahrensfehler beruht das Urteil zu Ziff. II. 2. der Gründe
(Betrug zum Nachteil des Geschädigten L. ). Das Landgericht hat die
Überführung des Angeklagten jedenfalls auch auf die aus dem äußeren Er-
scheinungsbild gezogenen Schlussfolgerungen gestützt.
3. Infolgedessen waren insoweit der Schuldspruch nebst den zugehöri-
gen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO) aufzuheben. Die teilweise Aufhebung
des Schuldspruchs zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich.
4. Darüber hinaus erweist sich die unterbliebene nachträgliche Gesamt-
strafenbildung des Landgerichts als rechtsfehlerhaft. Die weiteren Einzelstrafen
sind von dem Verfahrensfehler nicht berührt und können deshalb bestehen
bleiben.
Hierzu hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift ausgeführt:
„Das Urteil hat hingegen keinen Bestand, soweit es das Landge-
richt abgelehnt hat (UA S. 42), unter Auflösung der Gesamtfrei-
heitsstrafe und Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil
des Amtsgerichts Kempten vom 15. Januar 2015 (UA S. 5)
nachträglich eine Gesamtstrafe zu bilden (§ 55 Abs. 1 Satz 1
StGB). Es ist davon ausgegangen, das Urteil des Amtsgerichts
Gießen vom 15. April 2013 entfalte Zäsurwirkung. Das trifft nicht
zu. Dieses Urteil hat gesamtstrafenrechtlich keine eigenständige
Bedeutung, da die diesem Urteil zugrundeliegende Straftat
schon durch die Entscheidung des Amtsgerichts Landshut vom
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26. Oktober 2010 hätte geahndet werden können (UA S. 4).
Deshalb ist das Urteil vom 15. April 2013 als auf die Entschei-
dung vom 26. Oktober 2010 zurückprojiziert zu behandeln, so
dass es keine Zäsur bilden kann (vgl. Senat, Beschluss vom
26. März 2003
– 1 StR 79/03 m.w.N.). Folgerichtig hat auch das
Amtsgericht Gießen unter Einbeziehung der Geldstrafe aus der
Entscheidung des Amtsgerichts Landshut eine Gesamtfreiheits-
strafe von neun Monaten ausgesprochen (UA S. 4).
Da die im vorliegenden Verfahren abgeurteilten Taten des An-
geklagten vor seiner Verurteilung durch das Amtsgericht Kemp-
ten vom 15. Januar 2015 begangen worden sind, lagen mit Ein-
tritt der Rechtskraft dieser Verurteilung am 29. September 2015
die Voraussetzungen des § 55 StGB vor, so dass die Strafkam-
mer über die nachträgliche Bildung einer neuen Gesamtstrafe
unter Auflösung der Gesamtfreiheitsstrafe und Einbeziehung der
Einzelstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Kempten vom
15.
Januar 2015 hätte befinden müssen.“
Dem schließt sich der Senat an.
Der neue Tatrichter wird deshalb unter Auflösung der Gesamtfreiheits-
strafe und Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts
Kempten vom 15. Januar 2015 gemäß § 55 StGB nachträglich eine Gesamt-
strafe zu bilden haben. Dies gilt selbst für den Fall, dass die früher verhängte
Strafe zwischenzeitlich erledigt sein sollte, weil insoweit die Vollstreckungssitua-
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tion zum Zeitpunkt der ersten tatrichterlichen Verhandlung maßgeblich ist (st.
Rspr.; vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 5. Juli 2011
– 3 StR 188/11, NStZ-RR
2011, 306 und vom 20. Dezember 2011
– 3 StR 374/11, NStZ-RR 2012, 106
jeweils mwN).
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Fischer Bär