Urteil des BGH vom 22.11.2005

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 126/04 Verkündet
am:
22. November 2005
Böhringer-Mangold,
Justizhauptsekretärin
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
BGB § 180, § 286 a.F.
a) Ein Arzt kann haften, wenn es aufgrund der verzögerten Erstellung eines ärztli-
chen Zeugnisses nicht zum Abschluss einer Risikolebensversicherung kommt,
weil der Patient inzwischen gestorben ist.
b) Mahnt eine Versicherung an Stelle des Versicherungsnehmers die Übersendung
eines ärztlichen Attestes an, bedarf es einer Bevollmächtigung durch diesen.
BGH, Urteil vom 22. November 2005 - VI ZR 126/04 - OLG Karlsruhe
LG Heidelberg
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 22. November 2005 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter
Wellner, die Richterin Diederichsen und die Richter Stöhr und Zoll
für Recht erkannt:
Auf die Rechtsmittel des Beklagten werden das Urteil des 1. Zivil-
senats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 2. April 2004
aufgehoben, das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Hei-
delberg vom 26. September 2003 abgeändert und die Klage ins-
gesamt abgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits und die durch die
Nebenintervention des Streithelfers des Beklagten verursachten
Kosten zu tragen. Die durch die Nebenintervention des Streithel-
fers der Klägerin entstandenen Kosten trägt dieser selbst.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin verlangt vom Beklagten Schadensersatz, weil dieser wegen
der verspäteten Übersendung eines ärztlichen Zeugnisses dafür verantwortlich
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sei, dass ein Lebensversicherungsvertrag mit der K. H. AG nicht mehr vor dem
Tod ihres Mannes abgeschlossen werden konnte.
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Die Klägerin und ihr Ehemann beabsichtigten Anfang 2001, ein Einfami-
lienhaus zu errichten. Zur Absicherung des erforderlichen Kredits verlangte die
finanzierende Bank den Abschluss einer Risikolebensversicherung über
400.000 DM, die der Ehemann der Klägerin am 27. April 2001 bei der K. H. AG
beantragte. Versicherungsbeginn sollte der 1. Mai 2001 sein; die Klägerin war
als Bezugsberechtigte der Versicherungsleistung genannt.
Nachdem die K. H. AG dem Ehemann ein entsprechendes Formular zu-
gesandt hatte, begab sich dieser am 16. Juli 2001 zu seinem Hausarzt, dem
Streithelfer der Klägerin, der eine Gemeinschaftspraxis mit dem Streithelfer des
Beklagten betreibt. Der Hausarzt übersandte der K. H. AG das mit Datum
16. Juli 2001 ausgefüllte "Ärztliche Zeugnis" und fügte unter "Bemerkungen"
hinzu: "Bei Rückfragen bezüglich der kardialen Befunde bitte an Kardiologen
Dr. L. (Beklagter) in H. wenden." Der Ehemann suchte am 17. Juli 2001 den
Beklagten auf, der ihn untersuchte und unter dem 27. Juli 2001 einen Bericht an
die Streithelfer übersandte.
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Mit Schreiben vom 3. August 2001, dessen Zugang der Beklagte bestrei-
tet, bat der Gesellschaftsarzt der K. Versicherungen den Beklagten unter Hin-
weis auf den Lebensversicherungsantrag und eine erfolgte Entbindung von der
Schweigepflicht um Beantwortung "beiliegender Fragen". Unstreitig erhielt der
Beklagte zwei Schreiben der K. H. AG vom 22. August und 13. September
2001, in denen er unter Hinweis auf das erbetene hausärztliche Zeugnis gebe-
ten wurde, den Bericht so schnell wie möglich zu übersenden, da die Versiche-
rung ohne das Zeugnis die Risikobeurteilung nicht abschließen möchte. Der
Beklagte fertigte am 20. Oktober 2001 einen ärztlichen Bericht, der inhaltlich
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dem bereits an die Streithelfer übermittelten entsprach, und übersandte ihn an
die K. H. AG. Diese unterbreitete daraufhin am 31. Oktober 2001 ein gegenüber
dem Normaltarif um einen Risikozuschlag von monatlich 140 DM erhöhtes An-
gebot. Zu einem Vertragsschluss kam es nicht, weil der Ehemann am
30. Oktober 2001 verstorben war.
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Die Klägerin hat zunächst die K. H. AG in Anspruch genommen. Der
Rechtsstreit endete mit einem Vergleich, in dem sich diese zur Zahlung von
102.000 € verpflichtete. Im vorliegenden Rechtsstreit begehrt die Klägerin
102.516,75 €. Das Landgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben.
Die Berufung des Beklagten blieb ohne Erfolg. Mit seiner vom erkennenden
Senat zugelassenen Revision begehrt er weiter die vollständige Abweisung der
Klage.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht ist der Auffassung, der Klägerin stehe gegen den
Beklagten ein Anspruch aus § 286 BGB a.F. zu. Der Beklagte sei mit der Erfül-
lung einer Nebenpflicht aus dem Behandlungsvertrag in Verzug geraten. Die
Behandlung sei zwar nach der Untersuchung und Übersendung der Diagnose
an den Streithelfer der Klägerin zunächst abgeschlossen gewesen. Auch nach
Beendigung eines Vertragsverhältnisses könnten sich aber weitere Pflichten
aus der Vertragsbeziehung ergeben. Dies sei hier der Fall gewesen, als die
Versicherungsgesellschaft den Beklagten um ein Gesundheitszeugnis ersucht
habe. Auch wenn durch dieses Ersuchen und die spätere Übersendung durch
den Beklagten ein vertragliches Verhältnis zwischen dem Beklagten und der
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K. H. AG, zustande gekommen sei, sei der Beklagte zusätzlich aus dem frühe-
ren Behandlungsvertrag mit dem Ehemann der Klägerin verpflichtet gewesen,
das Zeugnis auszustellen. Die Schreiben der Versicherung vom 22. August und
13. September 2001 hätten nämlich nicht nur eine im eigenen Namen vorge-
brachte Aufforderung enthalten, sondern gleichzeitig den Wunsch des Verstor-
benen nach einem weiteren Zeugnis über die Untersuchung vom 17. Juli 2001
zum Ausdruck gebracht. Infolge der gegebenen Dreieckskonstellation zwischen
dem Beklagten, dem Ehemann der Klägerin und der K. H. AG habe das Schrei-
ben vom 13. September 2001 auch eine Mahnung im Interesse und im Namen
des Ehemanns zur Erfüllung der Nebenpflicht aus dem Behandlungsvertrag
dargestellt. Daher habe sich der Beklagte jedenfalls seit dem 20. September
2001 in Verzug befunden.
Daneben lasse sich eine Haftung aus positiver Vertragsverletzung herlei-
ten. Der Beklagte habe nämlich die sich aus dem Behandlungsvertrag erge-
bende Nebenpflicht verletzt, das Zeugnis in angemessener Zeit zu erstellen.
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II.
Das Berufungsurteil hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht
stand.
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1. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Schadensersatz aus § 286 BGB
a.F. zu, weil der Beklagte nicht mit einer gegenüber ihrem Ehemann bestehen-
den Leistungspflicht in Verzug geraten ist.
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a) Entgegen der Auffassung der Revision ist allerdings nicht ausge-
schlossen, dass eine Haftung des Arztes besteht, wenn es aufgrund der verzö-
gerten Erstellung eines ärztlichen Zeugnisses nicht zum Abschluss einer Le-
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bensversicherung kommt, weil der Patient inzwischen gestorben ist und die An-
gehörigen deshalb keine Versicherungsleistungen erhalten (vgl. BGH, Urteil
vom 19. Februar 1981 - IV a ZR 98/80 - VersR 1981, 452, 453; Rieger/Krieger
in Rieger, Lexikon des Arztrechts, 2. Aufl., 2270 Rdn. 12 und 20; Andreas,
ArztR 1998, 209, 216). Zwar meint die Revision, ein Arzt habe nur für solche
Schäden einzustehen, die dadurch entstanden seien, dass das ärztliche Zeug-
nis nicht mehr aktuell gewesen sei bzw. den tatsächlichen aktuellen Gesund-
heitszustand nicht mehr wiedergegeben habe. Diese Einschränkung entspricht
jedoch nicht der Interessenlage, wenn - wie hier - das Attest zum Abschluss
einer Risikolebensversicherung benötigt wird, die der Absicherung eines Kredits
oder eines anderen konkreten wirtschaftlichen Risikos dient. In solchen Fällen
erscheint es nahe liegend, die wirtschaftlichen Interessen des Patienten in den
Schutzbereich der vertraglichen Verpflichtung des Arztes einzubeziehen, das
ärztliche Zeugnis innerhalb einer angemessenen Zeit zu erstellen. Eine solche
Verpflichtung ergibt sich aus § 25 der (Muster-) Berufsordnung für die deut-
schen Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä 1997/2000). Danach sind Gutachten und
Zeugnisse, zu deren Ausstellung der Arzt verpflichtet ist oder die auszustellen
er übernommen hat, innerhalb einer angemessenen Frist abzugeben. Diese
Standespflicht ist zugleich eine Rechtspflicht (vgl. Laufs/Uhlenbruck, Handbuch
des Arztrechts, 3. Aufl., § 53 Rdn. 2; Rieger/Krieger, aaO, 2270 Rdn. 12). Wel-
che Frist angemessen ist, kann dabei nicht generell, sondern nur nach den je-
weiligen Umständen des Einzelfalls beantwortet werden (vgl. OVG NRW
HeilBGE A 2.7 Nr. 36; VG Köln HeilBGE A 2.7 Nr. 39; Narr, Ärztliches Berufs-
recht, 13. Lieferung, Rdn. B 218).
b) Im Streitfall bedarf dies keiner Entscheidung. Denn der Beklagte hat
seine Vertragspflicht gegenüber dem verstorbenen Ehemann der Klägerin nach
den Feststellungen des Berufungsgerichts, welche die Revision als für sie güns-
tig hinnimmt, erfüllt, als er den Bericht mit Datum vom 27. Juli 2001, also
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10 Tage nach der Untersuchung des R. M. an den Streithelfer der Klägerin ü-
bermittelte. Ob durch das Ersuchen der K. H. AG vom 22. August 2001 eine
weitere oder erneute Vertragspflicht gegenüber R. M. begründet wurde, ein
ärztliches Zeugnis direkt an die K. H. AG zu übersenden, und ob diese, was die
Revision in Abrede stellt, im Zeitpunkt des Zugangs des Schreibens der K. H.
AG vom 13. September 2001 bereits fällig war, kann dahinstehen. Weiter muss
nicht entschieden werden, ob - wie die Revision meint - das vorgenannte
Schreiben bereits inhaltlich nicht den Anforderungen genügt, die an eine Mah-
nung zu stellen sind (vgl. etwa BGH, Urteil vom 10. März 1998 - X ZR 70/96 -
NJW 1998, 2132, 2123). Ein Schadensersatzanspruch der Klägerin aus § 286
BGB a.F. scheitert nämlich bereits daran, dass der Beklagte jedenfalls nicht mit
einer Leistungspflicht gegenüber dem Ehemann der Klägerin in Verzug geraten
ist. Ein solcher Verzug konnte schon deshalb nicht eintreten, weil das Schrei-
ben vom 13. September 2001, aus dem das Berufungsgericht die den Verzug
begründende Mahnung ableitet, nicht vom Ehemann der Klägerin, sondern von
der Versicherungsgesellschaft stammte. Um Verzug auszulösen, bedarf es aber
grundsätzlich einer Mahnung des Gläubigers des konkreten Anspruchs.
Zwar handelt es sich bei der Mahnung um eine sogenannte geschäfts-
ähnliche Handlung, auf die die Vorschriften über Rechtsgeschäfte und Willens-
erklärungen, also auch die Bestimmungen über die Stellvertretung entspre-
chend anwendbar sind, so dass die Mahnung auch von einem gesetzlichen o-
der bevollmächtigten Vertreter ausgehen kann (vgl. OLG Koblenz, NJW-RR
1992, 1093, 1094; OLG Bremen, FamRZ 1995, 1515; OLG Hamm, OLGR
1999, 302; MünchKommBGB/Thode, 4. Aufl., 2001, § 284 Rdn. 39; Staudin-
ger/Löwisch, BGB, Neubearbeitung 2004, § 286 Rdn. 48 m.w.N.). Die Klägerin
zeigt aber keine Umstände auf, aus denen sich eine Bevollmächtigung der K. H.
AG entnehmen ließe, einen dem Ehemann der Klägerin zustehenden Anspruch
gegen den Beklagten durchzusetzen. Eine solche liegt auch nicht in der Erklä-
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rung zur Entbindung von der Schweigepflicht im Versicherungsantrag. Dabei
handelt es sich nämlich nur um eine Ermächtigung des Versicherers, behan-
delnde Ärzte - wie den Beklagten - hinsichtlich des Gesundheitszustandes des
Versicherungsnehmers zu befragen. Damit soll ein eigenes Recht des Versi-
cherers begründet werden, erforderlichenfalls die vom Versicherten gemachten
Angaben durch Nachfrage bei den Ärzten zu überprüfen. Allein daraus ergibt
sich jedoch noch keine Bevollmächtigung zu einer Mahnung im Namen des
Versicherungsnehmers. Denn eine solche Überprüfung dient allein dem Ver-
tragsinteresse der Versicherung und kann im Einzelfall sogar den Interessen
des Ermächtigenden zuwider laufen.
Auch das Berufungsgericht stellt eine derartige Bevollmächtigung nicht
fest, sondern beschränkt sich darauf, die K. H. AG habe auch im Namen und
Interesse des Ehemanns der Klägerin gehandelt. Da die Schreiben vom
22. August und vom 13. September 2001 indes keine ausdrückliche Erklärung
enthalten, in dessen Namen zu handeln, ist im Hinblick auf § 164 Abs. 2 BGB
schon zweifelhaft, ob sich aus den Schreiben überhaupt ein Handeln in frem-
dem Namen entnehmen lässt. Jedenfalls fehlte es aber an der für eine wirksa-
me Stellvertretung erforderlichen Vertretungsmacht, so dass die Mahnung der
K. H. AG gemäß § 180 Satz 1 BGB grundsätzlich unwirksam ist (vgl. OLG Bre-
men, FamRZ 1995, 1515; OLG Koblenz, NJW-RR 1992, 1093, 1094; Münch-
KommBGB/Schramm, 4. Aufl., 2001, § 180 Rdn. 1; Staudinger/Schilken, BGB,
Neubearbeitung 2004, § 180 Rdn. 12). Selbst wenn man im Hinblick auf die
Ausführungen des Berufungsgerichts aufgrund des Schreibens der Versiche-
rung vom 13. September 2001 nach §§ 180 S. 2, 177 Abs. 1 BGB von einer
zunächst schwebend unwirksamen Mahnung ausginge, ergibt sich aus den ge-
troffenen Feststellungen nichts dafür, dass die in diesem Fall erforderliche Ge-
nehmigung der geschäftsähnlichen Handlung entsprechend § 177 BGB erteilt
worden wäre (vgl. OLG Bremen, FamRZ 1995, 1515; Soergel/Leptien, 13. Aufl.,
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1999, § 180 Rdn. 9 und 10; Staudinger/Schilken, BGB, Neubearbeitung 2004,
§ 180 Rdn. 4 und 6).
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2. Das angefochtene Urteil wird auch nicht von der Hilfsbegründung ge-
tragen, dass der Klägerin jedenfalls ein Anspruch aus positiver Vertragsverlet-
zung zustehe. Neben den §§ 284 ff. BGB a.F. bleibt für die Grundsätze der po-
sitiven Vertragsverletzung kein Raum, soweit die schuldhafte Verzögerung der
Leistung zu beurteilen ist. Sonst könnten die Verzugsvoraussetzungen, insbe-
sondere das Erfordernis der Mahnung, umgangen werden (vgl. BGHZ 11, 80,
83 f. sowie BGH, Urteile vom 19. Oktober 1977 - VIII ZR 42/76 - NJW 1978, 260
und vom 4. Juli 2001 - VIII ZR 279/00 - NJW 2001, 3114; Erman/Hager, BGB,
11. Aufl., § 286 Rdn. 12; MünchKommBGB/Thode, 4. Aufl., 2001, § 284 Rdn. 4;
Staudinger/Löwisch, BGB, Neubearbeitung 2001, Vorb. zu §§ 275-283 Rdn. 28,
36 und zu §§ 284-292 Rdn. 14; § 284 Rdn. 77).
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III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 91, 101 ZPO.
Müller Wellner Diederichsen
Stöhr Zoll
Vorinstanzen:
LG Heidelberg, Entscheidung vom 26.09.2003 - 4 O 34/03 -
OLG Karlsruhe, Entscheidung vom 02.04.2004 - 1 U 188/03 -