Urteil des BGH vom 19.06.2013

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 182/12
vom
19. Juni 2013
in der Wohnungseigentumssache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO § 511 Abs. 2 Nr. 1; WEG § 46 Abs. 1
Wird ein Mehrheitsbeschluss für ungültig erklärt, der Zahlungsansprüche
eines Wohnungseigentümers gegen die Wohnungseigentümergemeinschaft
verneint, ist der Nennbetrag dieser Ansprüche maßgeblich für die Beschwer
der übrigen Wohnungseigentümer.
BGH, Beschluss vom 19. Juni 2013 - V ZB 182/12 - LG Stuttgart
AG Crailsheim
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. Juni 2013 durch die
Vorsitzende
Richterin
Dr. Stresemann,
die
Richter
Dr. Lemke
und
Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss der
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Zivilkammer
des
Landgerichts
Stuttgart
vom
3. September 2012 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten
des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zu-
rückverwiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
1.911,88 €.
Gründe:
I.
Die Parteien sind die Mitglieder einer Wohnungseigentümergemein-
schaft. In der Eigentümerversammlung vom 24. Mai 2011 lehnten die Woh-
nungseigentümer mehrheitlich zwei Anträge der Klägerin ab. Diese hatten die
Ersatzpflicht der Wohnungseigentümergemeinschaft für Aufwendungen zum
Gegenstand, die der Klägerin im Zusammenhang mit der Behebung eines
Wasserschadens an ihrem (vermieteten) Sondereigentum entstanden waren.
Unter TOP 6 begehrte sie den Ersatz von Gutachterkosten in Höhe von
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1.211,88 € und unter TOP 7 den Ersatz von zwei ausgefallenen Monatsmieten
in Höhe von insgesamt 700 €.
Gegen beide Negativbeschlüsse wendet sich die Klägerin mit der An-
fechtungsklage. Das Amtsgericht hat die Beschlüsse für ungültig erklärt, weil
der Wohnungseigentümergemeinschaft die Kompetenz fehle, Schadensersatz-
ansprüche durch Mehrheitsbeschluss zu regeln. Die Berufung der Beklagten
hat das Landgericht mit dem angefochtenen Beschluss als unzulässig verwor-
fen. Dagegen wenden sich die Beklagten mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Das Berufungsgericht meint, die Beschwer der Beklagten sei nur mit
10 % des mit den Anträgen der Klägerin verlangten Betrags (191
€) zu veran-
schlagen; sie sei als äußerst gering einzuschätzen, weil sie spiegelbildlich dem
Interesse der Klägerin an der Ungültigkeit der Beschlüsse entspreche. Ebenso
wenig wie die Klägerin durch die Ungültigerklärung der Negativbeschlüsse eine
Kostenübernahme erreichen könne, könnten die Beklagten durch deren Be-
standskraft Ansprüche abwehren. Da es der Klägerin ohnehin freistehe, die An-
sprüche gerichtlich geltend zu machen, ändere sich die rechtliche Situation der
Beklagten durch einen Erfolg der Berufung nicht. Das Risiko einer Zahlung der
geforderten Beträge durch den Verwalter bestehe nicht, weil sich aus der Nich-
tigkeit der Beschlüsse keine Grundlage für eine solche Zahlung ergebe.
III.
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
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1. Sie ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit § 522
Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung
einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerde-
gerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO). Dieser Zulässigkeitsgrund ist
unter anderem dann gegeben, wenn das Berufungsgericht dem Rechtsmittel-
führer den Zugang zu der an sich gegebenen Berufung unzumutbar erschwert.
Eine solche Erschwerung liegt zwar nicht in jedem Fehler bei der Bemessung
der Beschwer und auch nicht in jeder Überschreitung des dem Gericht einge-
räumten Ermessens (vgl. zum Ganzen Senat, Beschlüsse vom 6. Oktober 2011
- V ZB 72/11, NJW-RR 2012, 82 Rn. 8; vom 31. März 2011 - V ZB 236/10, NZM
2011, 489 Rn. 4 und vom 20. Januar 2011 - V ZB 193/10, ZWE 2011, 174
Rn. 7 f. jeweils mwN). Hier hat das Berufungsgericht den Zugang zu der Beru-
fung aber deshalb unzumutbar erschwert, weil es die Beschwer aufgrund von
rechtlichen Erwägungen herabgesetzt hat, deren Prüfung der Begründetheit der
Berufung und damit der Entscheidung in der Sache vorbehalten ist.
2. Das Rechtsmittel ist begründet. Die Berufung durfte nicht als unzuläs-
sig verworfen werden, weil die Beschwer der Beklagten den Betrag von 600
übersteigt.
a) Maßgebend für den Wert des Beschwerdegegenstands (§ 511 Abs. 2
Nr. 1 ZPO) ist das Interesse des Berufungsklägers an der Abänderung des an-
gefochtenen Urteils; dieses ist unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu bewer-
ten. Dabei ist auch in wohnungseigentumsrechtlichen Verfahren allein auf die
Person des Rechtsmittelführers, seine Beschwer und sein Änderungsinteresse
abzustellen (Senat, Beschluss vom 9. Februar 2012 - V ZB 211/11, ZWE 2012,
224 Rn. 4 mwN). Entscheidend ist der rechtskraftfähige Inhalt der angefochte-
nen Entscheidung. Ohne Bedeutung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsmit-
tels.
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b) Letzteres hat das Berufungsgericht verkannt.
aa) Wird - wie hier - ein Mehrheitsbeschluss für ungültig erklärt, der Zah-
lungsansprüche eines Wohnungseigentümers gegen die Wohnungseigentü-
mergemeinschaft verneint, ist im Ausgangspunkt der Nennbetrag dieser An-
sprüche maßgeblich für die Beschwer der übrigen Wohnungseigentümer. Denn
infolge der Ungültigerklärung fehlt es jedenfalls an der internen Willensbildung
der Wohnungseigentümer über eine außergerichtliche Regelung jener Ansprü-
che. Ausweislich des Tenors des amtsgerichtlichen Urteils ist der Beschluss -
entgegen der Auffassung der Beschwerdeerwiderung - auch insgesamt und
nicht nur hinsichtlich ein
es „überschießenden Teils“ für ungültig erklärt worden.
Wegen der Bezifferung der abgelehnten Ansprüche spielt das konkrete
wirtschaftliche Interesse der Beklagten im Grundsatz keine Rolle. Vielmehr ist
üblicherweise - insbesondere, aber nicht nur bei einer bezifferten Klage - der
volle Forderungsbetrag anzusetzen, sofern die Forderung selbst im Streit ist
(Arg.: § 6 Satz 1 Alt. 2 ZPO, vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 1994 - IV ZR
270/93, BGHR ZPO § 2 Beschwer 3; MünchKomm-ZPO/Wöstmann, 4. Aufl.,
§ 3 Rn. 12).
bb) Die von dem Berufungsgericht angeführten Gründe rechtfertigen es
nicht, von dem danach maßgeblichen bezifferten Wert nur einen Bruchteil an-
zusetzen.
(1) Das Amtsgericht hat sich von der Rechtsauffassung leiten lassen, in-
folge der angefochtenen Beschlüsse habe die Gefahr bestanden, dass berech-
tigte Ansprüche der Klägerin „verloren gehen“. Zwar dürfte und könnte die ab-
lehnende Entscheidung der Eigentümerversammlung letztendlich nicht zur Fol-
ge haben, dass berechtigte Schadensersatzansprüche der Klägerin materiell-
rechtlich ausgeschlossen blieben. Das sei aber nicht so klar und eindeutig, dass
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das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage fehle. Danach hielt es das Amtsgericht
offenbar für möglich, dass die Negativbeschlüsse sogar einen rechtsvernich-
tenden Inhalt entfalten konnten.
(2) Mit der Bewertung der Beschwer nur in Höhe von 10 % dieses Be-
trags hat das Berufungsgericht hinsichtlich der Auswirkung der Negativbe-
schlüsse einen anderen rechtlichen Standpunkt als das Amtsgericht einge-
nommen. Es hat nämlich darauf verwiesen, dass sich die rechtliche Situation
der Parteien durch die Anfechtung der Beschlüsse nicht ändere. Damit hat es
der Sache nach - wie die Rechtsbeschwerde zu Recht anmerkt - das Rechts-
schutzbedürfnis für die Anfechtungsklage verneint (vgl. dazu Klein in Bärmann,
WEG, 12. Aufl., § 46 Rn. 7). Das Amtsgericht hatte aber gerade angenommen,
dass der Klägerin ein solches Rechtsschutzbedürfnis zustehe. Ob diese Auffas-
sung richtig ist, ist bei der Prüfung der Begründetheit der Berufung zu klären.
Der Umstand, dass das Berufungsgericht die Rechtsauffassung der Rechtsmit-
telführer teilt, kann deren Beschwer nicht vermindern; sie wollen gerade eine
dahingehende Entscheidung des Berufungsgerichts in der Sache mit der ent-
sprechenden Kostenfolge herbeiführen.
(3) Auch im Übrigen sind keine Gründe dafür ersichtlich, nur einen
Bruchteil des bezifferten Betrags anzusetzen. Dass es um die außergerichtliche
Klärung der geltend gemachten Ersatzansprüche geht und dieser, wenn sie
scheitert, ein streitiges Gerichtsverfahren folgen kann, ändert nichts daran, dass
der Nennbetrag der Forderungen das Interesse der Parteien bestimmt.
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IV.
Die Sache ist nach § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO an das Berufungsgericht zur
erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Festsetzung des Gegenstandswerts für das Rechtsbeschwerdever-
fahren beruht auf § 49 a Abs. 1 GKG; das Interesse der Klägerin entspricht dem
Nennwert der Forderung und bildet die Untergrenze für den Gegenstandswert
(§ 49 a Abs. 1 Satz 2 GKG).
Stresemann
Lemke
Schmidt-Räntsch
Brückner
Weinland
Vorinstanzen:
AG Crailsheim, Entscheidung vom 02.12.2011 - 4 C 286/11 -
LG Stuttgart, Entscheidung vom 03.09.2012 - 10 S 62/11 -
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