Urteil des BGH vom 11.05.2010

BGH (Sicherungsverwahrung, Einleitung des Verfahrens, StGB, Anordnung, Günstige Prognose, Psychotherapeutische Behandlung, Stationäre Behandlung, Strafkammer, Therapie, Prognose)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 40/10
vom
11. Mai 2010
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Mordes u.a.
hier: nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 11. Mai 2010,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Rothfuß,
Prof. Dr. Jäger,
Prof. Dr. Sander,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landge-
richts Aschaffenburg vom 7. Oktober 2009 wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die durch dieses dem Verurteil-
ten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Antrag der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen,
gegen den Verurteilten gemäß § 66b Abs. 2 StGB nachträglich die Unterbrin-
gung in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Dagegen wendet sich die
Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision. Das vom
Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
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I.
Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:
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1. Der im Übrigen Unbestrafte wurde durch das Urteil des Landgerichts
Aschaffenburg vom 8. Dezember 1998 wegen Vergewaltigung und versuchten
Mordes (Einzelfreiheitsstrafe: neun Jahre) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf
Jahren verurteilt.
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a) Dieser Anlassverurteilung lag zugrunde, dass der damals 22 Jahre al-
te Verurteilte in der Nacht auf den 17. März 1998 die 65 Jahre alte B.
, die er nach Hause zu fahren versprochen hatte, gegen Mitternacht an ei-
nem abgelegenen Ort gegen ihren Willen entkleidet, ihre Arme mit einem Schal
an einer Kopfstütze seines Autos festgebunden und sowohl die Brüste als auch
den Scheidenbereich berührt hatte. Nachdem Frau B. es abgelehnt hatte,
an seinem erigierten Glied zu manipulieren und den Oralverkehr auszuführen,
erzwang der Verurteilte diesen, indem er ihren Kopf festhielt. Hierdurch gelang-
te er nach kurzer Zeit außerhalb des Mundes zum Samenerguss. Als er im An-
schluss daran weiterfuhr, entschloss er sich, Frau B. zu töten, um sie an
einer Strafanzeige zu hindern. Er würgte sie mit beiden Händen, bis sie be-
wusstlos wurde. Der Verurteilte öffnete die Beifahrertür und legte sein von ihm
für tot gehaltenes Opfer auf eine Wiese. Als er bemerkte, dass es noch lebte,
schlug er ihm wiederum in direkter Tötungsabsicht mit seiner 440 g schweren,
ca. 26 cm langen Metalltaschenlampe mehrmals heftig auf den Kopf. Frau
B. erlitt hierdurch lange, tiefe Platzwunden und wurde blutüberströmt er-
neut bewusstlos. Durch zufällig vorbeikommende Passanten wurde sie am
Morgen entdeckt und konnte gerettet werden.
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b) Der Verurteilte beabsichtigte, im April 1998 mit seiner damaligen Ver-
lobten zusammenzuziehen. Auch wegen dieser bevorstehenden Veränderung
in seinem Leben hatte er den Eindruck, dass „´alle anderen` sein Leben regeln
würden“. Den Geschlechtsverkehr mit seiner Partnerin empfand er „nicht mehr
als absolut befriedigend und kam zu der Überzeugung, dass es nicht nur …
´Sex unter der Bettdecke` und in längeren Abständen von bis zu 2-3 Wochen
zum nächsten Akt geben könne“. Unter Berücksichtigung dessen fand der da-
mals mit einem Gutachten zu den Voraussetzungen der §§ 20, 21 und 63 StGB
beauftragte psychiatrische Sachverständige Prof. Dr. R. „in seinen sexuel-
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len Vorstellungen und Begehrenshaltungen … keine auffälligen Inhalte“. Vor
diesem Hintergrund wurde die gemäß dem am 31. Januar 1998 in Kraft getre-
tenen § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB formell in Betracht kommende Anordnung pri-
märer Sicherungsverwahrung bei der Anlassverurteilung nicht in Erwägung ge-
zogen.
2. a) Der Verurteilte verbüßte die Strafhaft seit Januar 1999 zunächst in
der Justizvollzugsanstalt Ba. . Am 5. Juli 2001 begann er etwa drei Monate
nach seiner Aufnahme in die sozialtherapeutische Abteilung der Justizvollzugs-
anstalt W. eine Therapie. Da die Therapeuten den Verurteilten als sog.
explosiven, sexuell aggressiven Täter einordneten und der Ansicht waren, die
Tat habe „nichtsexuellen Bedürfnissen gedient“, bestand das Hauptziel der The-
rapie in der Verringerung der angenommenen Störung der Sexualpräferenz und
einer umfassenden Rückfallprävention.
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Der Verurteilte nahm in der Zeit bis 15. Juli 2003 aktiv und regelmäßig an
insgesamt 169 tiefenpsychologisch orientierten Gruppentherapiesitzungen, acht
Einzeltherapiegesprächen, 85 Gruppensitzungen der „Gruppe Sexualität“, 85
Sitzungen „Sozialtraining“, 72 Sitzungen „Gestaltungstherapie“, 69 Sitzungen
„Musiktherapie“ und 74 Sitzungen „Entlassungstraining“ sowie an weiteren 107
Sitzungen teil, in denen ein persönliches Rückfallpräventionsprogramm diffe-
renziert erarbeitet wurde. Hierbei verhielt er sich kooperativ, setzte sich kon-
struktiv mit seinem Deliktsverhalten auseinander und erwarb eine gesteigerte
Opferempathie. Insgesamt erwies sich der Verurteilte „als in seiner Persönlich-
keit gereift“, so dass ihm eine „günstige Prognose“ gestellt wurde.
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b) Der Verurteilte wurde anschließend in die Justizvollzugsanstalt
Ba. verlegt und in der dortigen sozialtherapeutischen Anstalt
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in das sog. therapeutische Setting integriert. Zur Vorbereitung von Vollzugslo-
ckerungen wurde der Sachverständige Dr. Bl. beauftragt, ein Prognose-
gutachten zu erstellen. Dieser kam am 2. Juli 2004 zu dem Ergebnis, dass eine
„sexuell-sadistische Determination der Tat nicht ausgeschlossen werden kön-
ne“, wenn auch die Annahme näher liege, „dass die Tat eine Sexualisierung
eines nicht sexuellen Bedürfnisses darstelle“. Es bestehe sowohl auf diagnosti-
scher als auch auf therapeutischer Ebene noch Klärungs- und Handlungsbe-
darf, bevor über die Gewährung von Lockerungen nachgedacht werden könne.
c) In der Folge nahm der Verurteilte erneut an einer Ärgerbewältigungs-
und einer Rückfallpräventionstherapie teil. Als es nach Verbüßung von zwei
Dritteln der Strafe nicht zu einer Entlassung kam und ihm ein Justizangestellter
„immer wieder vorhielt, er müsse Phantasien gehabt haben“, entschied sich der
Verurteilte, auch hierüber seinem Therapeuten Be. , mit dem er die Tat auf-
zuarbeiten versuchte, zu berichten. Bis Frühjahr 2006 teilte er diesem nach und
nach mit, dass er vor der Tat Phantasien gehabt habe, die auf die Ausübung
von Macht gegenüber seinem Opfer gerichtet waren. Seit Ende 1996 sei der
Wunsch gewachsen, „die Geschlechtspartnerin zu dominieren und so die Gren-
zen der Legalität zu überschreiten“. Er stellte sich „immer öfter vor, seine imagi-
nären Geschlechtspartnerinnen verbal einzuschüchtern, sich so über ihren Wil-
len hinwegzusetzen, sie zu erniedrigen und eine Position der Macht zum Ge-
schlechtsverkehr auszunutzen. Dabei musste sein Opfer machen, was er sagte,
musste ihn anschauen und ihn abschließend oral befriedigen.“
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Diese Phantasien hätten ihn zunächst erschreckt, ihm später aber ein
gutes Gefühl gegeben, wobei er sich teilweise selbst befriedigt habe. Sie wären
häufiger geworden, bis er sich entschlossen habe, sie „in der Realität 1:1 um-
zusetzen“. Während der Fahrt mit Frau B. habe er gedacht, jetzt habe er
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die Gelegenheit dazu. Bei der Tat habe er eine starke sexuelle Erregung ge-
habt, weil sein Bedürfnis nach Macht über sein ihm unsympathisches Opfer ge-
nau so befriedigt worden sei, wie er es sich in seinen Phantasien vorgestellt
hatte. Wie in einem „Rauschzustand“ habe er einen „traumhaften“, seinen bis-
lang besten Orgasmus erlebt. Weniger als eine Minute später habe er sich je-
doch beim Anblick seines Opfers schlecht gefühlt sowie Traurigkeit und Ekel
empfunden.
d) Unter Berücksichtigung dieser Phantasien diagnostizierte der erneut
beauftragte Sachverständige Dr. Bl. am 5. September 2006 eine sexuell-
sadistische Entwicklung des Verurteilten, bei dem ein „sehr hohes Wiederho-
lungsrisiko für Delikte der gleichen Oberkategorie“ vorliege. Am 21. Juli 2008
gelangte der psychiatrische Sachverständige Prof. Dr. N. zu dem Ergeb-
nis, das Rückfallrisiko des Verurteilten hänge von der Entlassungssituation und
einer angemessenen Nachsorge ab. Ohne Therapie und Kontrolle liege die
Rückfallwahrscheinlichkeit im Langzeitverlauf zwischen 15 und 40 %, bei opti-
maler Therapie könne sie unter 1 % gesenkt werden. Da die Justizvollzugsan-
stalt das von Prof. Dr. N. vorgeschlagene „Risikomanagement“ für „un-
durchführbar“ hielt, wurden dem Verurteilten weiterhin keine Lockerungen ge-
währt. Im Dezember 2008 nahm dieser von sich aus Kontakt zu dem in der
Therapie von Straftätern erfahrenen Diplom-Psychologen Bo. aus
Würzburg auf. Dieser erklärte sich zu einer Behandlung des Verurteilten bereit,
da er dessen Offenheit und Therapiewillen als „sehr hoch“ bewertete.
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3. Am 19. November 2008 beantragte die Staatsanwaltschaft Aschaffen-
burg beim Landgericht die Einleitung des Verfahrens zur Unterbringung des
Verurteilten in der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Mit Beschluss vom
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20. Januar 2009 ordnete die Kammer dessen einstweilige Unterbringung an, die
nach dem Ende der Strafhaft seit 7. Februar 2009 vollzogen wurde.
Am Tag der Urteilsverkündung wurde der Unterbringungsbefehl aufge-
hoben. Der Verurteilte beabsichtigte, zunächst bei seinen Eltern, die ihn wäh-
rend des Freiheitsentzugs regelmäßig besucht hatten, in A. zu
wohnen. Zugleich erging ein umfangreicher Beschluss zur Ausgestaltung der -
unbefristeten - Führungsaufsicht. Danach hat der Verurteilte insbesondere
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- sich von Montag bis Freitag täglich bei seinem Bewährungshelfer zu
melden,
- eine ambulante psychotherapeutische Behandlung seiner sexuellen
Störung bei dem Psychotherapeuten Bo. durchzuführen, sich
diesem einmal wöchentlich vorzustellen und die Therapie dem Bewäh-
rungshelfer nachzuweisen,
- sich auf dessen Verlangen unverzüglich zu einem Psychiater zu bege-
ben und von diesem verschriebene Medikamente einzunehmen oder
sich verabreichen zu lassen,
- sich auf Verlangen des Psychotherapeuten oder des Psychiaters in ei-
ne stationäre Behandlung in einem näher bezeichneten Sozialzentrum,
hilfsweise in die sozialtherapeutische Abteilung der Justizvollzugsan-
stalten W. oder Ba. zu begeben.
Mit sämtlichen seine Behandlung betreffenden Weisungen hatte sich der
Verurteilte in der Hauptverhandlung, in der er auch hinsichtlich seiner Phanta-
sien bereitwillig Angaben gemacht hatte, einverstanden erklärt. Zudem hat er
alle ihn behandelnden Ärzte und Therapeuten von ihrer Schweigepflicht na-
mentlich gegenüber dem Gericht und der Staatsanwaltschaft entbunden.
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4. Die Strafkammer hat die vom Verurteilten während des Strafvollzugs
offenbarten Phantasien und die hierauf basierende, zu a) dargelegte Diagnose
als Nova angesehen. Im jetzigen Verfahren hat sie Dr. Bl. und Prof. Dr.
N. als psychiatrische Sachverständige gehört.
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a) Aufgrund deren insoweit übereinstimmenden und unter Darlegung der
Voraussetzungen näher begründeten Ausführungen gelangte sie zu der Über-
zeugung, dass beim Verurteilten eine Störung der Sexualpräferenz im Sinne
einer sexuell-sadistischen Ausprägung (ICD-10: F 65.8) bzw. ein sexueller Sa-
dismus (DSM-IV: 302.84) vorliegt. Soweit seine Persönlichkeit zudem sowohl
narzisstische als auch schizoide Züge aufweise, würden diese aber „bei wei-
tem“ nicht ein Ausmaß erreichen, welches für die Annahme einer Persönlich-
keitsstörung spreche.
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b) Zu den maßgeblichen Faktoren für die Gefährlichkeitsprognose hat die
Strafkammer ausgeführt:
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aa) Ausgangspunkt sei für den Sachverständigen Dr. Bl. die sog.
Basisrate erneuter Delinquenz gewesen. Diese habe er - gestützt auf internati-
onale Rückfallforschungen - bei Vergewaltigungen auf ca. 40 %, das mittlere
statistische Risiko einer neuerlichen Straftat durch einen (allgemein) verurteilten
Delinquenten hingegen auf 36 % bestimmt. Um eine individuelle Prognose stel-
len zu können, habe der Sachverständige wissenschaftlich gesicherte (tatspezi-
fische, biographische und psychiatrisch determinierte) Kriterien herangezogen:
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Dabei habe für den Verurteilten gesprochen, dass er bislang erst eine
Straftat und diese nicht aus „monetären Aspekten“ begangen habe, zudem kei-
ne familiäre Delinquenzbelastung, keine Psychose und Suchterkrankung be-
stünde, er keine antisozialen Wesensmerkmale aufweise, die sadistischen
Elemente nicht auf andere Persönlichkeitsbereiche übergegangen seien und
eine intensive therapeutische Bearbeitung des Delikts und des psychiatrischen
Störungsmusters stattgefunden habe, zu der der Verurteilte weiterhin bereit sei.
Negativ seien vor allem bedeutsam das niedrige Alter des Verurteilten bei der
ohne „hochspezifische Täter-Opfer-Beziehung“ begangenen Tat, die dabei viel-
gestaltig gezeigte „exzessive Gewalt“ sowie die erhebliche Differenz zum Alter
des Opfers, ferner die Art der sexuellen Störung sowie die schizoiden Persön-
lichkeitselemente.
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Nach Ansicht dieses Sachverständigen müsse im Ergebnis „mit einer
sehr hohen Wiederauftretenswahrscheinlichkeit“ von der Begehung neuer Straf-
taten der gleichen Oberkategorie durch den Verurteilten gerechnet werden.
Dieser könne auch nicht ausreichend mit einem „Risikomanagement“ begegnet
werden, da insofern eine „Rundumbetreuung“ geboten sei, weil eine Entlassung
„zwangsläufig zu einer Intensivierung der Gedanken mit den entsprechenden …
Folgen führen würde“. Prognostisch „ungemein ungünstig“ wirke sich aus, dass
sich der Verurteilte erst geöffnet habe, als es zu keiner Zwei-Drittel-Entlassung
gekommen sei.
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bb) Der Sachverständige Prof. Dr. N. erläuterte, dass der diagnosti-
zierte sexuelle Sadismus nicht zwangsläufig zu einem Rückfall führen müsse,
denn die Basisrate liege für diese Tätergruppe zwischen 15 und 40 %. Wende
man zur individuellen Prognose anerkannte Kataloge von - denen des Sachver-
ständigen Dr. Bl. im Wesentlichen vergleichbaren - Risikofaktoren an, so
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liege der Verurteilte teils in der untersten, teils in der mittleren Risikokategorie.
Insgesamt würden sich die positiven und die negativen Faktoren die Waage
halten. Die Rückfallwahrscheinlichkeit liege daher unter Berücksichtigung der
Basisrate jedenfalls unter 50 %, d.h. die Mehrheit der Täter mit vergleichbaren
Dispositionen schaffe es, nicht rückfällig zu werden. Indem die Führungsauf-
sicht entsprechend ausgestaltet werde, könne ein effektives Risikomanagement
geschaffen und die Rückfallwahrscheinlichkeit unter 10 % reduziert werden.
II.
Die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung hat die Straf-
kammer abgelehnt. Zwar lägen die formellen Voraussetzungen des § 66b
Abs. 2 StGB und hinreichende Nova vor; die Kammer hat aber unter eigener
Abwägung der maßgeblichen Faktoren nicht die Überzeugung gewonnen, dass
eine hohe Wahrscheinlichkeit der Begehung erheblicher Straftaten besteht. Die
nachträgliche Sicherungsverwahrung dürfe „als äußerst belastende Maßregel
… nur in außergewöhnlichen, seltenen Ausnahmefällen“ angeordnet werden.
Angesichts der insoweit geltenden hohen Anforderungen sei dem Verurteilten
die erforderliche Gefährlichkeitsprognose mit Blick auf die „Vielzahl positiver
Prognosemerkmale“, namentlich seine Therapiebereitschaft, und die engma-
schige Ausgestaltung der Führungsaufsicht nicht zu stellen.
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III.
Den Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung
hat das Landgericht im Ergebnis zutreffend zurückgewiesen. Die angefochtene
Entscheidung ist entgegen der Ansicht der Revision frei von durchgreifenden
Rechtsfehlern.
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a) Das Landgericht hat die formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 2
Satz 1 StGB durch die Anlassverurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindes-
tens fünf Jahren wegen (zumindest) einer Katalogtat zutreffend als erfüllt ange-
sehen.
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b) Die erstmalig im Jahre 2006 vom Verurteilten offen gelegten Phanta-
sien und den infolge dessen diagnostizierten sexuellen Sadismus hat die Straf-
kammer als die für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung erfor-
derlichen Nova angesehen. Die Frage, ob die Kammer diese Umstände hat in-
sofern ausreichen lassen dürfen, braucht der Senat letztlich nicht zu entschei-
den.
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aa) An die Annahme neuer Tatsachen sind ohnehin stets strenge Anfor-
derungen zu stellen (BGH, Beschl. vom 12. Januar 2010 - 3 StR 439/09), zumal
die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung den Bestand eines
rechtskräftigen Urteils tangiert und nach dem Willen des Gesetzgebers auf sel-
tene Einzelfälle beschränkt sein soll (BGHSt 50, 275, 278 m.w.N.; BVerfG StV
2006, 574, 575; NJW 2009 980, 982). Als „neue Tatsachen“ kommen deshalb
nur solche in Betracht, die in einem prognoserelevanten symptomatischen Zu-
sammenhang mit der Anlassverurteilung stehen (BGHR StGB § 66b Neue Tat-
sachen 3) und schon für sich genommen von besonderem Gewicht sind (BGH
StV 2006, 67, 71).
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bb) Diese Voraussetzungen können - wie das Landgericht zutreffend
ausgeführt hat - im Einzelfall zwar auch psychiatrische Befundtatsachen erfül-
len, nämlich dann, wenn sie die an sich bereits zuvor bekannte Gefährlichkeit
eines Verurteilten in einem grundsätzlich anderen Licht erscheinen lassen (vgl.
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BVerfG, Kammer, Beschl. vom 23. August 2006 - 2 BvR 226/06; BGH NStZ-RR
2007, 199). Der Senat neigt aber für die nachfolgend dargestellte (cc.) spezielle
Konstellation dazu, eine besonders sorgfältige Prüfung des Gewichts dieser in
Betracht gezogenen Befundtatsachen für notwendig zu halten.
cc) Das Landgericht hat - im Rahmen der Erwägungen zur Gefährlich-
keitsprognose - die Meinung vertreten, § 66 StGB hätte weder zum Zeitpunkt
der Anlassverurteilung noch später die Anordnung von Sicherungsverwahrung
bereits mit der ersten Verurteilung vorgesehen. Dies trifft nicht zu, da § 66
Abs. 3 Satz 2 StGB bereits mit Wirkung zum 31. Januar 1998 in das Gesetz
eingefügt worden war. Ob die im Ursprungsverfahren zuständige Kammer mög-
licherweise demselben Rechtsirrtum unterlegen war, teilt das angefochtene Ur-
teil nicht mit. Wäre dies so, könnte bereits dieser Umstand der Anordnung
nachträglicher Sicherungsverwahrung entgegenstehen. Denn durch die Anwen-
dung des § 66b StGB dürfen im Ausgangsverfahren bei der Prüfung der primä-
ren Sicherungsverwahrung begangene Rechtsfehler oder Versäumnisse der
Strafverfolgungsbehörden nicht korrigiert werden (vgl. BGHSt 50, 121, 126;
BGH, Beschl. vom 12. Januar 2010 - 3 StR 439/09; BGH, Urt. vom 13. Januar
2010 - 1 StR 372/09).
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Dem Urteil lässt sich jedoch hinreichend deutlich entnehmen, dass die
Strafkammer des Ursprungsverfahrens bei zutreffender Beurteilung der Rechts-
lage die nun als Nova gewerteten Umstände auch bei sorgfältiger, am Maßstab
des § 244 Abs. 2 StPO gemessener Prüfung (vgl. BGH StV 2006, 413; BGH,
Urt. vom 23. März 2006 - 1 StR 476/05) nicht hätte erkennen können. Dies er-
gibt sich vor allem daraus, dass auch der mit der Begutachtung des zum dama-
ligen Zeitpunkt über seine sexuellen Phantasien schweigenden Verurteilten be-
auftragte psychiatrische Sachverständige Prof. Dr. R. in dessen sexuellen
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Vorstellungen und Begehrenshaltungen keine auffälligen Inhalte erkennen
konnte und es bis zur „Öffnung“ des Verurteilten mehreren psychologischen
und psychiatrischen Fachkräften über acht Jahre hinweg nicht gelungen war,
Näheres über die diesbezüglichen Vorstellungen zu erfahren (vgl. BGHSt 50,
275, 280).
c) Die Strafkammer hat jedenfalls rechtsfehlerfrei die zukünftige Gefähr-
lichkeit des Verurteilten i.S.d. § 66b Abs. 2 StGB verneint. Dem Tatgericht
kommt insofern ein Beurteilungsspielraum zu; seine Entscheidung unterliegt der
revisionsgerichtlichen Überprüfung nur eingeschränkt (BGH NStZ-RR 2008, 40,
41). Diese hat keinen Rechtsfehler ergeben.
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aa) Insbesondere hat das Landgericht ausführlich und sorgfältig die ge-
botene Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner
Entwicklung während des Strafvollzugs vorgenommen und dabei einen zutref-
fenden Prüfungsmaßstab angelegt (BGH NStZ 2007, 92; BGH, Urt. vom
11. Oktober 2007 - 4 StR 246/07).
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Ausgehend von dem (auch) durch die beiden Sachverständigen vermit-
telten wissenschaftlichen Kenntnisstand, namentlich den empirischen Rückfall-
Basisraten, hat sie vor allem anhand tatspezifischer, biographischer und psy-
chiatrischer Kriterien eine individuelle Gefährlichkeitsprüfung durchgeführt (vgl.
BGHSt 50, 121, 130 f.; BGH, Urt. vom 11. Oktober 2007 - 4 StR 246/07). Deren
Darstellung in den Urteilsgründen lässt insbesondere Lücken oder Widersprü-
che nicht erkennen.
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Auch die Revision zeigt Rechtsfehler nicht auf. Soweit sie die „Basisrate
von 40 %“ als falsch bewertet ansieht, hat der Senat unter Berücksichtigung der
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im Urteil mitgeteilten Daten bereits Zweifel, ob der Wert empirisch zureichend
gesichert und zudem für die hier in Rede stehende Tätergruppe repräsentativ
ist. Die Revision verkennt aber vor allem, dass es auf vorhandene statistische
Werte gerade nicht maßgeblich ankommt, weil allein die jeweilige individuelle
Prüfung der Gefährlichkeit entscheidend ist. Mit den Gutachten der beiden psy-
chiatrischen Sachverständigen hat die Strafkammer sich im Einzelnen, umfas-
send und mit vertretbaren Argumenten auseinandergesetzt. Es stellt auch kei-
nen Widerspruch dar, wenn die Strafkammer im Rahmen der Prognose es ei-
nerseits positiv wertet, dass der Verurteilte im Übrigen unbestraft ist, und es
andererseits als negativ ansieht, dass zwischen dem Entstehen der Phantasien
und der diese verwirklichenden Tat nur ein kurzer Zeitraum gelegen hat. Denn
hiermit würdigt sie, dass der Verurteilte unabhängig von seinen Phantasien
nicht straffällig geworden ist.
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bb) Schließlich stellt es keinen durchgreifenden Rechtsfehler dar, dass
das Landgericht eine auf § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB gestützte Anordnung nach-
träglicher Sicherungsverwahrung nicht ausdrücklich erwogen hat, obwohl des-
sen formelle Voraussetzungen ebenfalls vorlagen. Denn auch insofern hätte es
der Prognose zukünftiger Gefährlichkeit des Verurteilten bedurft, die das Land-
gericht gerade nicht getroffen hat.
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Nack Wahl Rothfuß
Jäger Sander