Urteil des BGH vom 23.10.2008

BGH (eingriff in grundrechte, beschlagnahme, stpo, fair trial, brief, strafverfahren, untersuchungshaft, beschwerde, beweismittel, handschriftlich)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
StB 18/08
vom
23. Oktober 2008
in dem Strafverfahren
gegen
wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung u. a.;
hier: Beschwerde gegen Briefbeschlagnahme
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 23. Oktober 2008 gemäß
§ 304 Abs. 5 StPO beschlossen:
Auf die Beschwerde des Angeschuldigten F. E. wird der Be-
schluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 21. Juli 2008, mit
dem die Beschlagnahme des Briefes des Angeschuldigten vom
2. Juli 2008 an N. E. angeordnet worden ist, aufgehoben.
Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Beschwerdeführer
hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskas-
se zu tragen.
Gründe:
I.
Der Generalbundesanwalt hat gegen den Beschwerdeführer, der sich
seit April 2007 in Untersuchungshaft befindet, am 27. Juni 2008 Anklage wegen
mehrfachen versuchten und vollendeten Mordes, unter anderem in Tateinheit
mit Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, und
anderer Straftaten zum Oberlandesgerichts Düsseldorf erhoben. Dieses hat mit
Beschluss vom 21. Juli 2008 den handschriftlich verfassten Brief des Ange-
schuldigten vom 2. Juli 2008 an N. E. in Istanbul/Türkei gemäß §§ 94, 98
Abs. 1 StPO beschlagnahmt, weil dieser in dem Strafverfahren gegen den Be-
schwerdeführer als Beweismittel in Betracht komme. Bei der Erstattung von
Sachverständigengutachten zur Feststellung der Urheberschaft von Handschrif-
ten könne der Brief als Vergleichsmaterial dienen. Zu den Beweismitteln im vor-
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liegenden Strafverfahren zählten zahlreiche Unterlagen, die handschriftlich ab-
gefasst oder mit handschriftlichen Anmerkungen versehen seien.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Beschwerde gegen diesen
Beschlagnahmebeschluss. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, dass
schon das Anhalten des Briefes gemäß § 119 Abs. 3 StPO nicht rechtmäßig
erfolgt sei, weil diese Vorschrift rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genüge.
Der Beschlagnahme des Briefes stehe ein Beschlagnahmeverbot analog § 97
StPO entgegen. Sie verstoße auch gegen den Grundsatz, dass ein Beschuldig-
ter zur Abgabe von Schriftproben nicht gezwungen werden dürfe. Die Be-
schlagnahme greife in die verfassungsmäßig verankerten Rechte des Be-
schwerdeführers ein und sei vor dem Hintergrund des "fair trial" als Ausfluss
des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 GG) sowie den Bestimmungen der MRK nicht
zu verantworten. Schließlich sei die Beschlagnahme des Briefes unnötig und
somit unverhältnismäßig; denn aus den Ermittlungsakten ergebe sich, dass der
Angeschuldigte zur Begründung seines Asylantrags im Mai 2007 ein umfangrei-
ches handschriftlich verfasstes Schreiben an das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge gerichtet habe und dieses den Ermittlungsbehörden vorliege. We-
gen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verteidigerschriftsätze vom 17. und
22. Juli 2008 sowie vom 12. August 2008 Bezug genommen.
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II.
Die Beschwerde ist zulässig (§ 304 Abs. 5 StPO) und begründet. Die Be-
schlagnahme des Briefes des Angeschuldigten vom 2. Juli 2008 an N.
E. als Beweismittel ist unverhältnismäßig.
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1. Allerdings entspricht die angefochtene Beschlagnahmeanordnung des
Oberlandesgerichts Düsseldorf - entgegen der Auffassung des Beschwerdefüh-
rers - im Übrigen den gesetzlichen wie auch den rechtsstaatlichen Anforderun-
gen. Insbesondere hinderten die Grundsätze, dass ein Beschuldigter nicht zur
Abgabe von Schriftproben gezwungen werden darf und sich selbst nicht be-
lasten muss, die angeordnete Beschlagnahme ebenso wenig, wie der Umstand,
dass der Brief im Rahmen der richterlichen Postkontrolle des sich in Untersu-
chungshaft befindenden Angeschuldigten angehalten und beschlagnahmt wur-
de. Denn § 94 StPO stellt auch bei Vorliegen der durch den Vollzug der Unter-
suchungshaft begründeten besonderen Situation eines Beschuldigten eine ge-
eignete Rechtsgrundlage dar, um in die grundlegenden Rechte des Angeschul-
digten nach Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 10 GG und Art. 8 MRK einzugreifen (vgl.
BGHR StPO § 94 Beweismittel 1 m. w. N.). Insofern gehen die Einwendungen
des Beschwerdeführers fehl. Auch eine analoge Anwendung von § 97 StPO
kommt nicht in Betracht.
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2. Indessen bedarf es vorliegend der Beschlagnahme des Briefes zu
Beweiszwecken nicht.
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Eine Beschlagnahme stellt einen Eingriff in Grundrechte des Betroffenen
dar. Die Anordnung hat daher, wie alle Zwangsmaßnahmen im Strafverfahren,
dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu genügen. Dieser Grundsatz ver-
langt, dass die Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet und
erforderlich sein muss und dass der mit ihr verbundene Eingriff nicht außer
Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des bestehenden Tatver-
dachts stehen darf (vgl. BVerfG NStZ 1992, 91, 92). Für die Gewinnung des für
ein Schriftgutachten notwendigen Vergleichsmaterials war die Sicherstellung
des Briefes vom 2. Juli 2008 nicht erforderlich. Denn als solches steht das auf
Anregung des Senats durch den Generalbundesanwalt beigezogene, 28 Seiten
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umfassende handschriftliche Originalschreiben des Angeschuldigten vom
10. Mai 2007 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Verfügung,
mit dem er - ebenfalls aus der Untersuchungshaft heraus - seinen Asylantrag
begründet hat. Eine Kopie dieses Schreibens befand sich bereits zum Zeitpunkt
der Beschlagnahmeanordnung bei den Akten. Daher hätte das Oberlandesge-
richt schon zuvor Kenntnis von dessen Existenz haben und das Original anfor-
dern können.
Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts ist nicht erkennbar,
dass dem beschlagnahmten Brief eine dem sehr umfangreichen, ebenfalls ei-
genhändig verfassten Schreiben des Angeschuldigten überlegene Beweiseig-
nung zukäme. Der beschlagnahmte Brief an N. E. verspricht daher
keinen zusätzlichen sachlichen Erkenntnisgewinn. Wegen des Vorliegens des
Originals kann dahinstehen, ob die vom Beschwerdeführer angeführte, bei den
Ermittlungsakten vorhandene Kopie des Antragsschreibens zur Erreichung des
erstrebten Beweiszieles geeignet gewesen wäre.
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Die Beschlagnahme erweist sich danach für das Verfahren als nicht er-
forderlich und ist somit unverhältnismäßig (vgl. Meyer-Goßner, StPO 51. Aufl.
§ 94 Rdn. 18 m. w. N.). Dies führt zur Aufhebung der Anordnung.
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Becker Miebach Hubert