Urteil des BGH vom 09.04.2013

BGH: ausschluss der öffentlichkeit, rüge, entlassung, beendigung, ausnahme, verwirkung, revisionsgrund, einfluss, ermittlungsverfahren, aufklärungspflicht

5 StR 612/12
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom 9. April 2013
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. April 2013
beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des
Landgerichts Berlin vom 16. Mai 2012 gemäß § 349
Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entschei-
dung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurück-
verwiesen.
G r ü n d e
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen
Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs
von Jugendlichen in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jah-
ren und zwei Monaten verurteilt und hiervon vier Monate wegen rechts-
staatswidriger Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt. Die gegen die-
ses Urteil gerichtete Revision des Angeklagten führt mit einer Verfahrensrüge
nach § 338 Nr. 6 StPO (siehe 3.) zum Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts nahm der Angeklagte im
Zeitraum Dezember 2004 bis Januar 2007 bei insgesamt zehn unterschiedli-
chen Gelegenheiten an zur Tatzeit noch nicht 14 Jahre alten Jungen sexuelle
Handlungen bis hin zum Oralverkehr vor. Die Strafkammer hat nicht auszu-
schließen vermocht, dass der Angeklagte einen der drei Geschädigten des-
sen Angaben entsprechend für 14 Jahre alt gehalten hat.
2. Zutreffend macht der Beschwerdeführer geltend, durch die fehler-
hafte Annahme des Verhinderungsfalls des ordentlichen Vorsitzenden sei der
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Angeklagte seinem gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entzo-
gen worden. Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts stellt sich die
Feststellung des Verhinderungsfalls durch die stellvertretende Vorsitzende
als unvertretbar und damit willkürlich dar.
a) Eine Verhinderung des ordentlichen Vorsitzenden war durch des-
sen an die stellvertretende Vorsitzende gerichtete E-Mail vom 4. Januar 2011
nicht ansatzweise dargetan. In dieser hatte er am Tag vor dem Ablauf der
dreiwöchigen Frist des § 229 Abs. 1 StPO lediglich darauf hingewiesen, er
befinde sich „weit weg von Berlin in alpiner Abgeschiedenheit“, die Front-
scheibe seines Autos sei zerbrochen, zudem sei eines der Kinder krank; eine
Prognose, wann er in Berlin sein werde, sei „im Moment nicht möglich“. Die
E-
Mail beschloss er mit dem Satz: „Treffen Sie eine weise Entscheidung!“
Angaben dazu, wo er sich zu diesem Zeitpunkt befand, hat der Vorsitzende
weder in dieser E-Mail noch sonst gemacht. Auch war er für die stellvertre-
tende Vorsitzende telefonisch nicht erreichbar und beantwortete eine ihm
übersandte E-Mail bis zum Folgetag, dem Tag des Ablaufs der Drei-Wochen-
Frist, nicht. Bei diesem Verhalten des Vorsitzenden liegt es fern, einen Ver-
hinderungsfall gemäß § 192 Abs. 2 GVG anzunehmen. Dies gilt namentlich,
weil die Strafkammer die Möglichkeit gehabt hätte, die Monatsfrist des § 229
Abs. 2 StPO in Anspruch zu nehmen und hierzu bei der gegebenen Verfah-
renslage, in der keine seriösen entgegenstehenden Belange vorlagen, ver-
pflichtet war.
b) Allerdings erscheint zweifelhaft, ob diese Rüge zum Erfolg zu füh-
ren vermag. Ihre Zulässigkeit könnte
– etwa unter dem Gesichtspunkt der
Verwirkung oder eines fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses (vgl. Schneider
in KK, StPO, 6. Aufl., § 238 Rn. 33)
– letztlich daran scheitern, dass der Be-
schwerdeführer in der Hauptverhandlung der Feststellung des Verhinde-
rungsfalls nicht widersprochen oder einen Besetzungseinwand erhoben,
sondern vielmehr durch ein
– in der Sache begründetes, vom Landgericht mit
Unrecht verworfenes
– Ablehnungsgesuch gegen den abwesenden ordentli-
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chen Vorsitzenden deutlich gemacht hat, gerade nicht länger mit diesem ver-
handeln zu wollen.
c) Dies braucht der Senat hier jedoch ebenso wenig zu entscheiden
wie die Frage, in welchem Umfang die jedenfalls hinsichtlich der Taten zum
Nachteil des Nebenklägers S. durchgreifende Rüge des § 261 StPO,
mit der der Beschwerdeführer zu Recht die beweiswürdigende Berücksichti-
gung der nicht im Strengbeweisverfahren in die Hauptverhandlung eingeführ-
ten Angaben der Nebenklagevertreterin beanstandet, zur Urteilsaufhebung
führen muss.
3. Denn die Revision des Angeklagten hat jedenfalls mit der Öffent-
lichkeitsrüge in vollem Umfang Erfolg.
a) Dieser Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:
Nachdem sich der Angeklagte bereits zur Sache eingelassen hatte,
beantragte seine Verteidigerin am ersten Hauptverhandlungstag, während
der beabsichtigten Einlassung des Angeklagten zu von ihm im Laufe des
Ermittlungsverfahrens geleisteter Aufklärungshilfe, insbesondere zu einer
umfänglichen V-Mann-Tätigkeit für das Landeskriminalamt Berlin, die Öffent-
lichkeit auszuschließen. Zur Begründung bezog sie sich sinngemäß auf die
Vorschrift des § 171b GVG. Der öffentlichen Erörterung dieser Umstände
stünden, so die Antragsbegründung, schutzwürdige Interessen des Ange-
klagten entgegen, nämlich das Interesse, „nicht wegen seiner sich aus
§ 1 VerpflG ergebenden Tätigkeit öffentlichen Anfeindungen, Repressionen
oder gar weitergehenden Angriffen ausgesetzt zu sein“. Zudem verwies die
Verteidigerin in der Antragsbegründung auf § 172 Nr. 1 Variante 2 GVG. Die-
sem Antrag gab die Strafkammer mit Beschluss vom 19. Januar 2010 statt.
Zur Begründung stützte sie sich zusätzlich auf § 172 Nr. 1a GVG und führte
aus, dass die seitens des Angeklagten beabsichtigten Angaben womöglich
allgemeine Schlüsse über den Einsatz von Vertrauenspersonen zulassen
würden. Zudem sei „angesichts des angedeuteten Umfangs der geleisteten
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ufklärungshilfe“ eine Gefährdung von Leib oder Leben des Angeklagten
durch Personen, die er belastet hat, möglich. Im Rahmen der Ermessenser-
wägungen stellte die Strafkammer unter anderem darauf ab, dass die Öffent-
lichkeit „lediglich für die Verhandlung von rechtsfolgerelevanten Vorgängen,
nicht aber für die Erörterung der Schuldfrage“ ausgeschlossen werde. Unter
Bezugnahme auf diesen Beschluss wurde an diesem und an mehreren wei-
teren Hauptverhandlungstagen die Öffentlichkeit für die Dauer der Einlas-
sung des Angeklagten zu diesem Themenkomplex ausgeschlossen.
Am 16. Verhandlungstag, dem 20. Juli 2010, beantragte die Verteidi-
gerin des Angeklagten, die Öffentlichkeit auch während der Vernehmung des
Polizeibeamten B. zur vom Angeklagten geleisteten Aufklärungshilfe
aus den bereits hinsichtlich der Einlassung des Angeklagten angeführten
Gründen auszuschließen. Die Strafkammer gab diesem Antrag durch Be-
schluss vom gleichen Tage statt, stützte dies auf § 172 Nr. 1a GVG und
nahm im Übrigen Bezug auf den Beschluss vom 19. Januar 2010 über den
Ausschluss der Öffentlichkeit während der Einlassung des Angeklagten. Im
weiteren Verlauf der Hauptverhandlung wurden zahlreiche andere Polizeibe-
amte zur vom Angeklagten geleisteten Aufklärungshilfe vernommen. Bei die-
sen Zeugen wurde zu Beginn der Vernehmung auf Antrag der Verteidigerin
des Angeklagten die Öffentlichkeit aufgrund eines Gerichtsbeschlusses aus-
geschlossen, in dessen Begründung wiederum jeweils auf den Beschluss
vom 19. Januar 2010 Bezug genommen wurde. Einige dieser Vernehmungen
wurden am Ende eines Hauptverhandlungstages unterbrochen und an einem
späteren Hauptverhandlungstag fortgesetzt; dabei wurde die Öffentlichkeit
aufgrund einer Anordnung des Vorsitzenden unter Bezugnahme auf den be-
reits gefassten Beschluss ausgeschlossen.
Am 19. Hauptverhandlungstag, dem 14. September 2010, wurde der
Polizeibeamte H. zu der vom Angeklagten geleisteten Aufklärungshil-
fe vernommen. Die Strafkammer fasste auch insoweit einen gleichlautenden
Beschluss über den Ausschluss der Öffentlichkeit unter Bezugnahme auf den
Beschluss vom 19. Januar 2010 und vernahm den Zeugen in nichtöffentli-
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cher Sitzung. Am Ende des Hauptverhandlungstages wurde die Vernehmung
des Zeugen H. unterbrochen und der Zeuge zum nächsten Verhand-
lungstag zwecks Fortsetzung der Vernehmung geladen. Bei dieser wurde die
Öffentlichkeit unter Bezugnahme auf den bereits gefassten Kammerbe-
schluss ausgeschlossen. Am Ende dieses Hauptverhandlungstages wurde
festgestellt, dass der Zeuge H. unvereidigt bleibe. Er wurde sodann
„im allseitigen Einverständnis entlassen“. Anschließend wurde die Öffentlich-
keit wiederhergestellt. Am folgenden 21. Hauptverhandlungstag, dem 12. Ok-
tober 2010, wurde der Zeuge H. erneut vernommen. Nachdem er in
den Saal gerufen worden war, ordnete der Vorsitzende den Ausschluss der
Öffentlichkeit an. Eine Bezugnahme auf den bei der vorangegangenen Ver-
nehmung gefassten Gerichtsbeschluss erfolgte nicht. Sodann begann das
Landgericht
– ohne Belehrungen und Feststellungen zur Person – in nichtöf-
fentlicher Sitzung mit der Vernehmung des Zeugen. Nachdem diese schließ-
lich nach einiger Zeit unterbrochen worden war, wurde die Öffentlichkeit wie-
der hergestellt. Die Vernehmung des Zeugen H. wurde an einem wei-
teren Verhandlungstag, dem 22. Oktober 2010, wiederum in nichtöffentlicher
Verhandlung fortgesetzt, wobei zu Beginn vom Vorsitzenden auf den Be-
schluss vom 14. September 2010 Bezug genommen wurde. Anschließend
wurde erneut die Nichtvereidigung des Zeugen beschlossen und der Zeuge
entlassen. Sodann wurde die Öffentlichkeit wieder hergestellt.
b) Die auf § 338 Nr. 6 StPO gestützte Rüge ist begründet. Die Aus-
schließung der Öffentlichkeit bei der Vernehmung des Zeugen H. war
jedenfalls am 12. Oktober 2010 nicht durch einen den Anforderungen des
§ 174 Abs. 1 GVG entsprechenden Beschluss gedeckt.
Zwar gilt ein Beschluss, der die Ausschließung der Öffentlichkeit für
die Dauer der Vernehmung eines Zeugen anordnet, grundsätzlich bis zur
Beendigung der Vernehmung und deckt den Öffentlichkeitsausschluss auch
dann, wenn eine Vernehmung unterbrochen und an einem anderen Verhand-
lungstag fortgesetzt wird. Wenn jedoch derselbe Zeuge nach Beendigung der
Vernehmung in der laufenden Hauptverhandlung nochmals unter Ausschluss
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der Öffentlichkeit vernommen werden soll, ist grundsätzlich gemäß § 174
Abs. 1 GVG ein neuer Gerichtsbeschluss erforderlich und mithin eine Anord-
nung des Vorsitzenden nicht ausreichend, selbst wenn in dieser, was hier
nicht geschehen ist, auf den vorausgegangenen Ausschließungsbeschluss
Bezug genommen wird (vgl. BGH, Beschluss vom 17. August 2011
– 5 StR 263/11, StV 2012, 140 mwN).
Diesen Anforderungen ist hier nicht Genüge getan. Am 20. Hauptver-
handlungstag, dem 28. September 2010, wurde am Ende der Vernehmung
des Zeugen H. zunächst festgestellt, dass dieser unvereidigt bleibe,
und der Zeuge sodann ohne den
– bei anderen Vernehmungsunterbrechun-
gen verwendeten
– Zusatz „für heute“ entlassen. Damit war die Vernehmung
des Zeugen abgeschlossen; für seine nochmalige Vernehmung in nichtöf-
fentlicher Sitzung hätte es somit eines neuen Beschlusses gemäß § 174
Abs. 1 Satz 2 GVG bedurft. Wie sich aus dem Protokoll vom 12. Okto-
ber 2010 ergibt, ist die Öffentlichkeit bei der an diesem Tag erfolgten erneu-
ten Vernehmung des Zeugen H. indessen lediglich aufgrund einer
Anordnung des Vorsitzenden ausgeschlossen worden, die zudem auch ih-
rerseits nicht etwa
– anders als bei anderen fortgesetzten Vernehmungen –
begründet worden war.
Die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannte
Ausnahme für Fälle, in denen dem Protokoll zu entnehmen ist, dass die Ent-
lassung des Zeugen sofort zurückgenommen wurde und die für den Aus-
schließungsgrund maßgebliche Interessenlage fortbestand, so dass sich die
zusätzliche Anhörung zusammen mit der vorausgegangenen als eine einheit-
liche Vernehmung darstellt (vgl. BGH aaO; BGH, Beschluss vom 30. Okto-
ber 2007
– 3 StR 410/07, StV 2008, 126; BGH, Urteil vom 15. April 1992
– 2 StR 574/91, NStZ 1992, 447), liegt nach dem Hauptverhandlungsproto-
koll vom 28. September 2010, das keine Ladung des Zeugen zu einem wei-
teren Termin und auch sonst keinen Hinweis auf eine sofortige Rücknahme
der Entlassung enthält, nicht vor.
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c) Der Rüge steht hier auch nicht entgegen, dass der Ausschluss der
Öffentlichkeit ursprünglich aufgrund eines Antrages der Verteidigerin des An-
geklagten erfolgte. Ein insoweit in anderen Konstellationen womöglich denk-
barer Rügeverlust infolge Verwirkung (vgl. BGH, Urteil vom 4. Dezem-
ber 2007
– 5 StR 404/07, BGHR StPO § 338 Nr. 6 Ausschluss 5 mwN)
scheidet im vorliegenden Fall bereits deshalb aus, weil der Ausschluss der
Öffentlichkeit am 12. Oktober 2010 ohne Bezugnahme auf den vorherigen
Gerichtsbeschluss und den Antrag des Beschwerdeführers erfolgte. Hier-
durch fehlt nicht nur der formale Zusammenhang zu dem Antrag des Ange-
klagten; es bleibt auch offen, ob der Zeuge in der fraglichen Vernehmung nur
zu dem von Antrag und Gerichtsbeschluss umfassten Beweisthema oder
aber auch zu anderen erheblichen Wahrnehmungen
– etwa seinen Erkennt-
nissen im Rahmen der gegen den Angeklagten geführten Ermittlungen
– be-
fragt wurde.
d) Der Verfahrensfehler führt zur umfassenden Aufhebung des Urteils.
Eine nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs denkbare Ausnahme
eines auch für einen selbständigen Teil der Entscheidung
– etwa den
Rechtsfolgenausspruch
– möglichen denkgesetzlichen Ausschlusses des
Beruhens auf dem absoluten Revisionsgrund (vgl. BGH, Beschlüsse vom
21. März 2012
– 1 StR 34/12, NStZ 2012, 587, und vom 19. Juli 2007
– 3 StR 163/07, BGHR StPO § 338 Beruhen 2, jeweils mwN) kommt hier
nicht in Betracht. Ein Einfluss des Verfahrensfehlers ist weder bezogen auf
den Strafausspruch noch hinsichtlich des Schuldspruchs denkgesetzlich
ausgeschlossen. Für einen dafür notwendigen klar begrenzten Gegenstand
der in Frage stehenden Zeugenvernehmung sind hier keine ausreichend
deutlichen Anhaltspunkte vorhanden. Daher steht hier einer freibeweislichen
Klärung dieser Frage
– ebenso wie einer entsprechenden Darlegungsoblie-
genheit des Revisionsführers
– das revisionsrechtliche Rekonstruktionsver-
bot entgegen.
4. Für die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass die Auf-
klärungspflicht es nicht gebietet, zur Feststellung der Voraussetzungen des
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§ 46b Abs. 1 StGB und der nach § 46b Abs. 2 StGB maßgeblichen Umstän-
de zum Verlauf sich (mittelbar) aus den Angaben des Angeklagten ergeben-
der Ermittlungsverfahren gegen Dritte ausufernd Beweis zu erheben. Sol-
ches widerspricht vielmehr dem Gebot zügiger und effektiver Verfahrensge-
staltung.
Basdorf Sander Schneider
Dölp Bellay