Urteil des BGH vom 09.10.2013

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
I ZR 115/12
Verkündet am:
9. Oktober 2013
Führinger
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
CIM Art. 1 § 3
Das Tatbestandsmerkmal "in Ergänzung" in Art. 1 § 3 CIM erfordert nicht, dass
die Bahn den Übernahme- oder den Ablieferungsort - etwa wegen Fehlens ei-
nes Gleisanschlusses - nicht auf der Schiene erreichen kann. Maßgeblich ist
vielmehr, dass der Straßenbeförderung im Verhältnis zur Schienenbeförderung
lediglich eine untergeordnete Bedeutung zukommt.
BGH, Urteil vom 9. Oktober 2013 - I ZR 115/12 - OLG Nürnberg
LG Nürnberg-Fürth
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Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhand-
lung vom 20. Juni 2013 durch die Richter Prof. Dr. Büscher, Pokrant, Prof.
Dr. Schaffert, Dr. Kirchhoff und Dr. Koch
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Streithelferin zu 2 der Beklagten wird der Be-
schluss des Oberlandesgerichts Nürnberg - 12. Zivilsenat - vom
31. Mai 2012 aufgehoben.
Die Sache wird zur Verhandlung und neuen Entscheidung, auch
über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurück-
verwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin ist Transportversicherer der Grundig Intermedia GmbH in
Nürnberg (im Weiteren: Versicherungsnehmerin). Sie nimmt die Beklagte aus
übergegangenem und abgetretenem Recht der Versicherungsnehmerin wegen
des Verlustes von Transportgut auf Schadensersatz in Anspruch.
Zwischen der Versicherungsnehmerin und der Beklagten besteht ein im
März 2006 geschlossener Rahmenvertrag über die Durchführung von Transpor-
ten. Die Versicherungsnehmerin erwarb im Januar 2009 von einem in Istanbul/
Türkei ansässigen Unternehmen Waren aus dem Bereich der Unterhaltungs-
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elektronik. Das Gut verlud die Verkäuferin in einen anschließend von ihren Mit-
arbeitern verplombten Container mit der Nummer PSSU 982457-9.
Mit dem Transport des Containers von Istanbul nach Nürnberg beauf-
tragte die Versicherungsnehmerin die Beklagte, die den Auftrag an ihre Streit-
helferin zu 2 weitergab, die ihrerseits die ebenfalls auf Seiten der Beklagten
beigetretene Streithelferin zu 1 beauftragte. Ob ein Fahrer der Beklagten bei
der Beladung des Containers in Istanbul anwesend war oder ob der Fahrer den
bereits verschlossenen und verplombten Container übernahm, ist zwischen den
Parteien streitig. Von der Versenderin in Istanbul zum dortigen Containerbahn-
hof erfolgte der Transport per Lkw. Vom Containerbahnhof in Istanbul bis Nürn-
berg wurde der Container auf der Schiene transportiert. Nach der Ankunft im
Containerbahnhof von Nürnberg übernahm ein Fahrer der Streithelferin zu 1
den Container und beförderte ihn zur Lagerhalterin der Versicherungsnehmerin,
bei der es sich um ein in Nürnberg ansässiges deutsches Tochterunternehmen
der Beklagten handelt.
Die Klägerin hat behauptet, die in dem Container transportierten Waren
hätten einen Wert von 117.649
€ netto gehabt. Bei der Entladung des Contai-
ners hätten Mitarbeiter der Lagerhalterin festgestellt, dass auf der Ladeliste
aufgeführte Waren im Wert von 30.719
€ netto gefehlt hätten. Den Betrag von
30.719
€ sowie 13,5% entgangenen Gewinn und 659,72 € anteilige Frachtkos-
ten (insgesamt 35.525,78
€) nebst Zinsen macht die Klägerin gegenüber der
Beklagten geltend.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die dagegen gerichtete Be-
rufung der Beklagten und ihrer Streithelferinnen hat das Berufungsgericht durch
Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen.
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Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Streithelferin zu 2
ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter. Die Klägerin beantragt, das
Rechtsmittel zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe:
I. Das Berufungsgericht hat den geltend gemachten Schadensersatzan-
spruch gemäß § 452 Satz 1, § 425 Abs. 1, § 429 Abs. 1, § 435 HGB in Verbin-
dung mit § 398 BGB für begründet erachtet. Dazu hat es ausgeführt:
Auf das Vertragsverhältnis zwischen der Versicherungsnehmerin und der
Beklagten komme aufgrund des zwischen ihnen geschlossenen Rahmenver-
trags deutsches Recht zur Anwendung.
Bei dem streitgegenständlichen Frachtvertrag handele es sich um einen
Multimodalvertrag (§ 452 HGB), weil die Durchführung des Transports verein-
barungsgemäß mit verschiedenartigen Transportmitteln erfolgt sei. Die Haftung
der Beklagten beurteile sich nach den §§ 407 ff. HGB; der Vertrag unterliege
deutschem Sachrecht, da der Schadensort unbekannt sei und deswegen
§ 452a HGB nicht zur Anwendung komme. Der Anwendungsbereich der CIM,
die zwar vorrangige kollisionsrechtliche Regelungen enthalte, sei im Streitfall
nicht eröffnet.
Die Beklagte hafte für den von der Klägerin behaupteten Warenverlust
grundsätzlich nach § 425 Abs. 1 HGB. Die Klägerin, die wegen Verlustes von
Transportgut Schadensersatz verlange, müsse darlegen und beweisen, dass
das Gut in der Obhut des Frachtführers verlorengegangen und wie hoch der
dadurch entstandene Schaden sei. Im Streitfall habe die Klägerin bewiesen,
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dass der an den Fahrer der Beklagten übergebene Container zum Zeitpunkt der
Übergabe die in der Handelsrechnung vom 29. Januar 2009 aufgeführten Wa-
ren enthalten habe. Dies ergebe sich aus den Angaben in der Handelsrech-
nung, in der Ladeliste vom 28. Januar 2009, in der Vorverladeliste und im
"Schadensbericht der deutschen Tochtergesellschaft der Beklagten" vom
6. Februar 2009. Aus einer Gesamtschau der genannten Schriftstücke lasse
sich die Verladung von 25 Paletten mit TV-Geräten in den Container mit der
Nummer PSSU 982457-9 ableiten.
Die von den Frachtdokumenten ausgehende Beweiswirkung gelte auch
dann, wenn der von der Versenderin beladene Container bei der Übernahme
durch den Fahrer der Beklagten in Istanbul bereits verschlossen und verplombt
gewesen sei. Es sei deshalb davon auszugehen, dass während der Obhutszeit
der Beklagten 125 TV-Geräte mit einem Netto-Warenwert von 30.719
€ verlo-
rengegangen seien.
Die Beklagte könne sich nicht mit Erfolg auf die in § 431 Abs. 1 HGB
vorgesehene Haftungsbegrenzung berufen, da ihr ein qualifiziertes Verschulden
im Sinne von § 435 HGB anzulasten sei. Die Beklagte habe keinerlei Angaben
zu den näheren Umständen des Schadensfalls gemacht. Der Schadenshergang
sei völlig ungeklärt geblieben. Das rechtfertige den Schluss auf ein grobes Or-
ganisationsverschulden im Betriebsbereich der Beklagten. Die Einwendungen
der Beklagten gegen die von der Klägerin geltend gemachte Schadenshöhe
seien unbegründet. Die Klägerin habe den Wert des abhandengekommenen
Transportgutes zutreffend mit Hilfe der Angaben in der Handelsrechnung vom
29. Januar 2009 ermittelt und zur Grundlage ihrer Klageforderung gemacht.
II. Die Revision der Streithelferin zu 2 ist begründet und führt zur Aufhe-
bung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an
das Berufungsgericht.
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Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Annahme des Berufungs-
gerichts, eine Haftung der Beklagten für den von der Klägerin behaupteten Ver-
lust von Transportgut beurteile sich im Streitfall nach den Vorschriften des deut-
schen Landfrachtrechts (§§ 407 ff. HGB), da die Einheitlichen Rechtsvorschrif-
ten für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Gütern
(CIM - Anhang B zum Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnver-
kehr [COTIF], BGBl. 2002, II-2140, 2221) nicht anwendbar seien.
1. Das Berufungsgericht ist allerdings zutreffend davon ausgegangen,
dass auf den zwischen der Beklagten und der Versicherungsnehmerin abge-
schlossenen Frachtvertrag grundsätzlich deutsches Sachrecht zur Anwendung
kommt. Dies ergibt sich aus Ziffer 12.2 des im März 2006 geschlossenen Rah-
menvertrags. Darin haben die Versicherungsnehmerin und die Beklagte verein-
bart, dass von der Beklagten durchgeführte Beförderungen dem deutschen
Recht unterliegen. Diese Vereinbarung ist gemäß Art. 27 Abs. 1 EGBGB gültig.
Die Revision erhebt insoweit auch keine Rügen.
2. Da es sich bei der streitgegenständlichen Beförderung um einen Mul-
timodaltransport handelte - der Transport des Gutes von der Versenderin zur
Empfängerin sollte mit verschiedenartigen Beförderungsmitteln (Lkw und Ei-
senbahn) erfolgen -, kommt grundsätzlich § 452 HGB zur Anwendung. Nach
Satz 1 dieser Vorschrift unterliegt ein derartiger Vertrag den §§ 407 ff. HGB,
sofern §§ 452a bis d HGB sowie anzuwendende internationale Übereinkommen
nichts anderes vorschreiben. Nach Art. 1 § 3 CIM findet die CIM Anwendung,
wenn eine internationale Beförderung, die Gegenstand eines einzigen Vertrags
ist, in Ergänzung der grenzüberschreitenden Beförderung auf der Schiene eine
Beförderung auf der Straße oder auf Binnengewässern im Binnenverkehr eines
Mitgliedstaats einschließt.
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3. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht angenommen, die Vorausset-
zungen des Art. 1 § 3 CIM seien im Streitfall nicht erfüllt. Entgegen der Ansicht
des Berufungsgerichts erfordert das Tatbestandsmerkmal "in Ergänzung" in
Art. 1 § 3 CIM nicht, dass die Bahn den Übernahme- oder den Ablieferungsort
- etwa wegen Fehlens eines Gleisanschlusses - nicht auf der Schiene erreichen
kann.
a) Nach Art. 1 § 3 CIM werden auch Vor- und Nachläufe auf der Straße
im Binnenverkehr eines Mitgliedstaats den Einheitlichen Rechtsvorschriften für
den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Gütern unter-
stellt, sofern diese Beförderungen Teil einer durchgehenden internationalen
Beförderung sind und eine grenzüberschreitende Beförderung auf der Schiene
ergänzen. Die Straßenbeförderung muss in einem Mitgliedstaat stattfinden und
darf - zur Vermeidung von Überschneidungen mit anderen internationalen
Übereinkommen wie etwa der CMR - nicht grenzüberschreitend sein (Koller,
Transportrecht, 8. Aufl., Art. 1 CIM Rn. 4a; MünchKomm.HGB/Freise, 2. Aufl.,
Art. 1 CIM Rn. 11; ders., TranspR 2012, 1, 3). Im Verhältnis zur Schienenbeför-
derung darf der Straßenbeförderung lediglich eine untergeordnete Bedeutung
zukommen. Dies ergibt sich aus der Formulierung "in Ergänzung" in Art. 1 § 3
CIM. Dadurch wird zum Ausdruck gebracht, dass Hauptgegenstand des einheit-
lichen Frachtvertrags die Schienenbeförderung sein muss. Die Strecke, die auf
der Straße zurückgelegt wird, muss daher kurz im Verhältnis zu der Strecke
sein, die auf Schienen zurückgelegt wird (vgl. auch Begründung des Regie-
rungsentwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 3. Juni 1999 betreffend
die Änderung des Übereinkommens vom 9. Mai 1980 über den internationalen
Eisenbahnverkehr [COTIF], BR-Drucks. 929/01, S. 197; MünchKomm.HGB/
Freise aaO Art. 1 CIM Rn. 11; ders., TranspR 1999, 417, 421; Kunz, TranspR
2005, 329, 338). Mithin können auch multimodale Beförderungen nach den
Vorschriften der CIM zu beurteilen sein, wenn der Hauptanteil des Transports
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auf Schienen erfolgt und die Beförderung einem einzigen Beförderungsvertrag
unterliegt.
Der Wortlaut von Art. 1 § 3 CIM bietet keine hinreichenden Anhaltspunk-
te für die Annahme, dass diese Vorschrift nur Hilfstransporte auf der Straße
erfasst, die deshalb erfolgen, weil der Übernahme- oder der Ablieferungsort auf
der Schiene nicht erreicht werden kann. Auch wenn der Absender oder der
Empfänger über einen Gleisanschluss verfügen und daher grundsätzlich auf der
Schiene zu erreichen sind, können es Wirtschaftlichkeits- oder Zweckmäßig-
keitsgründe - etwa wegen der Art oder Menge des zu befördernden Gutes, der
Schwierigkeiten bei seiner Verladung oder der Anbindung des vorhandenen
Gleisanschlusses an das überregionale Schienennetz - nahelegen oder erfor-
dern, eine Zubringerbeförderung auf der Straße vorzunehmen. Von derartigen
Wirtschaftlichkeits- oder Zweckmäßigkeitsüberlegungen kann die Anwendung
der CIM schon aus Gründen der Rechtssicherheit nicht abhängen. Auch Sinn
und Zweck des Art. 1 § 3 CIM, den Anwendungsbereich der Einheitlichen
Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförde-
rung von Gütern auszuweiten (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs eines
Gesetzes zu dem Protokoll vom 3. Juni 1999 betreffend die Änderung des
Übereinkommens vom 9. Mai 1980 über den internationalen Eisenbahnverkehr
[COTIF] aaO S. 197), sprechen gegen die vom Berufungsgericht vorgenomme-
ne einschränkende Auslegung.
Der entgegenstehenden, vereinzelt gebliebenen Ansicht im Schrifttum
(Koller aaO Art. 1 CIM Rn. 4a), die anregt, für die Auslegung des Art. 1 § 3 CIM
eine Parallele zu Art. 18 Abs. 3 Satz 2 WA 1955 und Art. 18 Abs. 4 Satz 2 MÜ
zu ziehen, vermag der Senat nicht beizutreten. Sowohl in Art. 18 Abs. 3 Satz 1
WA 1955 als auch in Art. 18 Abs. 4 Satz 1 MÜ ist zunächst ausdrücklich be-
stimmt, dass der Zeitraum der Luftbeförderung nicht die Beförderung zu Land,
zur See oder auf Binnengewässern außerhalb eines Flughafens umfasst. Von
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einem Straßentransport als "Ergänzung" ist in Art. 18 Abs. 3 WA 1955 und
Art. 18 Abs. 4 MÜ - anders als in Art. 1 § 3 CIM - keine Rede. Der Wortlaut der
genannten Vorschriften legt daher schon keine einheitliche Auslegung mit Art. 1
§ 3 CIM nahe. Es kommt hinzu, dass Art. 18 Abs. 3 Satz 2 WA 1955 und Art. 18
Abs. 4 Satz 2 MÜ lediglich eine widerlegbare Vermutungsregelung enthalten.
Die Vorschrift des Art. 1 § 3 CIM bestimmt demgegenüber klar und eindeutig,
dass sie die Anwendung des Haftungsbereichs der CIM in besonderen Fällen
eines multimodalen Transports für die gesamte Beförderungsstrecke eröffnet.
Der Unterschied zwischen den luftfrachtrechtlichen Bestimmungen und Art. 1
§ 3 CIM wird vor allem deutlich, wenn der Schadensort dem vorgelagerten oder
dem nachfolgenden Straßentransport zugeordnet werden kann. Für diesen Fall
kommen die Vorschriften des Warschauer Abkommens und des Montrealer
Übereinkommens nicht zur Anwendung (vgl. BGH, Urteil vom 10. Mai 2012
- I ZR 109/11, TranspR 2012, 466 Rn. 28 = RdTW 2013, 58). Nach Art. 1 § 3
CIM gelten in einem solchen Fall dagegen grundsätzlich auch die Einheitlichen
Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförde-
rung von Gütern.
b) Die weiteren Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 1 § 3 CIM
sind im Streitfall ebenfalls erfüllt. Die Beklagte wurde von der Versicherungs-
nehmerin einheitlich mit der Beförderung des hier in Rede stehenden Contai-
ners von Istanbul nach Nürnberg beauftragt. Die Hilfstransporte auf der Straße
waren sowohl in der Türkei als auch in Deutschland im Verhältnis zur Schie-
nenbeförderung lediglich von untergeordneter Bedeutung. Es handelte sich je-
weils um einen Binnentransport über wenige Kilometer in derselben Stadt (Is-
tanbul und Nürnberg). Sowohl die Türkei als auch Deutschland sind ohne Vor-
behalte (Art. 1 § 6 CIM) Mitgliedstaaten der CIM (vgl. Koller aaO Art. 1 CIM
Rn. 5).
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c) Bei der CIM handelt es sich - ebenso wie bei der CMR und dem Mont-
realer Übereinkommen - um einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mit-
gliedstaaten, der zugleich innerstaatliches materielles Recht enthält (Koller aaO
Vor Art. 1 CIM Rn. 2). In Art. 5 Satz 1 CIM ist bestimmt, dass jede Vereinba-
rung, die unmittelbar oder mittelbar von den Einheitlichen Rechtsvorschriften
abweicht, nichtig und ohne Rechtswirkung ist, es sei denn die Rechtsvorschrif-
ten lassen eine Abweichung ausdrücklich zu. Daher steht die Anwendbarkeit
der CIM-Vorschriften grundsätzlich nicht zur Disposition der Parteien. Sofern
die Voraussetzungen - wie im Streitfall - für die Anwendung der CIM-
Vorschriften erfüllt sind, beurteilt sich die Haftung des Frachtführers (Beförde-
rers) für Verluste (auch Teilverluste) zwingend nach den Art. 23 bis 29 (Haf-
tungsgrund) und den Art. 30 bis 38 CIM (Höhe der Haftung).
Da das Berufungsgericht eine Schadensersatzpflicht der Beklagten auf
der Grundlage des deutschen Landfrachtrechts (§§ 407 ff. HGB) angenommen
hat, kann seine die Berufung zurückweisende Entscheidung keinen Bestand
haben.
4. Ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäi-
schen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Auslegung von Art. 1 § 3 CIM ist
im Streitfall nicht erforderlich. Der Rat der Europäischen Union hat allerdings
durch Beschluss vom 16. Juni 2011 den Beitritt der Union zum Übereinkommen
über den Internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) auf der Grundlage von
Art. 38 COTIF im Namen der Union genehmigt (Beschluss 2013/103/EU, ABl. L
51, S. 1). Der Beitritt der Europäischen Union zum COTIF ist nach Art. 9 Satz 1
der Vereinbarung zwischen der Zwischenstaatlichen Organisation für den Inter-
nationalen Eisenbahnverkehr (OTIF) und der Europäischen Union vom 23. Juni
2011 (ABl. L 51 vom 23. Februar 2013 S. 8) am 1. Juli 2011 in Kraft getreten.
Durch den Beitritt der Europäischen Union zum COTIF sind dessen Vorschriften
Bestandteil der Rechtsordnung der Union geworden. Für das Montrealer Über-
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einkommen, dem die Union ebenfalls beigetreten ist, hat der Gerichtshof der
Europäischen Union aufgrund dieses Beitritts eine Befugnis zur Auslegung der
Vorschriften dieses Übereinkommens in Anspruch genommen (vgl. EuGH, Ur-
teil vom 22. November 2012 - C-410/11, TranspR 2013, 201 Rn. 20
- Sánchez/Iberia, mwN). Da die Bestimmungen des COTIF und der CIM, deren
Vorschriften als Anlage B integraler Bestandteil des Übereinkommens sind,
Gegenstand der Unionsrechtsordnung sind, kommt auch insoweit eine Befugnis
des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Auslegung der Bestimmungen
der CIM im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 Abs. 1
AEUV in Betracht. Ob sich daraus auch eine Vorlagepflicht eines letztinstanzli-
chen Gerichts eines Mitgliedstaats der CIM nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ergeben
kann (bejahend Basedow, Festschrift Schlechtriem, 2003, S. 165, 186;
Schmidt-Kessel, GPR 2004, 106, 107; differenzierend Wegener in Calliess/
Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., Art. 267 AEUV Rn. 10; Ehricke in Streinz,
EUV/EGV, 2003, Art. 234 EGV Rn. 19), braucht im Streitfall nicht entschieden
zu werden.
Im vorliegenden Fall ist eine Vorlage zur Auslegung der Tatbestandsvor-
aussetzung "in Ergänzung der grenzüberschreitenden Beförderung auf der
Schiene" in Art. 1 § 3 CIM ohnehin nicht geboten. Nach der Rechtsprechung
des Gerichtshofs der Europäischen Union bedarf es keiner Vorabentscheidung
nach Art. 267 Abs. 3 AEUV, wenn hinsichtlich der Auslegung des sekundären
Unionsrechts keine vernünftigen Zweifel bestehen (st. Rspr.; vgl. EuGH, Urteil
vom 6. Oktober 1982 - 283/81, Slg. 1982, 3415 Rn. 16 - C.I.L.F.I.T.; Urteil vom
15. September 2005 - C-495/03, Slg. 2005, I-8151 Rn. 33 - Intermodal Trans-
ports). Das ist hier der Fall. Die Lkw-Beförderungen in Istanbul und Nürnberg
umfassten jeweils nur eine kurze Strecke von wenigen Kilometern. Sie hatten
daher keinen eigenständigen, sondern lediglich einen die Schienenbeförderung
von Istanbul nach Nürnberg ergänzenden Charakter. Das reicht für das Vorlie-
gen der Voraussetzungen des Art. 1 § 3 CIM aus.
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5. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden (§ 563 Abs. 3
ZPO), weil noch weitere Feststellungen zur Frage erforderlich sind, ob und ge-
gebenenfalls in welchem Umfang Transportgut während der Obhutszeit der Be-
klagten (Art. 23 Abs. 1 CIM) abhandengekommen ist (dazu nachfolgend un-
ter III.). Zudem haben die Vorinstanzen keine Feststellungen dazu getroffen, ob
Ansprüche der Versicherungsnehmerin - wie die Beklagte geltend gemacht
hat - gemäß Art. 47 § 1 CIM erloschen sind.
Auf die Revision der Streithelferin zu 2 ist der angefochtene Beschluss
daher aufzuheben. Die Sache ist zur Verhandlung und neuen Entscheidung,
auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückzuverwei-
sen.
III. Für das neue Berufungsverfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
1. Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts steht aufgrund der von
der Klägerin vorgelegten Schriftstücke nicht fest, dass der von der Beklagten
übernommene Transportcontainer mit der Nummer PSSU 982457-9 die von der
Klägerin behauptete Anzahl von Artikeln der Unterhaltungselektronik enthalten
hat.
a) Die Klägerin macht gegen die Beklagte Schadensersatz wegen des
Verlusts von Transportgut (Waren der Unterhaltungselektronik) geltend. Sie
muss daher substantiiert darlegen und, da die Beklagte die Sachdarstellung der
Klägerin insoweit bestritten hat, auch beweisen, dass das Gut während der Ob-
hutszeit der Beklagten (Art. 23 § 1 CIM) abhandengekommen und wie hoch der
eingetretene Schaden ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 26. April 2007
- I ZR 31/05, TranspR 2007, 418 Rn. 13; Urteil vom 13. September 2012
- I ZR 14/11, TranspR 2013, 192 Rn. 13 = RdTW 2013, 201 mwN, jeweils zu
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Art. 17 CMR). Dies umfasst neben dem Beweis der Übernahme von Gütern als
solchen auch den Nachweis ihrer Identität, ihrer Art, ihrer Menge und ihres Zu-
stands. Die Frage, ob der Schadensersatz verlangende Kläger den ihm oblie-
genden Beweis geführt hat, ist grundsätzlich nach den allgemeinen Regeln des
Zivilprozessrechts, insbesondere nach § 286 ZPO, zu beurteilen (BGH,
TranspR 2013, 192 Rn. 13; Helm, Frachtrecht II, CMR, Art. 17 Rn. 46). Die rich-
terliche Überzeugung davon, dass sich in dem von der Beklagten übernomme-
nen Transportcontainer Waren in dem von der Klägerin behaupteten Umfang
befanden, setzt einen Grad an Gewissheit voraus, der Zweifeln Schweigen ge-
bietet (vgl. BGH, Urteil vom 4. November 2003 - VI ZR 28/03, NJW 2004, 777,
778 = VersR 2004, 118; BGH, TranspR 2013, 192 Rn. 13).
b) Von diesen Grundsätzen ist das Berufungsgericht bei seiner Beurtei-
lung, dass die Klägerin den von ihr behaupteten Schadensumfang bewiesen
habe, im Ansatz auch ausgegangen. Seine weitere Annahme, aus einer Ge-
samtschau der von der Klägerin vorgelegten Dokumente ergebe sich, dass die
Beklagte die in der Handelsrechnung vom 29. Januar 2009 aufgeführten Waren
zum Transport übernommen habe, trifft jedoch nicht zu.
aa) Das Berufungsgericht hat seine Beurteilung insbesondere auf vier
von der Klägerin vorgelegte Schriftstücke gestützt: auf die Handelsrechnung
vom 29. Januar 2009, eine Ladeliste vom 28. Januar 2009 (Anlage K 2), eine
"Vorverladekontrollliste" (Anlage K 3) sowie einen Schadensbericht vom
6. Februar 2009 (Anlage K 5). Der Inhalt dieser Dokumente rechtfertigt entge-
gen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht den Schluss auf die Richtigkeit des
Vortrags der Klägerin zum Inhalt des von der Beklagten übernommenen Trans-
portcontainers mit der Nummer PSSU 982457-9.
Die Anlagen K 2, K 3 und K 5 sind für die Beurteilung der Frage, welchen
Inhalt der hier in Rede stehende Transportcontainer zum Zeitpunkt der Über-
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nahme zur Beförderung hatte, unergiebig. Die "Vorverladeliste" lässt nicht er-
kennen, wann sie angefertigt wurde und welche Kontrolle durch die handschrift-
lich hinzugesetzten Haken zum Ausdruck gebracht werden sollte. Die Beklagte
hat überdies mit Recht darauf hingewiesen, dass die angeblich dokumentierte
Prüfung bereits lange Zeit vor der Beladung des Containers stattgefunden ha-
ben könnte. Zudem sind die mit Haken versehenen Spalten und Zeilen unleser-
lich und daher nicht verständlich. Der Beweiswert der "Ladeliste" ist zweifelhaft.
Nach der Darstellung der Beklagten lautet die Übersetzung der türkischen Be-
zeichnung dieses Schriftstücks nicht "Ladeliste" sondern "Lieferschein". Da das
Berufungsgericht hierzu keine Feststellungen getroffen hat, ist im Revisionsver-
fahren zugunsten der Beklagten von deren Vortrag auszugehen. Damit hat die
Beklagte gerade in Zweifel gezogen, dass eine Kontrolle des verladenen Gutes
bei geöffnetem Container stattgefunden hat und dass das Ergebnis einer sol-
chen Kontrolle auf dem fraglichen Schriftstück durch Abhaken zum Ausdruck
gebracht wurde. Dem "Schadensbericht" vom 6. Februar 2009 kann schon des-
halb keine Beweiswirkung für den Inhalt des an die Beklagte übergebenen
Transportcontainers entnommen werden, weil dieses Dokument erst bei der
Entladung in Nürnberg erstellt wurde. Als einziges Schriftstück, das Rück-
schlüsse auf den Umfang des in den Container mit der Nummer
PSSU 982757-9 verladenen Gutes zulässt, verbleibt mithin die Handelsrech-
nung vom 29. Januar 2009.
bb) Für vom Anspruchsteller behauptete Paketinhalte hat der Senat zwar
entschieden, dass sich der Tatrichter die Überzeugung von der Richtigkeit des
angegebenen Inhalts anhand eines Lieferscheins und einer dazu korrespondie-
renden Rechnung bilden kann. Es kann allerdings auch ausreichen, dass nur
eines der beiden Dokumente vorgelegt wird und der beklagte Frachtführer da-
gegen keine substantiierten Einwände erhebt (BGH, Versäumnisurteil vom
22. Oktober 2009 - I ZR 119/07, TranspR 2010, 73 Rn. 20; BGH, TranspR
2013, 192 Rn. 16).
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Die zum Inhalt von verlorengegangenen Paketen aufgestellten Grund-
sätze sind auf die im Streitfall zu beurteilende Fallgestaltung jedoch nicht ohne
weiteres übertragbar. Das Berufungsgericht hat zugunsten der Beklagten unter-
stellt, dass sie einen bereits vorgeladenen und anschließend verschlossenen
und verplombten Container zum Transport übernommen hat. Der übernehmen-
de Lkw-Fahrer konnte mit einer Unterschrift daher nur bestätigen, bei der türki-
schen Absenderin einen Container mit der Nummer PSSU 982457-9 übernom-
men zu haben (vgl. BGH, Urteil vom 24. Oktober 2002 - I ZR 104/00, TranspR
2003, 156, 158; BGH, TranspR 2013, 192 Rn. 19). Das Verpacken von Waren
in Kartons kann auch nicht gleichgesetzt werden mit dem Beladen eines Lkw,
einer Wechselbrücke oder eines Containers. Bei der Versendung von Paketen
ist eine in Täuschungsabsicht vorgenommene Fehlbestückung durch den Ver-
sender oder seine Bediensteten im Allgemeinen eher unwahrscheinlich, weil
nicht vorausgesehen werden kann, ob gerade dasjenige Paket verlorengeht,
das nur unzureichend bestückt wurde. Bei einem vom Versender selbst vorge-
ladenen und verplombten Transportcontainer, dessen Inhalt - wie das Beru-
fungsgericht unterstellt hat - vom Frachtführer bei der Übernahme nicht über-
prüft werden kann, besteht dagegen die Möglichkeit, gerade diesen Container
gezielt entwenden zu lassen. Der Anreiz für eine Fehlbeladung eines vom Ver-
sender selbst verschlossenen und verplombten Transportcontainers ist daher
deutlich größer als bei einem Paket.
Das Berufungsgericht wird daher im wiedereröffneten Berufungsverfah-
ren - gegebenenfalls durch die Vernehmung von Zeugen - klären müssen, ob
nach diesen Grundsätzen zur Überzeugung des Gerichts festgestellt werden
kann, dass der Container mit der Nummer PSSU 982457-9 den von der Kläge-
rin behaupteten Inhalt hatte, als er von der Beklagten zur Beförderung über-
nommen wurde. Dabei wird das Berufungsgericht insbesondere auch den un-
streitigen Umstand zu berücksichtigen haben, dass alle vier Plomben, mit de-
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nen der Container versiegelt wurde, bei der Ankunft am Entladeort in Nürnberg
unversehrt waren. Die Beklagte hat unter Beweisantritt vorgetragen, die ver-
wendeten Plomben seien manipulationssicher, so dass eine Entwendung des
Transportgutes aus dem Container unter Umgehung oder durch Manipulation
der Plomben nicht möglich gewesen sei. Der Beweisantritt der Beklagten durfte
auch nicht mit der Begründung unbeachtet bleiben, es sei denkbar, dass inter-
national tätige Diebesbanden über ein Verplombungsgerät verfügten, mit des-
sen Hilfe es möglich sei, eine Plombe aufzubrechen und danach wieder den
Eindruck einer ordnungsgemäßen Verplombung zu erzeugen.
2. Da sich eine mögliche Schadensersatzpflicht der Beklagten nach dem
Haftungsregime der CIM beurteilt, sind für den Umfang des von der Beklagten
geschuldeten Ersatzes die Art. 30 ff. CIM maßgeblich. Ob ein dem Beförderer
(Frachtführer) anzulastendes qualifiziertes Verschulden gegeben ist, das zum
Wegfall von gesetzlich vorgesehenen Haftungsbegrenzungen führt, ist nach
Art. 36 CIM zu beurteilen. Liegen die Voraussetzungen für die Annahme eines
qualifizierten Verschuldens im Sinne von Art. 36 CIM vor, kommen, da die CIM-
Vorschriften keinen eigenen Schadensbegriff enthalten, die Bestimmungen des
allgemeinen Schadensersatzrechts des ergänzend heranzuziehenden nationa-
len Rechts und damit nach deutschem Recht die §§ 249 ff. BGB zur Anwen-
dung (MünchKomm.HGB/Freise aaO Art. 36 CIM Rn. 5; Thume, TranspR 2008,
78, 79).
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Der von der Klägerin geltend gemachte entgangene Gewinn ist grund-
sätzlich nach § 252 BGB zu ersetzen. Macht der Geschädigte diesen geltend,
ist allerdings nicht die anteilige Fracht gemäß Art. 30 § 4 CIM erstattungsfähig
(vgl. MünchKomm.HGB/Freise aaO Art. 36 CIM Rn. 6).
Büscher
Pokrant
Schaffert
Kirchhoff
Koch
Vorinstanzen:
LG Nürnberg-Fürth, Entscheidung vom 28.09.2010 - 2 HKO 8146/09 -
OLG Nürnberg, Entscheidung vom 31.05.2012 - 12 U 2078/10 -
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