Urteil des BFH vom 18.06.2008

BFH: Divergenz, Haftungszeitraum für die Ermittlung der Haftungsquote wegen Umsatzsteuerrückständen, gesellschaft, erheblichkeit, rüge, berechnungsgrundlagen, revisionsgrund, rechtseinheit

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 18.6.2008, VII B 200/07
Divergenz - Haftungszeitraum für die Ermittlung der Haftungsquote wegen Umsatzsteuerrückständen
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) war von 1994 an bis zur Löschung der Gesellschaft nach Zurückweisung
eines Gesamtvollstreckungsantrages mangels Masse am 20. Januar 1999 alleiniger Geschäftsführer der … GmbH
(GmbH).
2 Aus Umsatzsteuervoranmeldungen für das I., II. und IV. Quartal 1995 ergaben sich für die GmbH Vorsteuererstattungen.
3 Am 26. September 1996 reichte der Kläger für die GmbH eine Umsatzsteuererklärung für das Jahr 1995 ein, die mit
einer verbleibenden Umsatzsteuer in Höhe von 8 554,50 DM schloss. Ein Abrechnungsbescheid für die Umsatzsteuer
1995, der später aus verfahrensrechtlichen Gründen zurückgenommen wurde, wies Umbuchungen von
Vorsteuerbeträgen aus den Voranmeldungen in Höhe von 18 674,64 DM im Wesentlichen auf geschuldete
Umsatzsteuern, Zinsen und Säumniszuschläge 1991 und 1993 aus, so dass sich zuzüglich der angemeldeten und
festzusetzenden Umsatzsteuer für 1995 eine Zahllast in Höhe von 27 229,14 DM ergab.
4 Wegen der Umsatzsteuerschulden der GmbH nahm der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) den
Kläger in Höhe von 33 780,84 DM in Haftung (Umsatzsteuer für 1995 in Höhe von 27 229,14 DM, Säumniszuschläge
auf die seit dem 1. November 1996 fällige Umsatzsteuer 1995 in Höhe von 4 896,00 DM, Umsatzsteuer 1996 in Höhe
von 1 631,60 DM nebst Zinsen). Im Einspruchsverfahren machte der Kläger Angaben zu Verbindlichkeiten und
Zahlungen im angegebenen Haftungszeitraum. In der Einspruchsentscheidung wurde deshalb eine Haftungsquote von
61,9 % zugrunde gelegt und die Haftungssumme auf 10 683,66 EUR festgesetzt.
5 Mit der Klage wandte sich der Kläger gegen die Haftung für Umsatzsteuern, die im Zeitraum vor 1995 entstanden sind.
Diese seien verjährt. Auch Umbuchungen von Guthaben aus Umsatzsteuervoranmeldungen des Jahres 1995 auf
ältere Umsatzsteuerverbindlichkeiten rechtfertigten seine Haftung nicht. Im Laufe des finanzgerichtlichen Verfahrens
legte das FA einen gegenüber der Einspruchsentscheidung veränderten Berechnungsbogen zur Ermittlung der
Haftungssumme für den angenommenen Haftungszeitraum vom 1. November 1996 bis zum 20. April 1998 vor.
6 Das Finanzgericht (FG) hob den Haftungsbescheid auf. Es urteilte, der Kläger habe seine Pflicht, Steuerschulden der
von ihm vertretenen Gesellschaft zu bedienen, nicht schuldhaft i.S. des § 69 Satz 1 der Abgabenordnung verletzt. Auch
eine Pflicht zur anteiligen Tilgung der Umsatzsteuerschulden der GmbH lasse sich aus den vom FA angenommenen
Zahlen nicht ableiten. Der vom FA angenommene Beginn des Haftungszeitraums am 1. November 1996 --wegen
Fälligkeit des Anspruchs auf Rückerstattung der angemeldeten Vorsteuer in Höhe von 18 674,64 DM mit Abgabe der
Umsatzsteuererklärung 1995 am 1. Oktober 1996-- und daraus folgend die Nichtberücksichtigung der Umbuchungen
der Vorsteuererstattungsansprüche als Zahlungen im Haftungszeitraum sei fehlerhaft. Ergebe sich infolge der
Umsatzsteuerjahreserklärung oder des Umsatzsteuerbescheids ein Umsatzsteuerrückstand deshalb, weil der
Steuerschuldner zu niedrige Vorauszahlungen erbracht habe, sei für die Liquiditätslage des Steuerschuldners und die
Frage, ob Umsatzsteuerschulden jedenfalls anteilig befriedigt wurden, der Vorauszahlungszeitraum in Betracht zu
ziehen (Hinweis auf das Senatsurteil vom 12. April 1988 VII R 131/85, BFHE 153, 199, BStBl II 1988, 742). Es sei
deshalb ohne weiteres die Betrachtung der Verbindlichkeiten und Tilgungen des Steuerschuldners auf den
Vorauszahlungszeitraum der Umsatzsteuer, für die in Haftung genommen wird, zu erstrecken (Hinweis auf das
Senatsurteil vom 12. Juli 1988 VII R 4/88, BFHE 154, 206, BStBl II 1988, 980). Demnach habe der Haftungszeitraum am
10. Tag nach Ablauf des I. Quartals 1995 begonnen mit der Folge, dass die vorgenommenen Umbuchungen als
Zahlungen auf Steuerrückstände des Jahres 1995 zu berücksichtigen seien. Unter Zugrundelegung der übrigen
Zahlen, die auf der Annahme eines Haftungszeitraums vom 1. November 1996 bis zum 20. April 1998 beruhten, könne
eine Haftungsschuld des Klägers nicht errechnet werden. Auf dieser Grundlage könne demnach der Haftungsbescheid
keinen Bestand haben.
7 Das FA hält die Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 2.
Alternative der Finanzgerichtsordnung (FGO) für geboten, weil das FG von einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs
(BFH) abgewichen sei. In der Entscheidung vom 27. Februar 2007 VII R 60/05 (BFHE 216, 487, BFH/NV 2007, 1731 --II,
Tz. 3a--) stelle der BFH den folgenden Rechtssatz auf: "Nach der Rechtsprechung des Senats sind grundsätzlich alle
Verbindlichkeiten in die Berechnung der anteiligen Tilgungsquote einzubeziehen, ungeachtet ihres Rechtsgrundes".
Aus den Ausführungen des FG lasse sich dagegen der abstrakte Rechtssatz bilden: Zu Beginn des Haftungszeitraums
fällige und im Haftungszeitraum getilgte Umsatzsteuerverbindlichkeiten sind ohne Einbeziehung in die Tilgungsquote
(Tilgungen/Gesamtverbindlichkeiten) direkt von der Haftungssumme abzuziehen.
8 Der vom FG aufgestellte Rechtssatz sei auch für seine Entscheidung kausal. Die übrigen Steuerrückstände in Höhe von
42 613,00 DM (1.4.1 der Haftungsberechnung) setzten sich aus Umsatzsteuer 1995 und 1996 incl. Nebenabgaben und
pauschalierter Lohnsteuer (3 637,00 DM) zusammen. Hätte das FG den Betrag in Höhe von 18 674,64 DM im Rahmen
der Ermittlung der anteiligen Tilgungsquote berücksichtigt, ergäbe sich eine Haftungssumme in Höhe von 12 255,00
DM. Das FG errechne indes eine Haftungssumme in Höhe von 0,00 DM.
Entscheidungsgründe
9
II. Die Beschwerde ist ungeachtet der Zweifel an der hinreichenden Darlegung eines Zulassungsgrundes i.S. § 116
Abs. 3 Satz 3 FGO jedenfalls unbegründet.
10 1. Der vom FA geltend gemachte Zulassungsgrund des § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO, liegt nicht vor. Danach
muss die Zulassung der Revision durch den BFH erforderlich sein, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu
sichern. Eine die Rechtseinheit gefährdende Abweichung setzt u.a. voraus, dass das FG seiner Entscheidung einen
abstrakten Rechtssatz zugrunde gelegt hat, der mit den tragenden Rechtsausführungen in der
Divergenzentscheidung nicht übereinstimmt. Es liegt aber gleichwohl kein Zulassungsgrund vor, wenn die
abweichend beantwortete Frage nicht rechtserheblich war. Erheblichkeit liegt nur vor, wenn ein ursächlicher
Zusammenhang zwischen der Abweichung und dem Ergebnis der Entscheidung nicht ausgeschlossen werden kann
(ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschluss vom 11. August 2006 V B 23/04, BFH/NV 2007, 60, m.w.N.). Das ist
nicht der Fall, wenn für die Entscheidung des FG rechtliche Erwägungen maßgeblich waren, die von den vermeintlich
divergierenden Rechtssätzen nicht berührt werden. So liegt es hier.
11 Entscheidend für die Aufhebung des Haftungsbescheides war für das FG, dass die Haftungssumme für einen aus
seiner Sicht falschen Haftungszeitraum, nämlich vom 1. November 1996 bis zum 20. April 1998 statt beginnend mit
dem 10. Tag nach Ablauf des I. Quartals 1995 berechnet worden ist. Für diesen erweiterten Zeitraum lagen die in die
Berechnung einzubeziehenden Zahlen nicht vor. Nach Auffassung des FG konnte der Haftungsbescheid keinen
Bestand haben, da die Haftungsschuld für den richtigen Haftungszeitraum aus den vom FA zugrunde gelegten Zahlen
nicht errechnet werden konnte. Seine Annahme, dass die vorgenommenen Umbuchungen als Zahlungen auf
Steuerrückstände des Jahres 1995 hätten berücksichtigt werden müssen und dann die Haftungssumme 0,00 DM
betragen hätte, ergab sich als Folge der Erweiterung des Haftungszeitraums. Auch wenn die Rüge berechtigt wäre,
dass sich bei zutreffender Berücksichtigung der umgebuchten Vorsteuererstattungsbeträge im Rahmen der vom FA
vorgelegten Berechnung ein Haftungsbetrag von 12 255,00 DM ergeben hätte, würde dies nichts daran ändern, dass
die Berechnungsgrundlagen für den vom FG für richtig gehaltenen Haftungszeitraum nicht vollständig vorlagen. Das
aber war für das FG ausschlaggebend für die Aufhebung des Haftungsbescheides.
12 Einwendungen gegen die vom FG vorgenommene Festlegung des Haftungszeitraums sind der Beschwerde nicht zu
entnehmen.
13 2. Auch wenn Zweifel angebracht erscheinen, ob das FG zum einen bei der von ihm --für den vom FA angenommenen
Haftungszeitraum-- errechneten Haftungsquote die nach dem Senatsurteil in BFHE 216, 487, BFH/NV 2007, 1731 zu
berücksichtigenden Positionen zutreffend eingestellt hat und ob es zum Anderen berechtigt war, den
Haftungsbescheid aufzuheben anstatt die zutreffende Quote von Amts wegen zu ermitteln, führt dies nicht zur
Zulassung des Revision. Fehlerhafte Rechtsanwendung in einem FG-Urteil ist allein kein Revisionsgrund. Allerdings
eröffnet § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO die Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach
der Rechtsprechung des BFH auch dann, wenn das Urteil des FG an einem derart schwerwiegenden Fehler leidet,
dass es willkürlich und unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar erscheint (BFH-Beschluss vom 11.
Dezember 2001 VII B 346/06, BFH/NV 2008, 733). Anhaltspunkte dafür sind weder vorgetragen noch ersichtlich.