Urteil des BFH vom 24.10.2013

Sollbesteuerung und Steuerberichtigung

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 24.10.2013, V R 31/12
Sollbesteuerung und Steuerberichtigung
Leitsätze
Soweit ein der Sollbesteuerung unterliegender Unternehmer seinen Entgeltanspruch aufgrund
eines vertraglichen Einbehalts zur Absicherung von Gewährleistungsansprüchen über einen
Zeitraum von zwei bis fünf Jahren nicht verwirklichen kann, ist er bereits für den
Voranmeldungszeitraum der Leistungserbringung zur Steuerberichtigung berechtigt.
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH & Co. KG, ist im Bereich der
Oberflächentechnik (Malerarbeiten, Strahltechnik und Verzinkerei) tätig.
2 In ihrer für das Streitjahr 2007 abgegebenen Umsatzsteuerjahreserklärung vom 8. April 2008,
die einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 168 Satz 1 der
Abgabenordnung gleichstand, berücksichtigte die Klägerin sog. Sicherheitseinbehalte für
mögliche Baumängel nicht als bereits bei der Leistungserbringung zu versteuerndes Entgelt.
3 Im Anschluss an eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung ging der Beklagte und Revisionsbeklagte
(das Finanzamt --FA--) demgegenüber davon aus, dass die Klägerin ihre Leistungen auch im
Umfang der Sicherheitseinbehalte bereits mit Leistungserbringung zu versteuern habe. Das
FA erließ am 25. Juni 2008 einen entsprechenden Änderungsbescheid für das Streitjahr.
4 Einspruch und Klage zum Finanzgericht (FG) hatten keinen Erfolg. Nach dem in
"Entscheidungen der Finanzgerichte" 2012, 2167 veröffentlichten Urteil des FG ist die
Klägerin nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Umsatzsteuergesetzes (UStG) in der für das
Streitjahr geltenden Fassung unter Berücksichtigung der hierzu ergangenen Rechtsprechung
des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Besteuerung nach vereinbarten Entgelten (Sollbesteuerung)
auch im Umfang der Sicherungseinbehalte verpflichtet. Die Voraussetzungen für eine
Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten (Istbesteuerung) gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1
Buchst. b UStG i.V.m. § 20 UStG hätten nicht vorgelegen. Daher habe die Klägerin ihre
Leistungen bei Erbringung unabhängig von einer Entgeltvereinnahmung zu versteuern. Eine
Berichtigung wegen Uneinbringlichkeit nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG liege nicht vor. Eine
derartige Uneinbringlichkeit sei nur aufgrund konkreter Mängelrügen anzunehmen, die im
Streitfall nicht vorlägen. Nach den von der Klägerin geschlossenen Verträgen sei sie
zumindest gegen Übernahme von Gewährleistungsbürgschaften zur vollen
Entgeltvereinnahmung berechtigt gewesen.
5 Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Revision, die sie auf Verletzung materiellen
Rechts stützt. Ihre Auftraggeber hätten zwischen 5 % bis 10 % der Auftragssumme als
Sicherheit für Gewährleistungszeiträume von zwei oder fünf Jahren einbehalten. Im Umfang
dieser Sicherungseinbehalte habe sie nicht über liquide Mittel verfügt. Bereits mangelnder
Zahlungswille reiche für eine Berichtigung nach § 17 UStG aus. Es bestehe kein Erfordernis
einer Entgeltsminderung oder einer Mängelrüge. Dies entspreche auch der Rechtsprechung
zum Insolvenzrecht, nach der dem Zahlungseingang erhebliche Bedeutung zukomme. Sie sei
als bloßer Steuereinnehmer nicht zur Vorfinanzierung von Steuern verpflichtet. Zudem habe
sie im Streitjahr von Banken keine Bürgschaften erhalten können.
6 Die Klägerin beantragt,
das Urteil des FG und den Umsatzsteueränderungsbescheid 2007 vom 25. Juni 2008 in
Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 4. November 2009 aufzuheben.
7 Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
8 Die Klägerin habe ihre Entgelte im Hinblick auf Gewährleistungsverpflichtungen unstreitig
teilweise erst nach zwei bis fünf Jahren vereinnahmt. § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG sei zwar bei
mangelndem Zahlungswillen oder bei Zahlungsunfähigkeit anzuwenden. Die Auftraggeber
der Klägerin hätten aber weder die Zahlungen noch das Bestehen oder die Höhe der
vereinbarten Entgelte bestritten. Eine lediglich temporäre Zahlungsunwilligkeit reiche nicht
aus. Die Klägerin habe weder konkrete Vereinbarungen vorgelegt noch Mängelrügen oder
Rechnungskürzungen nachgewiesen. Die Pflicht zur Vorfinanzierung im Rahmen der
Sollbesteuerung sei nicht rechtswidrig.
Entscheidungsgründe
9 II. Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und die Sache
an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Entgegen dem Urteil des FG kann die Klägerin im Umfang der Sicherungseinbehalte zu
einer Minderung wegen Uneinbringlichkeit nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG berechtigt sein. Zum
Umfang und den Voraussetzungen dieser Sicherungseinbehalte sind aber noch weitere
Feststellungen zu treffen.
10 1. Die Steuer für die von der Klägerin erbrachten Leistungen ist nach § 13 Abs. 1 Nr. 1
Buchst. a UStG mit dem Ablauf des Voranmeldungszeitraums der Leistungserbringung und
damit im Streitjahr entstanden.
11 a) Nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a UStG entsteht die Steuer für Lieferungen und sonstige
Leistungen bei der Berechnung der Steuer nach vereinbarten Entgelten und damit bei der
sog. Sollbesteuerung mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungen
ausgeführt worden sind.
12 Die Vorschrift beruht unionsrechtlich auf Art. 63 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom
28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL). Danach
treten Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von
Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird. Eine einschränkende
Auslegung dieser Bestimmung dergestalt, dass Steuertatbestand und Steueranspruch nur im
Umfang der Leistungsentgelte eintreten, die bei Leistungsbewirkung fällig und rechtlich
durchsetzbar sind, ist im Hinblick auf ihren eindeutigen Wortlaut nicht möglich.
13 Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 22. Juli 2010 V R 4/09 (BFHE 231, 260, BStBl II
2013, 590, unter II.4.b dd) ausdrücklich entschieden hat, verstößt die auf dem Unionsrecht
beruhende Sollbesteuerung nicht gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der
Verhältnismäßigkeit und ist aus diesem Grund auch verfassungsgemäß (vgl. auch den
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 20. März 2013 1 BvR 3063/10,
Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 2013, 535, Wertpapier-
Mitteilungen/Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht --WM-- 2013, 818, mit dem eine
Verfassungsbeschwerde gegen dieses Senatsurteil nicht zur Entscheidung angenommen
wurde). Soweit sich die Sollbesteuerung im Einzelfall als unverhältnismäßig erweisen sollte,
ist dem durch die Auslegung des Berichtigungstatbestandes der Uneinbringlichkeit (§ 17
Abs. 2 Nr. 1 UStG, vgl. auch Art. 90 Abs. 1 MwStSystRL) Rechnung zu tragen (BFH-Urteil in
BFHE 231, 260, BStBl II 2013, 590, unter II.4.b dd (1), und Wäger, Umsatzsteuer-Rundschau
2013, 673 ff., 674).
14 b) Im Streitfall entstand die Steuer für die Leistungen der Klägerin, die der Sollbesteuerung
nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a UStG unterlag, mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums der
Leistungserbringung und damit im Streitjahr, da ihr keine Genehmigung zur sog.
Istbesteuerung nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b UStG i.V.m. § 20 UStG erteilt worden war.
15 2. Das Urteil des FG ist aufzuheben, da die Klägerin dem Grunde nach zu einer Berichtigung
des Steueranspruchs für die von ihr erbrachten Leistungen gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG
berechtigt ist.
16 a) Ändert sich die Bemessungsgrundlage für einen steuerpflichtigen Umsatz i.S. des § 1
Abs. 1 Nr. 1 UStG, hat der Unternehmer, der diesen Umsatz ausgeführt hat, gemäß § 17
Abs. 1 Satz 1 UStG den dafür geschuldeten Steuerbetrag zu berichtigen. Nach § 17 Abs. 2
Nr. 1 UStG gilt dies sinngemäß, wenn das vereinbarte Entgelt für eine steuerpflichtige
Lieferung, sonstige Leistung oder einen steuerpflichtigen innergemeinschaftlichen Erwerb
uneinbringlich geworden ist.
17 Diese Regelung beruht unionsrechtlich auf Art. 90 Abs. 1 MwStSystRL. Danach wird im
Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder
teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes die
Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen
entsprechend vermindert.
18 b) Bei der Auslegung des Begriffs der Uneinbringlichkeit i.S. von § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG ist
der für die Mitgliedstaaten bestehende Regelungsspielraum zu beachten, der sich daraus
ergibt, dass Art. 90 Abs. 1 MwStSystRL eine Verminderung der
Steuerbemessungsgrundlage für den Fall "der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung
... nach der Bewirkung des Umsatzes ... unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten
Bedingungen" anordnet. Bei der Ausübung dieser Regelungsbefugnis, die den
Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum einräumt, sind nach der Rechtsprechung des
BVerfG (BVerfG-Beschluss in HFR 2013, 535, WM 2013, 818, unter III.1.) wie auch nach der
Rechtsprechung des erkennenden Senats (BFH-Urteil in BFHE 231, 260, BStBl II 2013, 590,
unter II.4.e) die Grundrechte des nationalen Verfassungsrechts zu berücksichtigen.
19 c) Uneinbringlich ist ein Entgelt i.S. von § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG, wenn bei objektiver
Betrachtung damit zu rechnen ist, dass der Leistende die Entgeltforderung (ganz oder
teilweise) jedenfalls auf absehbare Zeit rechtlich oder tatsächlich nicht durchsetzen kann
(BFH-Urteil in BFHE 231, 260, BStBl II 2013, 590, unter II.4.b dd (1)). Kann der Unternehmer
das Entgelt für seine bereits erbrachten Leistungen aus Gründen, die bereits bei
Leistungserbringung vorliegen, für einen Zeitraum über zwei bis fünf Jahre nicht
vereinnahmen, ist erst recht von Uneinbringlichkeit i.S. von § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG
auszugehen.
20 Denn eine Vorfinanzierung der Umsatzsteuer über mehrjährige Zeiträume ist im Verhältnis
zur Besteuerung der Unternehmer, die der Istbesteuerung unterliegen, mit dem
Gleichheitsgrundsatz nicht vereinbar. Mit der Istbesteuerung (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b
UStG i.V.m. § 20 UStG) hat der Gesetzgeber die ihm nach Unionsrecht eingeräumte
Ermächtigung ausgeübt, für die Entstehung des Steueranspruchs nach Art. 66 Buchst. b
MwStSystRL auf die Vereinnahmung des Preises abzustellen. Die Auslegung des Begriffs
"Uneinbringlichkeit" muss auch dazu dienen, die Besteuerungsgleichheit zwischen den
Besteuerungsformen der Soll- und Istbesteuerung zu gewährleisten (BFH-Urteil in BFHE
231, 260, BStBl II 2013, 590, unter II.4.b dd (1) und oben II.1.a, und Wäger, a.a.O., S. 674).
21 Darüber hinaus wäre die Verpflichtung zu einer mehrjährigen Vorfinanzierung der
Umsatzsteuer mit Blick auf die dem Unternehmer zukommende Aufgabe, "öffentliche Gelder"
als "Steuereinnehmer für Rechnung des Staates" zu vereinnahmen (Urteile des
Europäischen Gerichtshofs vom 20. Oktober 1993 C-10/92, Balocchi, Slg. 1993, I-5105,
Rdnr. 25, und vom 21. Februar 2008 C-271/06, Netto Supermarkt, Slg. 2008, I-771, Rdnr. 21)
unverhältnismäßig. Ob dies auch für andere Fallgestaltungen wie z.B. die Lieferung im
Rahmen von Leasingverhältnissen zu gelten hat (so Senatsurteil vom 1. Oktober 1970
V R 49/70, BFHE 100, 272, BStBl II 1971, 34, unter 3.), ist im Streitfall nicht zu entscheiden.
22 d) Gegen Uneinbringlichkeit bereits im Voranmeldungszeitraum der Leistungserbringung
(§ 17 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 18 Abs. 1 UStG) spricht nicht das Senatsurteil vom
28. Juni 2000 V R 45/99 (BFHE 192, 129, BStBl II 2000, 703, unter II.4.). Dort hat der Senat
nur entschieden, dass sich Uneinbringlichkeit nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG und
nachträgliche Vereinnahmung nach Satz 2 dieser Vorschrift im selben Voranmeldungs- oder
Besteuerungszeitraum gegenseitig aufheben.
23 e) Die Annahme einer Uneinbringlichkeit aufgrund von Umständen, die bei
Leistungserbringung vorliegen, und die zu einer Berichtigung bereits für den
Voranmeldungszeitraum der Leistungserbringung führen, verstößt auch nicht gegen den
durch Art. 90 Abs. 1 MwStSystRL vorgegebenen Rechtsrahmen. Soweit es danach
erforderlich ist, eine Berichtigung "nach der Bewirkung des Umsatzes" vorzusehen, reicht es
aus, wenn es zur Uneinbringlichkeit nach der Leistungserbringung deshalb kommt, weil
keine Bürgschaft gestellt werden kann.
24 f) Ein Widerspruch zur Rechtsprechung des XI. Senats des BFH liegt nicht vor. Soweit dieser
in seinem Urteil vom 16. April 2008 XI R 56/06 (BFHE 221, 475, BStBl II 2008, 909) davon
ausgegangen ist, dass die Lieferung bereits bei ihrer Ausführung voll zu versteuern ist, betraf
dies eine Lieferung im Rahmen eines tauschähnlichen Vorgangs, bei dem vom Empfänger
der Lieferung keine Zahlungen zu leisten waren, so dass sich die Frage nach dem Zeitpunkt
einer Vereinnahmung von Geldbeträgen nicht stellen konnte.
25 3. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt
keine Feststellungen zu der Frage getroffen, in welchem Umfang die Klägerin aufgrund der
Sicherungseinbehalte Entgelte nicht vereinnahmen konnte.
26 Soweit die Klägerin nach den von ihr abgeschlossenen Verträgen eine vollständige
Entgeltzahlung bereits mit Leistungserbringung für den Fall beanspruchen konnte, dass sie
die Gewährleistungsansprüche ihrer Leistungsempfänger durch Bankbürgschaft sicherte,
kommt es dabei auch darauf an, ob der Klägerin eine derartige Bürgschaftsgestellung
möglich war.
27 Zu prüfen ist schließlich auch, ob die Klägerin im Streitjahr eine Steuerminderung für in
Vorjahren erbrachte Leistungen geltend gemacht hat, die dann aber nur zu einer
Berichtigung im Jahr der Leistungserbringung führen könnte.