Urteil des BFH vom 29.07.2015

Zur Umsatzsteuerfreiheit der weiteren Lagerung von im Rahmen einer Fruchtbarkeitsbehandlung eingefrorenen Eizellen durch einen Arzt

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 29.7.2015, XI R 23/13
Zur Umsatzsteuerfreiheit der weiteren Lagerung von im Rahmen einer
Fruchtbarkeitsbehandlung eingefrorenen Eizellen durch einen Arzt
Leitsätze
Die weitere Lagerung von im Rahmen einer Fruchtbarkeitsbehandlung eingefrorenen
Eizellen durch einen Arzt gegen ein vom Patienten gezahltes Entgelt ist umsatzsteuerfrei,
wenn damit ein therapeutischer Zweck verfolgt wird, z.B. zur Herbeiführung einer weiteren
Schwangerschaft bei einer andauernden organisch bedingten Sterilität. Auf die
ausdrückliche Äußerung eines entsprechenden (weiteren) Kinderwunsches kommt es nicht
an.
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom
14. März 2013 5 K 9/11 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine GbR. Sie betrieb in den
Streitjahren (2004 bis 2007) eine Arztpraxis für Reproduktionsmedizin, in der die
komplette Diagnostik und Therapie von Paaren mit Kinderwunsch stattfand.
2 Die Praxis führte künstliche Befruchtungen durch. Dazu wurden zunächst der
Patientin --oftmals nach vorheriger Hormonbehandlung-- Eizellen entnommen. Diese
Eizellen (regelmäßig nicht mehr als fünf) wurden befruchtet, anschließend in der
Praxis in flüssigem Stickstoff bei -196°C eingefroren (kryokonserviert) und gelagert.
Das Einfrieren und die Lagerung erfolgte nur für eigene Patienten mit der Diagnose
"Unfruchtbarkeit", d.h. wenn bei einem der beiden fortpflanzungswilligen Partner eine
organisch bedingte Sterilität vorlag.
3 Die Klägerin schuldete aufgrund der abgeschlossenen Verträge die Aufbereitung der
Eizellen für das Einfrieren, das Einfrieren selbst und die erstmalige Lagerung für die
Dauer von zwei Jahren (erstmalige Konservierung). Die Abrechnung der erstmaligen
Konservierung erfolgte durch eine Abrechnungsstelle.
4 Die Verträge konnten --darum geht es im Streitfall-- verlängert werden. Kurz vor
Ablauf der Lagerungszeit forderte die Klägerin die Patienten auf, mitzuteilen, ob das
gelagerte Material vernichtet oder die Lagerung der Eizellen für ein weiteres Jahr
gegen ein bestimmtes Entgelt verlängert werden solle (Vertragsverlängerung). Die
Aufforderung wurde danach jährlich wiederholt; eine zeitliche Begrenzung für die
Dauer der Lagerung war nicht vorgesehen. Die Abrechnung der Kosten für die
Vertragsverlängerung nahm die Klägerin gegenüber den Patienten selbst vor.
5 Die Klägerin behandelte sämtliche Leistungen als nach § 4 Nr. 14 des
Umsatzsteuergesetzes in der bis zum 31. Dezember 2008 geltenden Fassung (UStG
a.F.) steuerfrei. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) folgte nach
einer Außenprüfung der Auffassung der Klägerin nur hinsichtlich der Leistungen für die
erstmalige Konservierung und Lagerung. Die Umsätze der Klägerin aus der
verlängerten Lagerung behandelte es in den geänderten Umsatzsteuerbescheiden
vom 14. April 2010 als steuerpflichtig und ließ die damit zusammenhängenden
Vorsteuerbeträge zum Abzug zu. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
6 Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Sein Urteil ist in Entscheidungen der
Finanzgerichte (EFG) 2013, 978 veröffentlicht.
7 Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
8 Entgegen der Auffassung des FG stelle die Lagerung von befruchteten Eizellen keine
steuerfreie Heilbehandlung dar, soweit keine Fruchtbarkeitsbehandlung stattfinde bzw.
konkret geplant sei.
9 Eine ärztliche Heilbehandlung zur Herbeiführung einer Schwangerschaft sei beendet,
wenn das Kind geboren werde. Danach finde trotz weiterhin vorliegender organisch
bedingter Sterilität keine Behandlung der Sterilität mehr statt.
10 Das Einfrieren und Lagern von Eizellen sei für sich gesehen keine
Heilbehandlungsleistung und könne daher nur als Nebenleistung steuerfrei sein. Ein
therapeutischer Zweck der Lagerung sei erst dann zu bejahen, wenn ein über den
ersten Behandlungsvertrag und die erste Schwangerschaft hinausgehender
Kinderwunsch bzw. Behandlungswunsch vorhanden sei. Hierzu habe das FG keine
Feststellungen getroffen.
11 Das FG berücksichtige nicht, dass nicht jede Lagerung auch zu einem
entsprechenden Behandlungserfolg führen solle. Es stehe den Patienten auch ohne
konkreten weiteren Kinderwunsch frei, sich für eine weitere Lagerung zu entscheiden.
Komme es zu einer vorab geplanten erneuten Schwangerschaft, sei ohne Zweifel von
einer steuerfreien Heilbehandlung auszugehen. Erfolge die Aufbewahrung der Eizellen
aber nur für den ungewissen Fall einer Weiterbehandlung, stelle die (weitere)
Lagerung keine ärztliche Leistung dar.
12 Für die umsatzsteuerrechtliche Behandlung sei unerheblich, ob die Aufbewahrung der
Eizellen aus medizinischen Gründen unter dem Gesichtspunkt der
Verhältnismäßigkeit das mildeste Mittel sei.
13 Das FA beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Sache an das FG zurückzuverweisen.
14 Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
15 Sie hält die Vorentscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
16 II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--).
17 Das FG hat zu Recht entschieden, dass die infolge der Vertragsverlängerung
ausgeführten Umsätze der Klägerin steuerfrei sind.
18 1. Nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG a.F. waren die Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt,
Zahnarzt, Heilpraktiker, Physiotherapeut (Krankengymnast), Hebamme oder aus
einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit und aus der Tätigkeit als klinischer Chemiker
umsatzsteuerfrei.
19 Diese Vorschrift setzte zunächst Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten
Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie
77/388/EWG) und seit 2007 Art. 132 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112/EG des
Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
(MwStSystRL) in nationales Recht um. Danach befreien die Mitgliedstaaten
Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der
von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe
durchgeführt werden, von der Steuer.
20 a) § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG a.F. ist im Lichte dieser Bestimmungen richtlinienkonform
auszulegen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-
- vom 5. November 2014 XI R 11/13, BFHE 248, 389, BFH/NV 2015, 297, Rz 17;
vom 4. Dezember 2014 V R 16/12, BFHE 248, 416, BFH/NV 2015, 645, Rz 10).
21 b) Der Begriff "Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin" erfasst Leistungen
medizinischer Art, die zum Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung oder
Wiederherstellung der menschlichen Gesundheit erbracht werden (vgl. z.B. Urteile
des Gerichtshofs der Europäischen Union --EuGH-- Future Health Technologies vom
10. Juni 2010 C-86/09, EU:C:2010:334, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 2010, 540,
Rz 41; PFC Clinic vom 21. März 2013 C-91/12, EU:C:2013:198, Deutsches
Steuerrecht 2013, 757, Rz 27, m.w.N.; BFH-Urteil in BFHE 248, 389, BFH/NV 2015,
297, Rz 20).
22 Zwar müssen die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin einem
therapeutischen Zweck dienen, doch folgt daraus nicht zwangsläufig, dass die
therapeutische Zweckbestimmtheit einer Leistung in einem besonders engen Sinne
zu verstehen ist (vgl. z.B. EuGH-Urteile CopyGene vom 10. Juni 2010 C-262/08,
EU:C:2010:328, UR 2010, 526, Rz 29, m.w.N.; Verigen Transplantation Service
International vom 18. November 2010 C-156/09, EU:C:2010:695, UR 2011, 215,
Rz 24; BFH-Urteil vom 19. März 2015 V R 60/14, zur amtlichen Veröffentlichung
bestimmt, BFH/NV 2015, 939, Rz 13).
23 c) Dagegen sind Leistungen, die zu einem anderen Zweck als dem der Diagnose, der
Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder
Gesundheitsstörungen durchgeführt werden und keinem solchen therapeutischen Ziel
dienen, keine Heilbehandlungen (BFH-Urteil in BFHE 248, 389, BFH/NV 2015, 297,
Rz 22, m.w.N.).
24 2. Das FG hat nach diesen Grundsätzen die Steuerfreiheit der von der Klägerin
erbrachten Leistungen bejaht, was revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist.
25 a) Das FG hat festgestellt, dass die (verlängerte) Lagerung nur in den Fällen erfolgte,
in denen eine organisch bedingte Sterilität bei einem der beiden fortpflanzungswilligen
Partner vorlag, und dies dahingehend gewürdigt, dass die über den Zeitpunkt der
erstmaligen Schwangerschaft hinausgehende Lagerung der Eizellen der
Herbeiführung einer weiteren Schwangerschaft und damit weiterhin therapeutischen
Zwecken diente. Es hat dargelegt, dass ein enger Zusammenhang zwischen der
zeitlich vorgelagerten Dienstleistung (Lagerung der befruchteten Eizellen) und der
ärztlichen Heilbehandlung (Implementierung derselben zum Zweck einer erneuten
Schwangerschaft) bestand, weil "die Verwendung der kryokonservierten Eizellen zur
Herbeiführung einer (weiteren) künstlichen Befruchtung nach dem Stand der
medizinischen Wissenschaft (Reproduktionstechnik) möglich und geboten ist und
dadurch die mindestens bei einem der fortpflanzungswilligen Partner vorhandene
Krankheit der organischen Sterilität gelindert werden kann".
26 Die Würdigung des FG, die Vertragsverlängerung habe weiterhin therapeutischen
Zwecken (Herbeiführung einer weiteren Schwangerschaft) gedient, ist aufgrund der
tatsächlichen Feststellungen des FG möglich. Insbesondere haben die Patienten
regelmäßig über die Fortsetzung der Lagerung neu entschieden und sich diese etwas
kosten lassen. Es kommt deshalb im Streitfall nicht darauf an, ob die nach den
Feststellungen des FG "fortpflanzungswilligen" Partner gegenüber der Klägerin
ausdrücklich einen weiterhin vorliegenden Kinderwunsch geäußert haben.
27 Diese --mithin mögliche-- tatsächliche Würdigung des FG verstößt außerdem weder
gegen Denkgesetze noch gegen allgemeine Erfahrungssätze und wurde auch nicht
mit Verfahrensrügen angegriffen. Sie bindet damit gemäß § 118 Abs. 2 FGO den
Senat (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 13. November 2013 XI R 24/11, BFHE 243, 471,
BFH/NV 2014, 471, Rz 43 und 44, m.w.N.; BFH-Beschluss vom 11. Dezember 2014
XI B 49/14, BFH/NV 2015, 363, Rz 8).
28 b) Soweit das FA mit der Revision anführt, die (bloße) Zustimmung der Patienten zur
Fortsetzung der Lagerhaltung und die Tatsache, dass sich die Patienten die Lagerung
"etwas kosten lassen", reiche nicht aus, um einen Zusammenhang mit einer
konkreten, möglicherweise in der Zukunft liegenden Hauptleistung herzustellen, da
dieser Zusammenhang erst mit dem Abschluss eines erneuten
Behandlungsvertrages bzw. dem Beginn medizinisch erforderlicher Vorbehandlungen
entstehe, setzt es lediglich seine Würdigung an die Stelle der vertretbaren Würdigung
des FG.
29 c) Der Würdigung des FG steht --entgegen der Auffassung des FA-- die
Rechtsprechung des EuGH nicht entgegen.
30 Diese erfordert für die betreffende Steuerbefreiung einen hinreichend engen
Zusammenhang mit einer ärztlichen Heilbehandlung; deshalb erfasst die
Steuerbefreiung keine Tätigkeiten, die etwa in der Entnahme, der Beförderung und der
Analyse von Nabelschnurblut sowie in der Lagerung der in diesem Blut enthaltenen
Stammzellen bestehen, wenn die Heilbehandlung, mit der diese Tätigkeiten nur
eventuell verbunden sind, weder stattgefunden noch begonnen hat, noch geplant ist
(EuGH-Urteil CopyGene, EU:C:2010:328, UR 2010, 526, Leitsatz).
31 Steuerfrei wäre danach auch nicht etwa die Lagerung von Eizellen oder Spermien
ohne medizinischen Anlass (sog. Social Freezing). Nach den Feststellungen des FG
lag jedoch in allen streitbefangenen Fällen eine organisch bedingte Sterilität, d.h. eine
Krankheit, vor, zu deren Linderung die Lagerung von befruchteten Eizellen
medizinisch möglich und geboten ist. Im Gegensatz dazu war in dem vom EuGH
entschiedenen Fall CopyGene unstreitig, dass es eine Heilbehandlung (unter
Verwendung der Stammzellen) in den meisten Fällen "nicht gibt und wahrscheinlich
nie geben wird" (EuGH-Urteil CopyGene, EU:C:2010:328, UR 2010, 526, Rz 47).
32 3. Im Hinblick auf den nach dem Sitzungsprotokoll dem FG von der Klägerin
vorgelegten Vertrag über die "Kryokonservierung und Lagerung von Humansperma"
weist der Senat ergänzend darauf hin, dass diese Grundsätze auch in den Fällen
gelten, in denen aufgrund einer ärztlich festgestellten organisch bedingten Sterilität
nicht Eizellen, sondern "Keimmaterial des Auftraggebers aus Ejakulation" (Spermien)
eingefroren wurden.
33 4. Die vom FA hilfsweise beantragte Zurückverweisung der Sache scheidet aus.
34 Das FA begründet dies damit, das FG müsse Feststellungen dazu nachholen, ob die
Patienten in den streitbefangenen Fällen der Lagerung der Eizellen über den Zeitpunkt
der erstmaligen Schwangerschaft hinaus tatsächlich "fortpflanzungswillig" waren.
35 Hierzu hat das FG in den Entscheidungsgründen ausgeführt, die Klägerin habe in der
mündlichen Verhandlung erläutert, dass die kryokonservierten Eizellen regelmäßig
bereits innerhalb eines Zeitraums von ein bis fünf Jahren nach erfolgreicher erster
Schwangerschaft verwendet werden, um eine weitere Schwangerschaft
herbeizuführen. In diesem Zusammenhang sei auch zu berücksichtigen, dass sich
die Klägerin vor Ablauf der jeweils einjährigen Laufzeit der Verwahrungsverträge
durch Rücksprache mit den Patienten stets vergewissere, ob die kryokonservierten
Eizellen weiterhin für Schwangerschaftszwecke gelagert und verwendet werden
sollten (Rz 49 des Urteils). Das FG hatte offenbar an der Richtigkeit dieses Vorgangs
der Klägerin keine Zweifel.
36 Das FA hat nicht dargelegt, dass es den Vortrag der Klägerin in der mündlichen
Verhandlung vor dem FG bestritten oder dass es gar einen dahingehenden
Beweisantrag gestellt hat. Sein Revisionsvorbringen hierzu, diese Angaben der
Klägerin seien "nicht nachgewiesen", rechtfertigt eine Zurückverweisung der Sache
an das FG nicht.
37 5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.