Urteil des BFH vom 25.02.2015

Kindergeldanspruch für ein Kind, das mit dem anderen Elternteil seines nichtehelichen Kindes in einem gemeinsamen Haushalt lebt

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 25.2.2015, XI R 14/13
Kindergeldanspruch für ein Kind, das mit dem anderen Elternteil seines nichtehelichen Kindes
in einem gemeinsamen Haushalt lebt
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 7.
März 2013 10 K 10353/08 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
Tatbestand
1 I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse)
die Kindergeldfestsetzung für die Tochter der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin)
für das Jahr 2006 (Streitzeitraum) zu Recht aufgehoben hat.
2 Die Klägerin ist die Mutter des Kindes A, geboren am 7. Juli 1981. A ist die Mutter der am
5. November 2004 geborenen B und lebt mit dem Vater ihres Kindes in einem
gemeinsamen Haushalt.
3 Mit Bescheid vom 28. April 2005 setzte die Familienkasse gegenüber der Klägerin für A
für den Zeitraum April 2005 bis März 2007 Kindergeld fest.
4 Ausweislich vorgelegter Studienbescheinigungen war A vom Wintersemester 2005/2006
bis Wintersemester 2006/2007 an der Universität X immatrikuliert und nicht beurlaubt.
Laut einer entsprechenden Lohnsteuerbescheinigung für 2006 bezog A in diesem Jahr
einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 2.939,50 EUR. Ein Bescheid der Deutschen
Rentenversicherung vom 3. April 2006 weist für April 2006 bis einschließlich September
2006 eine monatliche Rente in Höhe von 150,07 EUR aus.
5 Mit Bescheid vom 12. Juni 2008 hob die Familienkasse gegenüber der Klägerin die
Kindergeldfestsetzung für A für die Monate Januar bis Dezember 2006 auf und verlangte
die Rückzahlung des für diesen Zeitraum gezahlten Kindergeldes in Höhe von
1.848 EUR. A lebe mit dem Vater ihres Kindes B in einem gemeinsamen Haushalt. Da
dieser im Streitzeitraum ein hohes Einkommen gehabt habe, sei zu unterstellen, dass er
und A das zur Verfügung stehende Einkommen geteilt hätten. Deshalb seien A als
Unterhaltsleistungen des Vaters von B 17.757,39 EUR zuzurechnen. Zudem habe A im
Jahr 2006 über (eigene) Einkünfte und Bezüge verfügt, die den für die Zahlung von
Kindergeld maßgeblichen Grenzbetrag bei weitem überschritten hätten. Daher entfalle die
Unterhaltspflicht der Klägerin gegenüber A und damit auch deren Kindergeldanspruch.
Die Familienkasse wies den Einspruch der Klägerin als unbegründet zurück.
6 Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen erhobenen Klage statt. Der Klägerin habe für
den streitbefangenen Zeitraum Kindergeld zugestanden, so dass die Aufhebung der
Kindergeldfestsetzung und die Rückforderung des Kindergeldes rechtswidrig gewesen
seien. Entgegen der Auffassung der Familienkasse hätten die Einkünfte und Bezüge von
A nicht den nach § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der im
Streitjahr geltenden Fassung maßgeblichen Grenzbetrag von 7.680 EUR überschritten.
Denn der von der Familienkasse insoweit als Bezug angesetzte Unterhaltsanspruch von
A gegenüber dem Kindsvater von B nach § 1615l des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in
der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung habe nicht bestanden. Das Urteil des
FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2013, 947 veröffentlicht.
7 Zur Begründung ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
Sie führt aus, das FG habe zu Unrecht im Rahmen der Ermittlung der Einkünfte und
Bezüge von A nicht deren Unterhaltsanspruch gegenüber dem Vater des gemeinsamen
Kindes in Höhe von 14.133,14 EUR als Bezug berücksichtigt. Entgegen der Auffassung
des FG hätten die entsprechenden Voraussetzungen nach § 1615l Abs. 2 Sätze 2 und 3
BGB vorgelegen. Die hilfsweise vom FG vorgenommene Grenzbetragsberechnung sei
ebenfalls rechtswidrig.
8 Die Familienkasse beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
9 Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
10 Sie hält die Entscheidung der Vorinstanz für zutreffend.
Entscheidungsgründe
11 II. Die Revision der Familienkasse ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der
Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur
anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--).
12 Ausgehend von dem bisher festgestellten Sachverhalt hat das FG zu Unrecht
entschieden, dass der Klägerin der begehrte Kindergeldanspruch zusteht. Die
Feststellungen des FG lassen keine Entscheidung darüber zu, ob zu berücksichtigende
Bezüge ihres Kindes A vorlagen, die zu einer Überschreitung des im Jahr 2006 nach § 32
Abs. 4 Satz 2 EStG maßgebenden Grenzbetrages von 7.680 EUR führten, und deshalb
ein Kindergeldanspruch der Klägerin ausgeschlossen ist.
13 1. Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, dass A im Streitzeitraum Januar bis
Dezember 2006 grundsätzlich nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG kindergeldrechtlich zu berücksichtigen ist, da sie in dieser
Zeit nach den Feststellungen des FG für einen Beruf ausgebildet wurde.
14 2. Das FG hat auf der Grundlage seiner bisher getroffenen tatsächlichen Feststellungen
unzutreffend angenommen, dass die Einkünfte und Bezüge von A den im Streitjahr 2006
nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG maßgebenden Grenzbetrag von 7.680 EUR unterschritten
haben.
15 a) Zu den in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG genannten Bezügen gehören Geldzuflüsse und
Naturalleistungen, die bei der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung nicht
erfasst werden, somit auch die Unterhaltsleistungen des Kindsvaters an die Kindsmutter,
für die Kindergeld beansprucht wird. Wegen des auch für Bezüge geltenden
Zuflussprinzips führt ein Unterhaltsanspruch --auf den der Unterhaltsberechtigte nicht i.S.
von § 32 Abs. 4 Satz 9 EStG ganz oder teilweise verzichtet hat-- nur dann zu Bezügen,
wenn er tatsächlich erfüllt wird (Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom
22. Dezember 2011 III R 8/08, BFHE 236, 155, BStBl II 2012, 340; BFH-Urteile vom
12. September 2013 III R 55/12, BFH/NV 2014, 36, Rz 12; vom 8. Mai 2014 III R 50/13,
BFH/NV 2014, 1536, Rz 15).
16 Bezogen auf den Streitfall bedeutet dies, dass die (abstrakte) Frage eines
Unterhaltsanspruchs der A gegenüber dem Kindsvater nach § 1615l BGB nicht
entscheidungserheblich ist.
17 b) Wird Kindergeld für ein verheiratetes Kind begehrt, das mit seinem Ehegatten in einem
gemeinsamen Haushalt lebt, kann bei der Schätzung der als Bezüge anzusetzenden
Unterhaltsleistungen zwar davon ausgegangen werden, dass sich die --kinderlosen--
Ehegatten das gemeinsame verfügbare Einkommen hälftig teilen, sofern dem
unterhaltsverpflichteten Ehegatten ein verfügbares Einkommen in Höhe des
steuerrechtlichen Existenzminimums verbleibt (BFH-Urteile vom 23. November 2011
III R 76/09, BFHE 236, 79, BStBl II 2012, 413, und in BFH/NV 2014, 36, Rz 13). Dieser
Grundsatz lässt sich aber auf nicht verheiratete, zusammen lebende Eltern mit Kind schon
deshalb nicht übertragen, weil beim Unterhaltsanspruch nach § 1615l BGB, anders als
beim Unterhalt zwischen zusammen lebenden, getrennt lebenden oder geschiedenen
Ehegatten, die wirtschaftlichen Verhältnisse des unterhaltspflichtigen Kindsvaters nicht
maßgebend sind (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 16. Juli 2008 XII ZR 109/05, BGHZ
177, 272; BFH-Urteil in BFH/NV 2014, 36, Rz 13). Wegen der Geltung des Zuflussprinzips
ist daher in den Fällen, in denen --wie hier-- unverheiratete Eltern mit ihrem Kind in einem
gemeinsamen Haushalt leben, im Einzelnen zu ermitteln, ob und ggf. in welchem Umfang
gegenüber dem betreuenden Elternteil oder durch einen Dritten Naturalleistungen
erbracht wurden (BFH-Urteile vom 11. April 2013 III R 24/12, BFHE 241, 255, BStBl II
2013, 866; in BFH/NV 2014, 36, Rz 13, und in BFH/NV 2014, 1536, Rz 15).
18 c) Das angefochtene Urteil beruht auf anderen Rechtsgrundsätzen. Die Entscheidung ist
daher aufzuheben. Aufgrund der bislang getroffenen Feststellungen des FG kann der
Senat nicht beurteilen, in welcher Höhe A im Jahr 2006 Einkünfte und Bezüge
zugeflossen sind. Das FG wird im zweiten Rechtsgang die Höhe der
Unterhaltsleistungen, die A vom Kindsvater im Jahr 2006 (tatsächlich) erhalten hat, zu
ermitteln haben. Dabei bestehen keine Bedenken, Naturalleistungen in Anlehnung an die
Sozialversicherungsentgeltverordnung zu schätzen (BFH-Urteile in BFHE 241, 255,
BStBl II 2013, 866; in BFH/NV 2014, 36, Rz 14, und in BFH/NV 2014, 1536, Rz 18).
19 3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
20 4. Der Senat erkennt mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche
Verhandlung (§ 90 Abs. 2, § 121 Satz 1 FGO).