Urteil des BFH vom 25.02.2016

Trotz gegebener Verfahrensmängel keine PKH-Gewährung für eine Nichtzulassungsbeschwerde wegen Mutwillens - Zulässigkeit einer öffentliche Zustellung

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 25.2.2016, X S 23/15 (PKH)
Trotz gegebener Verfahrensmängel keine PKH-Gewährung für eine
Nichtzulassungsbeschwerde wegen Mutwillens - Zulässigkeit einer öffentliche Zustellung
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei.
Tatbestand
1 I. Die Antragstellerin war im Streitjahr 2008 als Versicherungsvertreterin tätig. Sie
ermittelte ihren Gewinn durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung. In ihrer
Einkommensteuererklärung machte sie u.a. Fahrtkosten mit öffentlichen
Verkehrsmitteln in Höhe von 2.979,39 EUR als Betriebsausgaben geltend. Nachweise
waren der Steuererklärung insoweit nicht beigefügt. Der Beklagte und
Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) veranlagte insoweit erklärungsgemäß.
Einem aus hier nicht in Streit befindlichen Gründen eingelegten Einspruch half das FA
in vollem Umfang ab und setzte die Einkommensteuer mit dem angefochtenen
Änderungsbescheid vom 16. März 2011 auf 171 EUR herab.
2 Gegen diesen Bescheid legte die Antragstellerin erneut Einspruch ein und begehrte
den Abzug weiterer Fahrtkosten von 2.257 EUR als Betriebsausgaben. Das FA bat
nunmehr um den Nachweis sämtlicher --sowohl der ursprünglich als auch der
nachträglich geltend gemachten-- Fahrtkosten. Daraufhin reichte die Antragstellerin
eine Aufstellung über die nachträglich geltend gemachten Fahrtkosten von 2.257 EUR
ein. Darin sind die Namen der aufgesuchten Kunden abgekürzt; Angaben zu den
Reisetagen fehlen. In der Spalte "Fahrkarten" findet sich jeweils die Angabe "nein".
Ferner erläuterte die Antragstellerin, sie habe die angesetzten Kosten der Preisliste
2011 der Deutschen Bahn entnommen.
3 Das FA wies den Einspruch zurück. Zur Begründung führte es aus, die Angaben der
Antragstellerin seien zu ungenau. Bahnfahrkarten seien trotz Aufforderung nicht
vorgelegt worden; zu den bereits mit der ursprünglichen Gewinnermittlung geltend
gemachten Fahrtkosten sei nicht einmal eine Aufstellung eingereicht worden. Eine
Preisliste für das Jahr 2011 habe keinen Beweiswert für das Streitjahr 2008.
4 Im Klageverfahren erklärte die Antragstellerin, sie habe die Namen ihrer Kunden aus
Datenschutzgründen abgekürzt. Die Namen seien für das FA irrelevant. Im Zweifel
könne sie alle Unterlagen vorlegen. Das Finanzgericht (FG) forderte die
Antragstellerin am 20. September 2012 auf, die weiteren Fahrtkosten von 2.257 EUR
durch geeignete Belege nachzuweisen. Daraufhin reichte die Antragstellerin einzelne
Versicherungsvertragsunterlagen ein, in denen sie die persönlichen Daten der Kunden
indes zumeist unkenntlich gemacht hatte. Weiter erklärte die Antragstellerin, sie
werde "permanent mit oft sinnlosesten Schreiben aller Art überschüttet". Die
Anforderung weiterer Daten sei "völlig unakzeptabel bzw. ... irrelevant".
5 Mit Beschluss vom 14. Mai 2013 lehnte das FG einen Antrag auf Prozesskostenhilfe
(PKH) ab. Die Rechtsverfolgung habe keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil die
Antragstellerin trotz zahlreicher Aufforderungen keine Belege zu den von ihr geltend
gemachten Fahrtkosten eingereicht habe. Am 6. Februar 2014 setzte das FG der
Antragstellerin gemäß § 79b Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) eine bis zum
21. März 2014 laufende Ausschlussfrist zur Vorlage von Nachweisen für sämtliche
geltend gemachten Fahrtkosten.
6 Im Februar 2014 wurde die Antragstellerin obdachlos. Ein klageabweisender
Gerichtsbescheid vom 6. August 2014 konnte ihr unter einer neuen Anschrift
zugestellt werden. Sie beantragte fristgerecht mündliche Verhandlung. Mit einem
umfangreichen Hinweisschreiben vom 10. September 2014 erläuterte ihr der
Berichterstatter des FG nochmals die Sach- und Rechtslage hinsichtlich des
Nachweises der Fahrtkosten. Am 20. September 2014 teilte die Antragstellerin dem
FG die Anschrift einer Beratungsstelle mit und erklärte, diese gelte ab sofort für alle
Postsendungen.
7 Am 10. Dezember 2014 übersandte das FG die Ladung zur mündlichen Verhandlung
mittels Postzustellungsurkunde an die Anschrift der Beratungsstelle. Die Zustellung
konnte dort nicht ausgeführt werden; der Zusteller leitete die Sendung mit dem
Vermerk "unbekannt verzogen" an das FG zurück.
8 Auf die Bitte des FG um Mitteilung der aktuellen Anschrift der Antragstellerin erklärte
die Beratungsstelle am 10. März 2015, sie biete für Hilfsbedürftige, die dies
wünschten, den Service an, Post über die Anschrift der Beratungsstelle empfangen
zu können. Zu konkreten Personen könne wegen des Sozialgeheimnisses keine
Auskunft erteilt werden. Das FA teilte mit, ihm sei ebenfalls lediglich die Anschrift der
Beratungsstelle bekannt; nach Auskunft der Meldebehörde sei die Antragstellerin seit
Februar 2014 unbekannt verzogen.
9 Am 20. Mai 2015 lud das FG --ohne eine Abkürzung der Ladungsfrist anzuordnen--
für den 3. Juli 2015 zur mündlichen Verhandlung und ordnete in Bezug auf die
Antragstellerin die öffentliche Zustellung der Ladung an. Die Benachrichtigung wurde
noch am 20. Mai 2015 ausgehängt.
10 Zur mündlichen Verhandlung erschien für die Antragstellerin niemand; das FG wies
die Klage ab und ordnete in Bezug auf die Antragstellerin die öffentliche Zustellung des
Urteils an. Die Benachrichtigung wurde am 7. Juli 2015 ausgehängt.
11 Am 10. August 2015 hat die nicht postulationsfähige Antragstellerin --unter Angabe
der Anschrift der Beratungsstelle-- Nichtzulassungsbeschwerde beim
Bundesfinanzhof (BFH) eingelegt sowie Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand und auf Gewährung von PKH gestellt.
12 Auf eine entsprechende Anfrage der Geschäftsstelle des beschließenden Senats
erklärte ein Mitarbeiter der Beratungsstelle am 28. August 2015 telefonisch, dass dort
für bedürftige Personen nur einfache Briefe, nicht aber förmliche Zustellungen
entgegengenommen würden.
Entscheidungsgründe
13 II. 1. Der PKH-Antrag ist zulässig.
14 Insbesondere konnte er durch die Antragstellerin persönlich auch ohne Mitwirkung
eines Prozessbevollmächtigten wirksam gestellt werden. Denn für PKH-Anträge gilt
der in § 62 Abs. 4 FGO angeordnete Vertretungszwang nicht (BFH-Beschluss vom
16. September 2010 XI S 18/10 (PKH), BFH/NV 2010, 2295).
15 2. Gemäß § 142 FGO i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) setzt die
Bewilligung von PKH u.a. voraus, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung
hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Dies ist hier der Fall.
16 a) Dem steht nicht schon entgegen, dass die eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde
derzeit wegen der Einreichung durch eine vor dem BFH nicht vertretungsbefugte
Person gemäß § 62 Abs. 4 FGO unzulässig wäre. Denn einem Beteiligten, der wegen
Mittellosigkeit nicht in der Lage ist, ein dem Vertretungszwang unterliegendes
Rechtsmittel wirksam zu erheben, kann gemäß § 56 FGO Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand gewährt werden, wenn er noch innerhalb der Rechtsmittelfrist alles ihm
Zumutbare unternimmt, um das in seiner Mittellosigkeit liegende Hindernis für die
Fristwahrung zu beheben. Insbesondere muss er innerhalb der Monatsfrist alle
Voraussetzungen für die Bewilligung der PKH schaffen (Senatsbeschluss vom
25. Juli 2012 X S 14/12 (PKH), BFH/NV 2012, 1821, unter 3.).
17 b) Die Antragstellerin hat auch in laienhafter Form einen Verfahrensmangel dargelegt,
der --die Erhebung einer zulässigen Nichtzulassungsbeschwerde vorausgesetzt, an
der es derzeit noch fehlt-- zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Zurückverweisung der Sache an das FG führen müsste.
18 Die Antragstellerin rügt ausdrücklich die öffentliche Zustellung des angefochtenen
Urteils. Diese war unwirksam, weil die Voraussetzungen für eine öffentliche
Zustellung nicht gegeben waren.
19 Gemäß § 53 Abs. 2 FGO i.V.m. § 185 Nr. 1 ZPO kann die Zustellung durch
öffentliche Bekanntmachung erfolgen, wenn der Aufenthaltsort einer Person
unbekannt ist und eine Zustellung an einen Vertreter oder
Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist. Nach der ständigen Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und aller obersten Bundesgerichte ist im
Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des
Grundgesetzes) eine öffentliche Zustellung nur als letztes Mittel zulässig. Sie ist nur
zu rechtfertigen, wenn eine andere Form der Zustellung nicht oder nur schwer
durchführbar ist (BVerfG-Beschluss vom 26. Oktober 1987 1 BvR 198/87, Neue
Juristische Wochenschrift 1988, 2361; Urteil des Bundesgerichtshofs vom
19. Dezember 2001 VIII ZR 282/00, BGHZ 149, 311, unter II.1.; Senatsbeschluss
vom 14. April 2011 X B 112/10, BFH/NV 2011, 1376, unter 1.b).
20 Vorliegend hatte die Antragstellerin mitgeteilt, sie sei obdachlos, und die Anschrift
einer Beratungsstelle angegeben. Einfache Briefe haben die Antragstellerin über die
Beratungsstelle stets erreicht. Im Hinblick auf die Obdachlosigkeit der Antragstellerin
war das FG zu einer gesteigerten Wahrnehmung seiner Prozessfürsorgepflicht
gehalten. Es durfte sich daher nach nur einem einzigen vergeblichen Zustellversuch
nicht damit zufrieden geben, dass die Beratungsstelle sich auf die entsprechende
Anfrage des FG hin unter Hinweis auf das Sozialgeheimnis weigerte, eine aktuelle
zustellungsfähige Anschrift der Antragstellerin anzugeben, zumal infolge der
Obdachlosigkeit ohnehin unwahrscheinlich war, dass eine solche Anschrift bestand.
Dem FG musste bewusst sein, dass eine vorschnell angeordnete öffentliche
Zustellung in aller Regel dazu führen wird, dass der Empfänger tatsächlich keine
Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück erlangt, und daher eine gravierende
Einschränkung des Rechtsschutzes darstellt.
21 Wie die Anfrage des BFH bei der Beratungsstelle gezeigt hat, ist diese stets bereit,
einfache Briefsendungen anzunehmen und an die Antragstellerin weiterzuleiten.
Lediglich förmliche Zustellungen werden nicht entgegengenommen. Unter diesen
Umständen und angesichts seiner gesteigerten Prozessfürsorgepflicht war das FG
gehalten, für die Bekanntgabe förmlich zuzustellender Schriftstücke einen Weg zu
wählen, der --zumindestens zusätzlich-- die Übersendung mittels einfachen Briefs an
die dem FG bekannte Anschrift der Beratungsstelle vorsah, so dass die
Antragstellerin tatsächlich von dem Schriftstück Kenntnis nehmen konnte.
22 c) Aus denselben Gründen war auch die --öffentlich zugestellte-- Ladung zur
mündlichen Verhandlung unwirksam. Das FG hätte daher nicht ohne die
Antragstellerin verhandeln und eine Entscheidung treffen dürfen.
23 Hinzu kommt, dass das FG --selbst dann, wenn die öffentliche Zustellung der Ladung
als wirksam anzusehen wäre-- die in § 91 Abs. 1 Satz 1 FGO vorgesehene
zweiwöchige Ladungsfrist nicht eingehalten hat. Gemäß § 188 Satz 1 ZPO gilt eine
öffentliche Zustellung als bewirkt, wenn seit dem Aushang der Benachrichtigung ein
Monat vergangen ist. Die Ladung (Aushang der Benachrichtigung am 20. Mai 2015)
gilt daher als am 20. Juni 2015 (Samstag) zugestellt. Da die mündliche Verhandlung
schon am 3. Juli 2015 (Freitag) stattfinden sollte, konnte die zweiwöchige Ladungsfrist
nicht eingehalten werden. In solchen Fällen ist das Urteil auf eine entsprechende
Rüge des Rechtsmittelführers aufzuheben, ohne dass es weiterer Darlegungen
bedarf (BFH-Beschluss vom 17. September 2014 IX B 37/14, BFH/NV 2015, 52).
24 3. Trotz der danach gegebenen Erfolgsaussichten einer --noch in zulässiger Weise zu
erhebenden-- Nichtzulassungsbeschwerde kann der Antragstellerin unter den
besonderen Umständen des Streitfalls keine PKH gewährt werden, weil eine solche
Rechtsverfolgung mutwillig wäre.
25 a) Gemäß § 114 Abs. 2 ZPO in der ab dem 1. Januar 2014 geltenden Fassung i.V.m.
§ 142 Abs. 1 FGO ist die Rechtsverfolgung mutwillig, wenn eine Partei, die keine PKH
beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände von der Rechtsverfolgung
absehen würde, obwohl eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht.
26 Der Senat hat bereits entschieden, dass Mutwilligkeit auch dann anzunehmen ist,
wenn eine zu erhebende Nichtzulassungsbeschwerde zwar vorläufig erfolgreich wäre
und zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung der
Sache an das FG führen würde, zugleich aber feststünde, dass die Klage im zweiten
Rechtsgang als unbegründet abzuweisen wäre (Senatsbeschluss vom 24. März 2014
X S 4/14 (PKH), BFH/NV 2014, 1067; Verfassungsbeschwerde mit Beschluss des
BVerfG vom 11. Dezember 2014 1 BvR 1911/14 nicht zur Entscheidung
angenommen). Da in einem solchen Fall die gesamten Prozesskosten (einschließlich
des --bei isolierter Betrachtung erfolgreichen-- Verfahrens der
Nichtzulassungsbeschwerde vor dem BFH und der beiden Rechtszüge vor dem FG)
von demjenigen zu tragen wären, der letztlich erfolglos das Klageverfahren geführt
hätte, würde ein Beteiligter, der die Prozesskosten selbst tragen müsste, von der
Einleitung eines solchen Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde absehen.
27 b) Vorliegend hat die Antragstellerin --trotz ungewöhnlich vieler Bemühungen des FA
und FG-- im Verwaltungs- und Klageverfahren keine Nachweise für die von ihr
nachträglich geltend gemachten höheren Fahrtkosten vorlegen können. Bei dieser
Sachlage und der insgesamt weitestgehend verweigerten Mitwirkung der
Antragstellerin im Verwaltungs- und Klageverfahren ist ausgeschlossen, dass es im
zweiten Rechtsgang --ohne Vorlage von Nachweisen-- zur Anerkennung der
Fahrtkosten und damit zu einem Erfolg der Klage kommen könnte.
28 Auch das Vorbringen der Antragstellerin im PKH-Verfahren sowie dem Verfahren der
Nichtzulassungsbeschwerde deutet nicht darauf hin, dass sie bereit wäre, in einem
zweiten Rechtsgang die erforderlichen Belege vorzulegen. Sie hat vielmehr erklärt,
aus ihrer Sicht biete die beabsichtigte Rechtsverfolgung schon deshalb hinreichende
Aussicht auf Erfolg, weil sie gesetzlich verpflichtet gewesen sei, ihre Kunden
persönlich zur Beratung aufzusuchen. Diese --bereits im Klageverfahren aufgestellte--
Behauptung ersetzt aber nicht den Nachweis konkret angefallener Kosten für die
Reisen zu ihren Kunden.
29 4. Der Senat stellt die Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde bis einen
Monat nach Bekanntgabe dieses Beschlusses zurück. Der Antragstellerin wird damit
Gelegenheit zur Prüfung einer Rücknahme des von ihr persönlich eingelegten --und
daher unzulässigen-- Rechtsmittels gegeben. Im Vergleich zu einer förmlichen
Entscheidung, mit der die Nichtzulassungsbeschwerde verworfen würde, wäre die
Rücknahme mit einer Ermäßigung der Gerichtsgebühren auf die Hälfte verbunden
(vgl. Nr. 6501 des Kostenverzeichnisses, Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 des
Gerichtskostengesetzes --GKG--).
30 5. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen. In Ermangelung eines
Gebührentatbestands nach dem Kostenverzeichnis zum GKG werden keine
Gerichtskosten erhoben (§ 3 Abs. 2 GKG). Kosten, die dem Gegner entstanden sind,
werden nicht erstattet (§ 142 FGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO).