Urteil des BFH vom 27.10.2015

Zeitliche Grenzen für die Ausübung oder Änderung von Antrags- oder Wahlrechten

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 27.10.2015, X R 44/13
Zeitliche Grenzen für die Ausübung oder Änderung von Antrags- oder Wahlrechten
Leitsätze
1. Einkommensteuerrechtliche Antrags- oder Wahlrechte können auch nach Eintritt der
Bestandskraft eines vorangehenden Bescheids jedenfalls dann erstmalig ausgeübt oder
geändert werden, wenn das FA einen steuererhöhenden Änderungsbescheid erlassen hat,
mit dem ein weiterer steuererheblicher Sachverhalt erfasst worden ist, aufgrund dessen
überhaupt erst die wirtschaftliche Notwendigkeit entstanden ist, sich mit der erstmaligen
bzw. geänderten Ausübung eines Antrags- oder Wahlrechts zu befassen (Abweichung vom
BFH-Beschluss vom 10. Mai 2010 IX B 220/09, BFH/NV 2010, 1415 mit Zustimmung des
IX. Senats). Die nachträgliche Antrags- oder Wahlrechtsausübung wird in zeitlicher Hinsicht
durch die formelle Bestandskraft des Änderungsbescheids und in betragsmäßiger Hinsicht
durch den Änderungsrahmen des § 351 Abs. 1 AO begrenzt.
2. Der Freibetrag für Betriebsveräußerungs- oder -aufgabegewinne kann auch bei
Veräußerung oder Aufgabe mehrerer Betriebe, Teilbetriebe oder Mitunternehmeranteile
innerhalb desselben Veranlagungszeitraums nur für einen einzigen Veräußerungs- oder
Aufgabegewinn in Anspruch genommen werden.
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 24. April
2013 7 K 2342/11 E und die Einspruchsentscheidung des Beklagten vom 9. Juni 2011
aufgehoben.
Die Einkommensteuer 2007 wird unter Abänderung des Bescheids vom 7. September 2010
auf den Betrag festgesetzt, der sich ergibt, wenn statt des bisher berücksichtigten
Freibetrags für Betriebsveräußerungs- und -aufgabegewinne von 3.705 EUR ein solcher
von 22.975 EUR abgezogen wird.
Die Berechnung der Steuer wird dem Beklagten übertragen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens haben der Beklagte zu 84 % und die Klägerin zu 16 %
zu tragen.
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) erzielte sowohl als
Einzelunternehmerin als auch durch eine mitunternehmerische Beteiligung an einer
Publikums-GmbH & Co. KG (KG) Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Zum 1. Januar des
Streitjahres 2007 schied sie aus der KG aus. Ferner gab sie zum 31. Dezember 2007
den Betrieb des Einzelunternehmens auf. In ihrer Einkommensteuererklärung ermittelte
sie einen Gewinn aus der Aufgabe des Einzelunternehmens in Höhe von 3.705 EUR
und beantragte hierfür den --nur einmal zu gewährenden-- Freibetrag nach § 16 Abs. 4
des Einkommensteuergesetzes (EStG), dessen persönliche Voraussetzungen
(Vollendung des 55. Lebensjahres) sie erfüllte. In der Anlage GSE zur
Einkommensteuererklärung führte sie auch die KG-Beteiligung auf, ließ das Feld zur
Angabe der Höhe der hieraus bezogenen Einkünfte jedoch leer.
2 Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) veranlagte die Klägerin am
20. Juni 2008 erklärungsgemäß unter dem Vorbehalt der Nachprüfung und beließ den
Aufgabegewinn aus dem Einzelunternehmen steuerfrei. Im Anschluss an eine
Außenprüfung, die nicht zu Änderungen der Besteuerungsgrundlagen führte, hob das
FA den Vorbehalt der Nachprüfung mit Bescheid vom 6. August 2009 auf.
3 Am 24. August 2010 teilte das für die KG zuständige Betriebs-FA dem FA mit, die
Klägerin habe aufgrund ihres Ausscheidens aus der KG einen Veräußerungsgewinn in
Höhe von 22.975 EUR erzielt. Diesen Betrag, der auf der Auflösung eines negativen
Kapitalkontos beruhte, erfasste das FA in dem nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der
Abgabenordnung (AO) geänderten, im vorliegenden Verfahren angefochtenen
Einkommensteuerbescheid 2007 vom 7. September 2010. Es gewährte hierfür zwar
die Tarifermäßigung nach § 34 Abs. 1 EStG, nicht aber den Freibetrag nach § 16
Abs. 4 EStG.
4 Im Einspruchsverfahren beantragte die Klägerin erfolglos, den Freibetrag nach § 16
Abs. 4 EStG auf den --höheren-- Gewinn aus der Veräußerung der Beteiligung
anzuwenden. Sie vertrat hierzu die Auffassung, der Bescheid könne nach § 173 Abs. 1
Nr. 2 AO geändert werden. Ihr sei erst nachträglich bekannt geworden, dass sie durch
das Ausscheiden aus der KG einen Veräußerungsgewinn erzielt habe.
5 Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt (Entscheidungen der Finanzgerichte --
EFG-- 2014, 287). Zwar seien die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht
erfüllt, weil der Veräußerungsgewinn keine neue Tatsache darstelle. Der steuerlich
beratenen Klägerin sei sowohl ihr Ausscheiden aus der KG als auch der Umstand,
dass ihr Kapitalkonto negativ gewesen sei, bekannt gewesen. Allerdings sei eine
Rechtsfehlerkompensation nach § 177 Abs. 1 AO vorzunehmen. Hierfür reiche es aus,
wenn im Zeitpunkt der Änderung des Bescheids ein nicht eigenständig korrigierbarer
materieller Fehler gegeben sei. Die nachträgliche Ausübung eines Wahlrechts könne
einen solchen Fehler herbeiführen.
6 Mit seiner Revision verweist das FA auf eine gegenteilige Entscheidung des FG
München vom 29. Oktober 2009 15 K 298/07 (Nichtzulassungsbeschwerde
zurückgewiesen durch Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 10. Mai 2010
IX B 220/09, BFH/NV 2010, 1415).
7 Das FA beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
8 Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
9 Sie hält die vom FA angeführte Entscheidung des FG München nicht für einschlägig,
da sie zu den Überschusseinkünften und zu einem Wahlrecht mit mehrjährigem
Begünstigungszeitraum (Sonderabschreibung nach dem Fördergebietsgesetz)
ergangen sei. Demgegenüber habe die Klägerin ihre Einkünfte durch
Betriebsvermögensvergleich ermittelt.
Entscheidungsgründe
10 II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und
zur Entscheidung des Senats in der Sache selbst (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--).
11 Die verfahrensrechtlichen Überlegungen des FG und der Beteiligten zur
Anwendbarkeit einer Korrekturvorschrift oder des § 177 AO gehen schon deshalb ins
Leere, weil die Klägerin Einspruch gegen einen steuererhöhenden
Änderungsbescheid eingelegt hat und im Umfang der vorgenommenen Änderung eine
Herabsetzung der festgesetzten Steuer im Einspruchsverfahren verfahrensrechtlich
immer möglich ist (dazu unten 1.). Zu Recht hat das FG aber die Auffassung
vertreten, dass die Klägerin ihr Antragsrecht im Einspruchsverfahren gegen den
Änderungsbescheid erneut ausüben konnte (unten 2.). Gleichwohl muss das
angefochtene Urteil aufgehoben werden, weil das FG die Gegenrechnung des bisher
gewährten Freibetrags unterlassen hat (unten 3.).
12 1. Anders als das FG und die Beteiligten meinen, ist im Streitfall weder
entscheidungserheblich, ob die Voraussetzungen einer Korrekturvorschrift erfüllt sind
noch ob eine Rechtsfehlerkompensation nach § 177 Abs. 1 AO möglich ist. Die
Frage, ob eine verfahrensrechtliche Änderungsmöglichkeit für den Fall eröffnet wäre,
dass der angefochtene Steuerbescheid materiell-rechtlich rechtswidrig sein sollte, ist
vielmehr offensichtlich zu bejahen. Denn die Klägerin hat einen Änderungsbescheid,
in dem im Vergleich zum vorangehenden Bescheid eine höhere Steuer festgesetzt
worden ist, mit dem Rechtsbehelf des Einspruchs angefochten. Ein solcher
Änderungsbescheid kann im Einspruchsverfahren gemäß § 351 Abs. 1 AO insoweit
angegriffen --und gemäß § 367 Abs. 2 Satz 2 AO durch Erlass eines (Teil-
)Abhilfebescheids auch geändert-- werden, als die Änderung reicht. Da die Klägerin
im Einspruchsverfahren lediglich begehrt hat, die Einkommensteuer auf einen Betrag
herabzusetzen, der zwar niedriger ist als die im Änderungsbescheid festgesetzte
Steuer, aber höher ist als der im ursprünglichen Bescheid festgesetzte Betrag, wäre --
wenn man allein auf die verfahrensrechtlich eröffneten Möglichkeiten abstellt-- im
Einspruchsverfahren eine Änderungsmöglichkeit zweifelsfrei gegeben, ohne dass es
auf die Voraussetzungen einer der Korrekturvorschriften oder der
Rechtsfehlerkompensation ankäme.
13 2. Die Klägerin konnte ihr durch § 16 Abs. 4 EStG eröffnetes Antragsrecht im
Einspruchsverfahren gegen den Änderungsbescheid anderweitig ausüben. Damit
steht ihr der Freibetrag nunmehr für den Gewinn aus der Veräußerung der KG-
Beteiligung (22.975 EUR) zu.
14 a) Dem steht im Streitfall die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung nicht
entgegen, wonach auch solche Antrags- oder Wahlrechte, für deren Ausübung im
Gesetzeswortlaut keine ausdrückliche zeitliche Begrenzung vorgesehen ist,
grundsätzlich nur bis zum Eintritt der Bestandskraft des entsprechenden
Steuerbescheids erstmals oder in geänderter Weise ausgeübt werden können.
15 Alle diese Entscheidungen sind zu Fallgestaltungen ergangen, in denen die
Steuerfestsetzung für denjenigen Veranlagungszeitraum, auf den sich die begehrte
erstmalige oder geänderte Ausübung des Antrags- oder Wahlrechts beziehen sollte,
bereits bestandskräftig war, und der Steuerpflichtige durch Stellung eines
Änderungsantrags die Durchbrechung der Bestandskraft zu seinen Gunsten
erreichen wollte (BFH-Urteile vom 10. Oktober 1969 VI R 180/67, BFHE 97, 186,
BStBl II 1970, 63; vom 18. Dezember 1973 VIII R 101/69, BFHE 111, 302, BStBl II
1974, 319; vom 25. Februar 1992 IX R 41/91, BFHE 167, 369, BStBl II 1992, 621;
vom 13. Februar 1997 IV R 59/95, BFH/NV 1997, 635; vom 17. September 2008
IX R 72/06, BFHE 222, 571, BStBl II 2009, 639, und vom 14. Mai 2009 IV R 6/07,
BFH/NV 2009, 1989; BFH-Beschluss vom 11. Juni 2014 IV B 46/13, BFH/NV 2014,
1369).
16 Wenn die Ausübung eines Wahlrechts den Steuerpflichtigen für mehrere
Veranlagungszeiträume bindet, tritt diese Bindung bereits dann ein, wenn nur der
erste Veranlagungszeitraum bestandskräftig veranlagt wurde (BFH-Beschluss vom
2. Juli 1992 IX B 169/91, BFHE 168, 298, BStBl II 1992, 909: degressive Gebäude-
AfA; BFH-Urteil vom 27. Oktober 1992 IX R 60/90, BFH/NV 1993, 467: keine
Verteilung größerer Erhaltungsaufwendungen nach § 82b der Einkommensteuer-
Durchführungsverordnung, wenn die Aufwendungen bereits im Jahr ihres Abflusses
bestandskräftig als Werbungskosten abgezogen worden sind). Ebenso kann ein
Gewinnermittlungswahlrecht, das einem bestandskräftig gewordenen
Einkommensteuerbescheid zugrunde gelegt wurde, für einen verfahrensrechtlich
noch offenen Gewerbesteuermessbescheid nicht anderweitig ausgeübt werden (BFH-
Urteil vom 9. August 1989 X R 110/87, BFHE 158, 520, BStBl II 1990, 195).
17 Dass mit dem --in den meisten Entscheidungen nicht näher erläuterten-- Begriff der
"Bestandskraft" nicht die materielle, sondern die formelle Bestandskraft gemeint ist,
ergibt sich u.a. aus dem BFH-Urteil vom 30. August 2001 IV R 30/99 (BFHE 196, 507,
BStBl II 2002, 49, unter II.2.a), wo es in dem hier interessierenden Zusammenhang
heißt, unanfechtbar sei eine Steuerfestsetzung, wenn sie nicht mehr mit ordentlichen
außergerichtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfen angefochten werden könne.
18 Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass der Eintritt der formellen Bestandskraft die
zeitliche Grenze für die anderweitige Ausübung von Antrags- oder Wahlrechten bildet,
macht die Rechtsprechung aber, wenn der ursprüngliche Bescheid noch unter dem
Vorbehalt der Nachprüfung steht (BFH-Urteil vom 3. Februar 1987 IX R 255/84,
BFH/NV 1987, 751, unter II.1.; diese Entscheidung wird auch in dem vom FA im
vorliegenden Revisionsverfahren angeführten BFH-Beschluss in BFH/NV 2010, 1415
zustimmend zitiert; im Ergebnis wohl auch BFH-Urteil vom 25. Oktober 2007
III R 39/04, BFHE 219, 294, BStBl II 2008, 226; anders allerdings für das
umsatzsteuerrechtliche Wahlrecht zur Bestimmung des Vorsteuer-
Aufteilungsschlüssels BFH-Urteil vom 22. November 2007 V R 35/06, BFH/NV 2008,
628).
19 Im Ergebnis besteht damit Einigkeit, dass durch die erstmalige oder geänderte
Ausübung eines Antrags- oder Wahlrechts die Änderung einer formell
bestandskräftigen, nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden
Steuerfestsetzung nicht erreicht werden kann, und eine solche Verfahrenshandlung
insbesondere nicht die Voraussetzungen einer der gesetzlichen Korrekturvorschriften
erfüllt.
20 b) Vorliegend begehrt die Klägerin indes nicht die Änderung eines bestandskräftigen
Bescheids. Vielmehr hat sie einen steuererhöhenden Änderungsbescheid angegriffen,
der als solcher nicht bestandskräftig geworden ist. Zu derartigen Fallgestaltungen hat
sich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch kein einheitliches Bild entwickelt.
21 aa) Für Zwecke der Ausübung des Ehegatten zustehenden Rechts auf Wahl der
Veranlagungsform (§§ 26 ff. EStG) lässt die ständige Rechtsprechung der hierfür
zuständigen bzw. zuständig gewesenen Senate des BFH eine Änderung der bereits
ausgeübten Wahlmöglichkeit auch dann zu, wenn die anderweitige Veranlagungsform
erst nach Ergehen eines Änderungsbescheids, der an die Stelle eines formell
bestandskräftig gewordenen Bescheids getreten ist, gewählt wird (tragend in den
BFH-Urteilen vom 27. Juli 1988 VI R 43/85, BFH/NV 1989, 156; vom 27. September
1988 VIII R 98/87, BFHE 155, 91, BStBl II 1989, 229, und vom 25. Juni 1993
III R 32/91, BFHE 171, 407, BStBl II 1993, 824; ferner obiter dicta in den BFH-Urteilen
vom 28. August 1981 VI R 139/78, BFHE 134, 412, BStBl II 1982, 156; vom 24. Mai
1991 III R 105/89, BFHE 165, 345, BStBl II 1992, 123, unter 2.b; vom 19. Mai 1999
XI R 97/94, BFHE 189, 63, BStBl II 1999, 762; vom 20. Januar 1999 XI R 31/96,
BFH/NV 1999, 1333, und vom 24. Januar 2002 III R 49/00, BFHE 198, 12, BStBl II
2002, 408, unter II.1.).
22 Diese Entscheidungen sind allerdings jedenfalls nicht zwingend auf andere
einkommensteuerrechtliche Antrags- oder Wahlrechte übertragbar, da es sich bei der
anderweitigen Ausübung des Ehegattenwahlrechts nach der Rechtsprechung des
III. Senats weder um einen Einspruch noch um einen Änderungsantrag handelt. Eine
solche Verfahrenshandlung berechtigt daher nur zu einer Änderung der
Veranlagungsform, nicht aber zur Änderung der bisher berücksichtigten
Besteuerungsgrundlagen (BFH-Urteil vom 3. März 2005 III R 60/03, BFHE 209, 308,
BStBl II 2005, 564).
23 bb) Auch hat es die höchstrichterliche Rechtsprechung zugelassen, ein Wahlrecht
(erstmals) im Einspruchsverfahren gegen einen Änderungsbescheid auszuüben,
wenn erst dieser Änderungsbescheid überhaupt die Grundlage für die Ausübung des
Wahlrechts gelegt hat. So hat es der IV. Senat gebilligt, dass die Vergünstigung des
§ 6c EStG für die Übertragung stiller Reserven aus der Veräußerung von
landwirtschaftlichem Grund und Boden im Einspruchsverfahren gegen einen
Änderungsbescheid geltend gemacht wurde, wenn erst in diesem
Änderungsbescheid ein Veräußerungsgewinn aus dem --vom Steuerpflichtigen als
Privatvermögen angesehenen-- Grundbesitz angesetzt worden ist (BFH-Urteil in
BFHE 196, 507, BStBl II 2002, 49).
24 cc) Darüber hinaus wird die Änderung eines bestandskräftigen Bescheids nach § 173
Abs. 1 Nr. 2 AO zugelassen, wenn der Sachverhalt, auf dem das Wahlrecht beruht,
dem FA nachträglich bekannt wird und den Steuerpflichtigen an dem nachträglichen
Bekanntwerden kein grobes Verschulden trifft. In diesem Fall kann der
Steuerpflichtige sein Wahlrecht erstmals ausüben, obwohl der Sachverhalt als solcher
bereits in der ursprünglichen Veranlagung erfasst war und diese bestandskräftig
geworden ist (BFH-Urteil vom 28. September 1984 VI R 48/82, BFHE 141, 532, BStBl
II 1985, 117: wenn dem Steuerpflichtigen erst nach Bestandskraft der Veranlagung
bekannt wird, dass darin auch Jubiläumszuwendungen seines Arbeitgebers erfasst
worden sind, kann er gleichwohl deren ermäßigte Besteuerung nach § 34 EStG
beantragen und das FA zur Änderung des Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO
veranlassen).
25 c) Jedenfalls in Fallgestaltungen wie im Streitfall wird die zeitliche Grenze für die
Möglichkeit der erstmaligen oder geänderten Ausübung eines Antrags- oder
Wahlrechts nach Auffassung des erkennenden Senats nicht durch die formelle
Bestandskraft des Erstbescheids, sondern erst durch die formelle Bestandskraft des
steuererhöhenden Änderungsbescheids gezogen, sofern die steuerlichen
Auswirkungen der Ausübung des Antrags- oder Wahlrechts nicht über den durch
§ 351 Abs. 1 AO gezogenen Rahmen hinaus gehen.
26 Der Zweck der unter a) zitierten Rechtsprechung liegt darin, zu verhindern, dass ein
formell und materiell bestandskräftiger Steuerbescheid, für dessen Änderung keine
Korrekturvorschrift zur Verfügung steht, allein wegen der erstmaligen oder
anderweitigen Ausübung eines Antrags- oder Wahlrechts geändert werden muss. Der
Steuerpflichtige soll die Finanzverwaltung nicht allein durch die nachträgliche
("verspätete") erstmalige oder geänderte Ausübung von Antrags- oder Wahlrechten
zwingen können, die Veranlagung verfahrensrechtlich wieder zu "öffnen". Vor diesem
Hintergrund ist die Ausübung von Antrags- oder Wahlrechten in der zitierten
Rechtsprechung zutreffend insbesondere weder als neue Tatsache i.S. des § 173
Abs. 1 Nr. 2 AO noch als rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
AO angesehen worden.
27 Eine grundlegend andere Situation ist aber gegeben, wenn das FA den formell
bestandskräftig gewordenen Bescheid ohnehin --mit steuererhöhender Wirkung--
ändern muss, weil die Voraussetzungen einer Korrekturvorschrift erfüllt sind und
insoweit die materielle Bestandskraft des Bescheids durchbrochen wird. Jedenfalls
dann, wenn für den Steuerpflichtigen --wie im vorliegenden Fall-- erst durch die
erstmalige Erfassung eines weiteren steuererheblichen Sachverhalts im
Änderungsbescheid überhaupt die wirtschaftliche Notwendigkeit entsteht, sich mit der
Ausübung bzw. geänderten Ausübung eines einkommensteuerrechtlichen Antrags-
oder Wahlrechts für denselben Veranlagungszeitraum zu befassen (vgl. hierzu auch
die vorstehend unter b bb angeführte Rechtsprechung), ist es interessengerecht, ihm
diese Möglichkeit bis zur formellen Bestandskraft des Änderungsbescheids
zuzugestehen. Davon unberührt bleibt, dass andere einkommensteuerrechtliche
Vorschriften (z.B. das Gewinnermittlungswahlrecht nach § 4 Abs. 3 EStG oder
jedenfalls die Ansparabschreibung nach § 7g EStG a.F.) weitere materiell-rechtliche
Anforderungen an eine geänderte Wahlrechtsausübung stellen und in diesen Fällen
allein der noch fehlende Eintritt der formellen Bestandskraft eines
Änderungsbescheids nicht hinreichend für eine geänderte Wahlrechtsausübung ist.
28 Soweit der IX. Senat des BFH im Beschluss in BFH/NV 2010, 1415 zu einer mit dem
vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt im Wesentlichen vergleichbaren
Konstellation im Ergebnis --ohne näher zwischen der Bestandskraft von
Erstbescheiden und der von Änderungsbescheiden zu differenzieren-- eine andere
Auffassung vertreten hat, hat er auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt, daran
nicht mehr festzuhalten.
29 3. Das vorinstanzliche Urteil ist allerdings insoweit rechtsfehlerhaft, als es der
Klägerin zwar den Freibetrag für den Gewinn aus der Veräußerung der KG-
Beteiligung (22.975 EUR) zugesprochen, den bisher gewährten Freibetrag für die
Betriebsveräußerung (3.705 EUR) aber nicht gegengerechnet hat.
30 Der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG kann nach dem Gesetzeswortlaut ("nur einmal
zu gewähren") auch bei Veräußerung oder Aufgabe mehrerer Betriebe, Teilbetriebe
oder Mitunternehmeranteile innerhalb desselben Veranlagungszeitraums nur für einen
einzigen Veräußerungs- oder Aufgabegewinn in Anspruch genommen werden (so
zutreffend auch Kobor in Herrmann/Heuer/Raupach, § 16 EStG Rz 730).
31 Vorliegend hat das FG tenoriert, der Einkommensteueränderungsbescheid werde
"nach Maßgabe der Urteilsgründe geändert". Die Urteilsgründe enthalten allerdings
lediglich Rechtsausführungen, aber keine Hinweise zur Steuerberechnung.
Hinreichend klar wird nur, dass das FG den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG für den
Gewinn aus der Veräußerung der KG-Beteiligung (22.975 EUR) gewähren wollte.
Angesichts des Umstands, dass die Klägerin ausweislich des Tatbestands des
angefochtenen Urteils die Steuerfreistellung des Betrags von 22.975 EUR (ohne
Gegenrechnung des bisher gewährten Freibetrags von 3.705 EUR) beantragt hatte
und das FG der Klage in vollem Umfang stattgegeben hat, ohne der Klägerin für den
zu weit gehenden Klageantrag eine Kostenquote aufzuerlegen, ist davon auszugehen,
dass das FG keine Gegenrechnung des bisher gewährten Freibetrags vornehmen
wollte. In diesem Umfang war das angefochtene Urteil zu ändern.
32 Die Ermittlung der festzusetzenden Steuer wird gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2, § 121
Satz 1 FGO dem FA übertragen.
33 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO.