Urteil des BFH vom 04.07.2013

Erstmalige Erfassung weiterer Haftungs-Lebenssachverhalte in der Einspruchsentscheidung

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 4.7.2013, X B 91/13
Erstmalige Erfassung weiterer Haftungs-Lebenssachverhalte in der Einspruchsentscheidung
Tatbestand
1 I. Am 13. April 2004 erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--)
gegen den Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) einen Haftungsbescheid. Dessen
Gegenstand waren Steuerschulden einer zwischenzeitlich insolvent gewordenen GmbH,
die einen bordellartigen Betrieb geführt hatte (Körperschaftsteuer und
Solidaritätszuschlag zur Körperschaftsteuer für 1997 und 1998, Umsatzsteuer 1996 bis
1998, Nachzahlungszinsen zu den genannten Steuern). Der Kläger war einziger
Geschäftsführer der GmbH; das FA stützte die Haftungsinanspruchnahme auf §§ 69, 71
der Abgabenordnung (AO). Die Summe der Steuerschulden der GmbH, für die der Kläger
in Haftung genommen wurde, betrug 459.310,51 EUR. Bereits in diesem Bescheid wies
das FA darauf hin, dass selbst dann, wenn ein Teil der Umsätze nicht der GmbH, sondern
den Prostituierten zuzurechnen sein sollte, der Kläger gleichwohl haften würde, und zwar
gemäß § 71 AO wegen Beihilfe zur Hinterziehung eigener Steuern der Prostituierten.
2 Während des anschließenden Einspruchsverfahrens setzte das FA die Haftungsschulden
mit Bescheid vom 9. März 2007 auf insgesamt 267.177,50 EUR herab. Am 7. August 2007
erteilte das FA dem Kläger einen "Verböserungshinweis" auf die Möglichkeit seiner
Haftungsinanspruchnahme für Einkommensteuerschulden der unbekannt gebliebenen
Prostituierten.
3 Der Tenor der Einspruchsentscheidung vom 11. Juli 2008, als deren Gegenstand der
"Haftungsbescheid über Steuerschulden der Firma ... GmbH" bezeichnet wird, lautet --
soweit für das vorliegende Verfahren von Bedeutung-- wie folgt:
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"2. Unter Änderung des Haftungsbescheids vom 13.04.2004 wird die Haftungssumme
auf 230.725,40 EUR festgesetzt.
3. Auf die Haftung i.S.d. § 71 AO aufgrund des Steuerausfalles für die nicht erfassten
'Dameneinnahmen' entfallen die hiermit festgesetzten Beträge zur
Einkommensteuer 1996
43.160 EUR
Einkommensteuer 1997
38.440 EUR
Einkommensteuer 1998
19.340 EUR
-die Beträge sind in der o.g. Haftungssumme enthalten ".
5 Hiergegen erhob der Kläger Klage, die vom 13. Senat des Finanzgerichts (FG) bearbeitet
und dem FA am 11. August 2008 zugestellt wurde.
6 Am 5. März 2009 wies der Berichterstatter des 13. Senats des FG die Beteiligten darauf
hin, dass die Haftungsinanspruchnahme wegen Einkommensteuer einen eigenständigen
Verwaltungsakt darstelle, der erstmals mit der Einspruchsentscheidung erlassen worden
sei. Insoweit fehle es an einem Vorverfahren, so dass es sich um eine Sprungklage
handele. Dieser habe das FA nicht innerhalb der Monatsfrist des § 45 Abs. 1 Satz 1 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zugestimmt.
7 In der Folgezeit widersprachen beide Beteiligten dieser Auffassung des Berichterstatters
mit ausführlicher Argumentation. Das FA brachte vor, aufgrund seiner Befugnis, die Sache
in vollem Umfang erneut zu prüfen (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO), sei es zulässig gewesen, die
Haftung auf die Einkommensteuer zu erweitern. Der Kläger vertrat die Auffassung, das
außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren sei durchgeführt und durch Erlass der
Einspruchsentscheidung beendet worden. Gleichwohl trennte der 13. Senat mit
Beschluss vom 30. April 2009 das Verfahren wegen Haftung für die Einkommensteuer
1996 bis 1998 der Prostituierten ab und gab es an den 8. Senat des FG ab.
8 Der Berichterstatter des nunmehr zuständigen 8. Senats des FG schloss sich mit
Hinweisschreiben vom 4. Juni 2009 der Auffassung des 13. Senats an. Auch gegen
dieses Hinweisschreiben wandten sich beide Beteiligte.
9 Am 17. Dezember 2012 verfügte der Berichterstatter des 8. Senats des FG, die Klage sei
als Sprungklage zu behandeln, und übersandte die Akten dem FA. Auch dieser
Verfügung widersprachen beide Beteiligte. Das FA vertrat die Auffassung, der Lauf der
Monatsfrist könne erst mit der Verfügung vom 17. Dezember 2012 begonnen haben, weil
zuvor beide Beteiligte übereinstimmend von einer wirksamen Anfechtungsklage, nicht
aber von einer Sprungklage ausgegangen seien. Es erklärte nunmehr die Zustimmung
zur Sprungklage und sandte die Akten an das FG zurück. Der Berichterstatter des FG
erklärte, das Klageverfahren sei in den Registern gelöscht und regte an, das FA solle das
Einspruchsverfahren betreiben. Er übersandte die Akten wieder dem FA. Der Kläger
beantragte gerichtliche Entscheidung über seinen Antrag auf Verfahrensfortgang und
erhob Verzögerungsrüge wegen des mehrjährigen Nichtbetreibens des Verfahrens und
der Löschung aus den Registern.
10 Daraufhin erließ das FG am 31. Januar 2013 den im vorliegenden Beschwerdeverfahren
angefochtenen Beschluss, das Verfahren als Einspruch an das FA zu verweisen. Die
Klage sei entgegen der übereinstimmenden Auffassung beider Beteiligten als
Sprungklage anzusehen, der das FA nicht innerhalb der Monatsfrist zugestimmt habe.
Soweit die Einspruchsentscheidung erstmalig die Einkommensteuer der Prostituierten
und einen Vorgang des Jahres 1996 erfasst habe, sei sie über den Gegenstand des
Einspruchsverfahrens hinausgegangen. Es handele sich daher um den erstmaligen
Erlass eines Verwaltungsakts, für den noch kein Einspruchsverfahren durchgeführt
worden sei.
11 Mit seiner Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat, macht der Kläger --ergänzend
zu seinem bisherigen Vorbringen-- geltend, die erweiterte Haftungsinanspruchnahme in
der Einspruchsentscheidung sei nicht als eigenständiger Verwaltungsakt anzusehen.
Wenn das FA bei Erlass der Einspruchsentscheidung die durch § 367 AO gezogenen
Grenzen überschritten habe, sei das Vorverfahren gleichwohl durchgeführt worden;
jedoch sei die Einspruchsentscheidung rechtswidrig. Gemäß § 124 AO sei die
Einspruchsentscheidung mit dem Inhalt wirksam geworden, mit dem sie bekannt gegeben
worden sei. Hierfür komme es entsprechend § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf den
Horizont eines objektiven Empfängers an. Ein solcher objektiver Empfänger könne
angesichts des Tenors, der Begründung und der Rechtsbehelfsbelehrung der
Einspruchsentscheidung sowie des erteilten Verböserungshinweises keinen Zweifel
daran haben, dass das FA keinen Erstbescheid, sondern eine Einspruchsentscheidung
erlassen habe. Auch wäre für den Erlass eines Erstbescheids nicht die
Rechtsbehelfsstelle des FA zuständig gewesen. Zudem habe das FA im Klageverfahren
mehrfach ausdrücklich erklärt, eine einheitliche Einspruchsentscheidung und keinen
erstmaligen Haftungsbescheid erlassen zu haben. Ob das FA die
Einspruchsentscheidung in dieser Form hätte erlassen dürfen, sei eine Frage der
Begründetheit der Anfechtungsklage, nicht aber ihrer Statthaftigkeit.
12 Der Kläger beantragt,
den Beschluss des FG vom 31. Januar 2013 8 K 1615/09 aufzuheben.
13 Das FA hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
14 II. Die Beschwerde ist begründet.
15 Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, da das Vorverfahren durchgeführt worden ist
und keine Rechtsgrundlage für die Abgabe der Klage an das FA besteht.
16 1. Im Ausgangspunkt zu Recht geht das FG allerdings davon aus, dass auch beim Erlass
eines zusammengefassten Haftungsbescheids in Bezug auf jede Steuerart und jeden
Steuerabschnitt ein eigenständiger Verwaltungsakt vorliegt (dazu unten a) und die
Einspruchsentscheidung den durch § 367 AO gezogenen Rahmen verlässt, soweit der
Kläger darin auch für Einkommensteuerschulden der Prostituierten in Anspruch
genommen worden ist (unten b).
17 a) Die einzelnen Steuerarten und -abschnitte, die in einem zusammengefassten
Haftungsbescheid ausgewiesen sind, stellen nicht lediglich "Schadenspositionen" zur
Begründung eines Gesamthaftungsbetrags dar, sondern wesensbestimmende
Bezugspunkte des Haftungsbescheids (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom
16. Dezember 2003 VII R 77/00, BFHE 204, 391, BStBl II 2005, 249, unter II.F.). So
handelt es sich bei Haftungsbescheiden für unterschiedliche Kalendermonate
(Kapitalertragsteuer-Anmeldungszeiträume) desselben Kalenderjahres um jeweils
eigenständige Verwaltungsakte (BFH-Beschluss vom 7. April 2005 I B 140/04, BFHE 209,
473, BStBl II 2006, 530).
18 b) Nach allgemeiner Auffassung ist eine Einspruchsentscheidung rechtswidrig, wenn sie
insoweit über den Gegenstand des Einspruchsverfahrens hinausgeht, als darin erstmals
ein Verwaltungsakt erlassen wird (Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/ Spitaler --HHSp--,
§ 367 AO Rz 230; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 367
AO Rz 16). Denn die Entscheidungsbefugnis des FA im Einspruchsverfahren wird durch
den angefochtenen Verwaltungsakt begrenzt (BFH-Urteil vom 28. November 1989
VIII R 40/84, BFHE 159, 410, BStBl II 1990, 561, unter III.2.b); die
Einspruchsentscheidung darf nicht auf Personen, Steuergegenstände oder Zeiträume
ausgedehnt werden, die von dem angefochtenen Verwaltungsakt nicht erfasst waren
(BFH-Urteil vom 8. November 1994 VII R 1/93, BFH/NV 1995, 657, unter 1.c). Aus § 367
Abs. 2 Satz 2 AO folgt nichts anderes, weil dem FA auch die Verböserungsmöglichkeit
nur im Rahmen der ihm eingeräumten Überprüfungsmöglichkeit und damit nur in den
Grenzen des von dem ursprünglichen Verwaltungsakt erfassten Lebenssachverhalts
zusteht (BFH-Urteil vom 19. Januar 1994 II R 32/90, BFH/NV 1994, 758, unter II.1.).
19 c) Auch wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung mitunter entscheidend auf den
Lebenssachverhalt abstellt (vgl. die angeführten BFH-Entscheidungen in BFH/NV 1994,
758, und BFHE 209, 473, BStBl II 2006, 530), verschmelzen im Streitfall die
Haftungsinanspruchnahmen für unterschiedliche Steuerschuldner, Steuerarten und
Steuerabschnitte nicht deshalb zu einer Einheit, weil das FA sie jeweils auf die
Verletzung von Aufzeichnungspflichten durch den Kläger gestützt hat.
20 Zwar sollen diese nämlichen Pflichtverletzungen des Klägers nach der Begründung der
Einspruchsentscheidung sowohl dem FA eine Schätzungsbefugnis bei der GmbH als
auch den Prostituierten die Möglichkeit der Hinterziehung eigener Steuern --mangels
Identifikationsmöglichkeit durch das FA-- ermöglicht haben. Indes wird der maßgebende
Lebenssachverhalt bei Haftungsbescheiden ergänzend auch durch den Steuerschuldner,
die Steuerart und den Steuerabschnitt gekennzeichnet und separiert. Zumindest
Steuerschuldner und Steuerart waren aber in Bezug auf die Haftung für Körperschaft- und
Umsatzsteuerschulden der GmbH einerseits und die Haftung für Einkommensteuer einer
nur griffweise zu schätzenden Zahl unbekannt gebliebener Prostituierter andererseits
grundverschieden. Danach kommt es nicht mehr darauf an, dass das FG zu Unrecht den
Veranlagungszeitraum 1996 als nicht vom ursprünglichen Haftungsbescheid erfasst
angesehen hat.
21 2. Anders als das FG meint, gibt es jedoch keine rechtliche Grundlage dafür, eine
Einspruchsentscheidung, in der das FA über den Gegenstand des Einspruchsverfahrens
hinausgeht, als erstmaligen Verwaltungsakt anzusehen und entgegen dem Tenor, der
Begründung und der Rechtsmittelbelehrung der Einspruchsentscheidung die
Durchführung eines weiteren Einspruchsverfahrens zu verlangen. Auch in einem solchen
Fall ist eine Ein-spruchsentscheidung ergangen und kann von dem dadurch Beschwerten
in zulässiger Weise angefochten werden; die Klage ist mithin nicht --wie in § 45 Abs. 1
Satz 1 FGO für die Abgabe als Einspruch an die Finanzbehörde vorausgesetzt-- "ohne
Vorverfahren" erhoben worden.
22 Dementsprechend hat der BFH in denjenigen Entscheidungen, in denen er die Grenze
der Entscheidungsbefugnis des FA im Einspruchsverfahren als überschritten angesehen
hat, nicht etwa eine Pflicht zur Abgabe einer gegen den "neuen" Verwaltungsakt
erhobenen Klage als Einspruch an das FA angenommen, sondern eine solche
Einspruchsentscheidung aufgehoben (vgl. BFH-Urteile in BFHE 159, 410, BStBl II 1990,
561, und in BFH/NV 1994, 758). Dies gilt ebenso in Fällen, in denen die
Einspruchsentscheidung --auch-- gegen eine Person ergangen war, die gar keinen
Einspruch eingelegt hatte (BFH-Urteile vom 7. September 1995 III R 111/89, BFH/NV
1996, 521, und vom 8. April 1998 VIII R 14/95, BFH/NV 1999, 145), sowie bei
Unwirksamkeit des ursprünglichen Verwaltungsakts, wenn erstmals die
Einspruchsentscheidung als wirksamer Verwaltungsakt anzusehen war (BFH-Urteil vom
25. Januar 1994 VIII R 45/92, BFHE 173, 213, BStBl II 1994, 603, unter II.3.a, m.w.N.;
Steinhauff in HHSp, § 44 FGO Rz 140).
23 Etwas anderes folgt auch nicht aus dem vom FG angeführten BFH-Urteil vom 4. Juli 1986
VI R 182/80 (BFHE 147, 323, BStBl II 1986, 921). Auch dort wird lediglich der Grundsatz
bestätigt, dass in einem Sammel-Haftungsbescheid zusammengefasste
Haftungsinanspruchnahmen jeweils voneinander unabhängige Haftungsschulden
darstellen. Mit der vorliegend zu beurteilenden Fallgestaltung, dass erstmals in der
Einspruchsentscheidung Haftungsinanspruchnahmen für bisher nicht vom Verfahren
erfasste Steuerschuldner, Steuerarten und Steuerabschnitte ausgesprochen werden,
befasst sich die genannte Entscheidung indes nicht.
24 3. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen. Bei dem vorliegenden
Beschwerdeverfahren handelt es sich um ein unselbständiges Zwischenverfahren, das
von der Kostenentscheidung in dem noch abzuschließenden Verfahren vor dem FG mit
umfasst ist (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Dezember 2012 X B 221, 222/12, BFH/NV
2013, 571, unter II.3., m.w.N.).