Urteil des BFH vom 16.03.2016

Erfolgreiche Verfahrensrüge: Verletzung der richterlichen Hinweispflicht - Vom Gericht mitverursachte Unklarheit über das Bestehen eines anhängigen Klageverfahrens bei zunächst isoliert gestelltem Antrag auf Prozesskostenhilfe

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 16.3.2016, X B 202/15
Erfolgreiche Verfahrensrüge: Verletzung der richterlichen Hinweispflicht - Vom Gericht
mitverursachte Unklarheit über das Bestehen eines anhängigen Klageverfahrens bei
zunächst isoliert gestelltem Antrag auf Prozesskostenhilfe
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des
Finanzgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 11. November 2015 3 K 1046/09
aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
1 I. Gegen den Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) waren am 22. August 2006
Änderungsbescheide ergangen. Die Einspruchsverfahren wurden mit
Einspruchsentscheidungen vom 21. Oktober 2008 abgeschlossen.
2 Am 20. November 2008 ging beim Finanzgericht (FG) ein Schriftsatz der
Prozessbevollmächtigten (P) des Klägers vom 18. November 2008 ein, mit dem diese
Prozesskostenhilfe (PKH) beantragten. In diesem --von P unterschriebenen--
Schriftsatz hieß es u.a.: "Die beabsichtigte Klage hat hinreichende Aussicht auf Erfolg
und ist auch nicht mutwillig. Hierzu wird auf den anliegenden Klageentwurf (Anlage 2)
verwiesen." Beigefügt war ein zweiseitiger Schriftsatz, der mit "Klage" überschrieben,
aber nicht mit einer Unterschrift, sondern nur mit einem Stempelabdruck des P
versehen war. Das FG erfasste diesen Eingang zunächst unter einem "S-
Aktenzeichen" (3 S 1655/08).
3 Am 12. Januar 2009 stellte das FG das Aktenzeichen auf ein --grundsätzlich für
Klageverfahren vorgesehenes-- "K-Aktenzeichen" um (3 K 1695/08). Nachfolgend
verwendeten beide Beteiligte, die zunächst den Begriff "Verfahren" benutzt sowie sich
als "Antragsteller" bzw. "Antragsgegner" bezeichnet hatten, die Begriffe "Rechtsstreit",
"Kläger" und "Beklagter". Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--)
hat hierzu im Schreiben vom 21. September 2009 erklärt: "Allein aufgrund der
Tatsache, dass das Gericht seit dem 12.01.2009 offenbar von einem ‚Rechtsstreit‘
ausgeht, hat das Finanzamt Herrn in den darauffolgenden Schriftsätzen als
Kläger bezeichnet." Auch der als Berichterstatter für die Bearbeitung des Verfahrens
zuständige Senatsvorsitzende verwendete in seinen --teilweise den Beteiligten zur
Kenntnis übersandten-- Vermerken und Verfügungen seit diesem Zeitpunkt nur noch
die Bezeichnungen "Kl." und "Bekl.". In einem mit "Klagebegründung" überschriebenen
Schriftsatz des P vom 17. März 2009 heißt es: "hiermit begründen wir die in der
Klageschrift vom 18.11.2008 gestellten Anträge." In seiner Stellungnahme vom 26. Mai
2009 hat das FA diesen Schriftsatz als "Klagebegründungsschrift" bezeichnet.
4 Das FG gewährte dem Kläger mit Beschluss vom 18. Juni 2009 in vollem Umfang
PKH. Im Rubrum dieses Beschlusses wurde der Kläger als "Antragsteller und
voraussichtlicher Kläger" bezeichnet. Der Beschluss wurde P am 26. Juni 2009
zugestellt.
5 Am 29. Juli 2009 übersandte das FG dem P einen umfangreichen und mit
Bezugnahmen auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) versehenen
rechtlichen Hinweis, wonach lediglich ein isolierter PKH-Antrag gestellt worden sei.
Eine Klage sei bisher nicht erhoben worden. Wiedereinsetzung in die versäumte
Klagefrist könne nun nicht mehr gewährt werden, da die Wiedereinsetzungsfrist
mittlerweile abgelaufen sei.
6 Am 17. August 2009 reichte P einen Schriftsatz ein, in dem er die Auffassung vertrat,
von Anfang an eine Klage erhoben, zumindest aber im weiteren Verlauf des Verfahrens
deutlich gemacht zu haben, dass ein Klageverfahren in jedem Falle habe durchgeführt
werden sollen. Nach der Vergabe eines K-Aktenzeichens habe er nicht die geringsten
Zweifel gehabt, dass ein Klageverfahren anhängig gewesen sei. Zumindest hätte das
FG auf die von ihm vertretene Auslegung so rechtzeitig hinweisen müssen, dass noch
innerhalb der mit der Zustellung des PKH-Beschlusses beginnenden
Wiedereinsetzungsfrist eine Klarstellung in Bezug auf die Klageerhebung möglich
gewesen wäre.
7 Das FG verwarf die Klage als unzulässig. Bei dem Schriftsatz vom 18. November
2008 habe es sich eindeutig nur um einen isolierten PKH-Antrag gehandelt. Klage sei
erst am 17. August 2009 erhoben worden. In keinem der vor dem 17. August 2009
eingereichten Schriftsätze könne eine Klageerhebung gesehen werden. Die
Verwendung der Bezeichnung "Kläger" genüge hierfür nicht. Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand könne nicht gewährt werden. Angesichts des unmissverständlichen
Rubrums des PKH-Beschlusses habe P nicht die äußerste Sorgfalt gewahrt, indem er
hierauf keine Erklärung abgegeben habe. Eine Hinweispflicht habe dem FG nicht
oblegen, da der Kläger durch P vertreten worden sei.
8 Der Kläger begehrt die Zulassung der Revision wegen Verfahrensmängeln.
9 Das FA hält die Nichtzulassungsbeschwerde für unbegründet.
Entscheidungsgründe
10 II. Die Beschwerde ist begründet. Es liegt ein vom Kläger geltend gemachter
Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des FG beruhen kann (§ 115
Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
11 1. Das FG hat die ihm nach § 76 Abs. 2 FGO obliegende Hinweispflicht verletzt.
12 a) Nach dieser Vorschrift hat der Vorsitzende darauf hinzuwirken, dass Formfehler
beseitigt, sachdienliche Anträge gestellt, unklare Anträge erläutert, ungenügende
tatsächliche Angaben ergänzt, ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des
Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.
13 Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist die Hinweispflicht gegenüber
fachkundig vertretenen Beteiligten zwar reduziert und umfasst insbesondere solche
Tatsachen nicht, die "auf der Hand liegen" (BFH-Beschluss vom 7. Oktober 2015
VI B 49/15, BFH/NV 2016, 38, Rz 16). Die Hinweispflicht entfällt aber auch gegenüber
vertretenen Beteiligten nicht etwa vollständig (Senatsbeschluss vom 4. Juni 2003
X B 16/02, BFH/NV 2003, 1212, unter II.1.a bb).
14 Im Übrigen richten sich Inhalt und Umfang der Hinweispflichten wesentlich nach den
jeweiligen Umständen des Einzelfalls (Senatsbeschluss in BFH/NV 2003, 1212, unter
II.1.a bb, m.w.N.).
15 b) Die Vorschrift des § 76 Abs. 2 FGO steht in engem Zusammenhang mit dem
verfassungsrechtlichen Anspruch auf ein faires Verfahren (BFH-Urteil vom
19. Oktober 1993 VIII R 61/92, BFH/NV 1994, 790, unter II.1.b).
16 Insoweit leitet das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in ständiger Rechtsprechung
aus Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gebot
effektiven Rechtsschutzes den Anspruch auf ein faires Verfahren als "allgemeines
Prozessgrundrecht" ab (vgl., auch zum Folgenden, BVerfG-Beschlüsse vom 6. April
1998 1 BvR 2194/97, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1998, 2044, und vom
18. Juli 2013 1 BvR 1623/11, NJW 2014, 205; Senatsbeschluss vom 5. Februar 2014
X B 138/13, BFH/NV 2014, 720, Rz 25 ff.). Danach muss der Richter das Verfahren
so gestalten, wie die Parteien bzw. Beteiligten es von ihm erwarten dürfen. Er darf
sich nicht widersprüchlich verhalten, insbesondere aber darf er aus eigenen oder ihm
zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile für die
Beteiligten ableiten und ist allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den
Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet.
17 c) Nach diesen Maßstäben hätte der Anspruch des Klägers auf ein faires
gerichtliches Verfahren vorliegend einen ausdrücklichen Hinweis des FG auf die
unklare prozessuale Situation erfordert.
18 Zwar hat das FG den ersten im gerichtlichen Verfahren eingereichten Schriftsatz vom
18. November 2008 in rechtlich nicht zu beanstandender Weise dahingehend
gewürdigt, dass damit ausschließlich ein isolierter PKH-Antrag gestellt werden sollte
und noch keine Klage erhoben war. Im weiteren Verlauf des Verfahrens ist aber --
auch durch das eigene Verhalten des FG, was insoweit eine besondere Nähe zum
Anspruch auf ein faires Verfahren begründet-- objektiv erkennbar jedenfalls eine
erhebliche Unklarheit darüber entstanden, ob die Beteiligten sich bereits in einem
Klageverfahren bewegen oder nicht.
19 So hat das FG am 12. Januar 2009 das zunächst vergebene S-Aktenzeichen in ein --
grundsätzlich für Klageverfahren vorgesehenes-- K-Aktenzeichen geändert. Die
Beteiligten erhielten hiervon Kenntnis. Beide Beteiligte haben dies zum Anlass
genommen, in ihrem weiteren umfangreichen Schriftwechsel nicht mehr die zu einem
PKH-Verfahren passenden Bezeichnungen "Verfahren", "Antragsteller" und
"Antragsgegner", sondern die --allein auf ein Klageverfahren zugeschnittenen--
Bezeichnungen "Rechtsstreit", "Kläger" und "Beklagter" zu verwenden. Auch der
Vorsitzende des FG-Senats selbst hat diese Bezeichnungen in seinen Vermerken
und Verfügungen verwendet. Der Kläger hat eine "Klagebegründung" eingereicht, die
auch vom FA als "Klagebegründung" bezeichnet worden ist. Das FA hat die
Umstellung der Beteiligtenbezeichnungen später ausdrücklich mit der vom FG am
12. Januar 2009 vorgenommenen Änderung begründet; beim Kläger liegt es nicht
anders.
20 Vor diesem prozessualen Hintergrund hätte das FG spätestens mit der Bekanntgabe
seines PKH-Beschlusses darauf hinweisen müssen, dass es selbst --trotz
Umstellung auf ein K-Aktenzeichen und der anschließenden Korrespondenz der
Beteiligten-- noch nicht von der Anhängigkeit einer Klage ausgehe. Dies hätte dem
Kläger die Möglichkeit eröffnet, noch innerhalb der mit der Zustellung des PKH-
Beschlusses beginnenden Wiedereinsetzungsfrist entweder Klage zu erheben oder
eine Erklärung des Inhalts abzugeben, dass er bereits zu einem früheren Zeitpunkt
Klage erhoben habe.
21 Dem FG wäre ein solcher Hinweis zumutbar gewesen. Der umfangreiche, von Amts
wegen ergangene rechtliche Hinweis vom 29. Juli 2009 zeigt, dass das FG die
Problematik erkannt hatte. Dann wäre es aber nicht mit besonderem Aufwand
verbunden gewesen, diese rechtliche Erkenntnis dem Kläger nicht erst kurz nach
Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist, sondern noch innerhalb dieser Frist mitzuteilen.
22 Anders als das FG meint, war allein in der Verwendung der Bezeichnung
"Antragsteller und voraussichtlicher Kläger" im Rubrum des PKH-Beschlusses kein
"unmissverständlicher" Hinweis zu sehen. Rechtliche Hinweise nach § 76 Abs. 2
FGO müssen --nicht anders als Prozesserklärungen der Beteiligten-- klar und
eindeutig sein, wenn sie ihren Zweck erfüllen sollen. Hinweise, die nicht ausdrücklich,
sondern lediglich versteckt vorgenommen werden, gewährleisten die Erfüllung des
mit der Vorschrift des § 76 Abs. 2 FGO verbundenen Zwecks regelmäßig nicht in
ausreichender Weise. Hier wäre vor dem Hintergrund des eigenen Verhaltens des
FG, das beide Beteiligte --für das FG erkennbar-- zu einer Änderung ihrer
Beteiligtenbezeichnungen und Wortwahl veranlasst hat, ein ausdrücklicher Hinweis
geboten gewesen.
23 2. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das
angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
24 Für das Verfahren im zweiten Rechtsgang weist der Senat darauf hin, dass er die
weiteren Rügen des Klägers nicht geprüft hat. Dies gilt insbesondere für das
Vorbringen, der Geschäftsverteilungsplan des FG habe im Zeitpunkt der
Entscheidung über das Ablehnungsgesuch (28. November 2014) keine Regelung
darüber enthalten, welcher der beiden beisitzenden Richter des 4. Senats im Falle
einer Verhinderung eines Mitglieds des 3. Senats dort als Vertreter tätig werden solle.
Das FG kann im zweiten Rechtsgang daher in eigener Verantwortung prüfen, ob
seinerzeit eine klare --dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf den gesetzlichen
Richter genügende-- Vertretungsregelung bestanden hat. Sollte dies nicht der Fall
gewesen sein, wäre über das Ablehnungsgesuch noch von dem hierfür zuständigen
Spruchkörper zu entscheiden.
25 3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
26 4. Von einer weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie einer weiteren Begründung
sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.