Urteil des BFH vom 24.02.2015

Steuerfreiheit von Stipendien nach § 3 Nr. 44 EStG 2009

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 24.2.2015, VIII R 43/12
Steuerfreiheit von Stipendien nach § 3 Nr. 44 EStG 2009
Leitsätze
Stipendien für an einer Hochschule beschäftigte Wissenschaftler zur Erfüllung einer
Forschungsaufgabe oder zur Bestreitung des Lebensunterhalts sind nach § 3 Nr. 44 Satz 3
Buchst. a EStG 2009 grundsätzlich steuerfrei, wenn sie die zuvor aus einem
Beschäftigungsverhältnis bezogenen Einnahmen nicht übersteigen, nach den von dem
Geber erlassenen Richtlinien vergeben werden und der Empfänger im Zusammenhang mit
dem Stipendium nicht zu einer bestimmten wissenschaftlichen oder künstlerischen
Gegenleistung oder zu einer bestimmten Arbeitnehmertätigkeit verpflichtet ist.
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 5.
September 2012 6 K 39/12 und die Einspruchsentscheidung des Beklagten vom 8. Februar
2012 aufgehoben.
Die Einkommensteuer der Klägerin für 2009 wird unter Abänderung des
Einkommensteuerbescheids des Beklagten vom 27. Dezember 2010 unter Ansatz eines
um 7.028 EUR geminderten zu versteuernden Einkommens festgesetzt.
Die Berechnung der Steuer wird dem Beklagten übertragen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
1 I. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Einnahmen der Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) aus einem Forschungsstipendium eines Kollegs
steuerfrei sind. Das Kolleg wird von einer gemeinnützigen Stiftung des bürgerlichen
Rechts getragen.
2 Die Klägerin war als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Juristischen Fakultät einer
Universität tätig und habilitierte sich dort. Auf ihre Bewerbung gewährte ihr die Stiftung
ein Forschungsstipendium des Kollegs im Rahmen eines bestimmten Projekts in den
Jahren 2009 und 2010.
3 Die auf der Grundlage dieses Stipendiums geleisteten Zahlungen beliefen sich auf
2.700 EUR pro Monat, im Streitjahr 2009 mithin auf insgesamt 8.100 EUR. Zusätzlich
erhielt die Klägerin in 2009 eine Pauschale für Dienstreisen in Höhe von 400 EUR.
4 Das Kolleg stellte der Klägerin 2010 für das Streitjahr 2009 eine Bescheinigung über
den Erhalt dieser Leistungen sowie des Sachbezugs durch die kostenlose
Unterbringung in Höhe von 659,88 EUR aus. Die Klägerin erhielt von der Universität
für die Dauer des Stipendiums Sonderurlaub ohne Fortzahlung der Bezüge.
5 Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erfasste die Einnahmen
der Klägerin aus dem Stipendium mit Einkommensteuerbescheid für 2009 vom
27. Dezember 2010 als steuerpflichtige sonstige Einkünfte --nach Abzug unstreitiger
Werbungskosten von 2.031 EUR-- in Höhe von 7.028 EUR und setzte die
Einkommensteuer auf 6.049 EUR fest.
6 Der dagegen eingelegte Einspruch der Klägerin blieb erfolglos.
7 Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit seinem in Entscheidungen der
Finanzgerichte (EFG) 2013, 104 veröffentlichten Urteil vom 5. September
2012 6 K 39/12 als unbegründet ab. Insbesondere seien die Voraussetzungen des
§ 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes 2009 (EStG) nicht erfüllt.
Denn die im Rahmen des Stipendiums gewährten --das vorher bezogene Gehalt nicht
übersteigenden-- Leistungen seien über das hinausgegangen, was zur Erfüllung der
Forschungsaufgabe oder zum Bestreiten des Lebensunterhaltes der Klägerin
erforderlich gewesen sei.
8 Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 3 Nr. 44 Satz 3 EStG.
9 Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil der Vorinstanz sowie die
Einspruchsentscheidung des FA vom 8. Februar 2012 aufzuheben und die
Einkommensteuer der Klägerin für 2009 durch Änderung des
Einkommensteuerbescheids vom 27. Dezember 2010 unter Ansatz eines um
7.028 EUR geminderten zu versteuernden Einkommens (in Höhe von 23.955 EUR)
festzusetzen.
10 Das FA beantragt im Wesentlichen unter Bezugnahme auf die Begründung des
angefochtenen Urteils, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
11 Insbesondere habe das FG zu Recht die Steuerfreiheit des Stipendiums mit der
Begründung verneinen dürfen, es entspreche der Höhe nach nahezu den zuvor
erhaltenen Lohnzahlungen.
Entscheidungsgründe
12 II. Die Revision ist begründet. Nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) ist das angefochtene Urteil aufzuheben; der
angefochtene Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 2009 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung ist entsprechend dem Revisionsantrag zu ändern.
13 Zu Unrecht hat das FG der Regelung in § 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. a EStG
entnommen, dass ein steuerbefreites Stipendium im Sinne der Vorschrift schon dann
nicht mehr gegeben ist, wenn es nahezu der Höhe der vor Aufnahme der geförderten
Tätigkeit bezogenen Einnahmen aus wissenschaftlicher Tätigkeit entspricht.
14 1. Nach § 3 Nr. 44 EStG sind Stipendien steuerfrei, die unmittelbar aus öffentlichen
Mitteln oder von zwischenstaatlichen oder überstaatlichen Einrichtungen, denen die
Bundesrepublik Deutschland als Mitglied angehört, zur Förderung der Forschung oder
zur Förderung der wissenschaftlichen oder künstlerischen Ausbildung oder
Fortbildung gewährt werden. Das Gleiche gilt für Stipendien, die zu den in Satz 1
bezeichneten Zwecken von einer Einrichtung, die von einer Körperschaft des
öffentlichen Rechts errichtet ist oder verwaltet wird, oder von einer Körperschaft,
Personenvereinigung oder Vermögensmasse i.S. des § 5 Abs. 1 Nr. 9 des
Körperschaftsteuergesetzes gegeben werden.
15 Voraussetzung für die Steuerfreiheit ist, dass
• die Stipendien einen für die Erfüllung der Forschungsaufgabe oder für die
Bestreitung des Lebensunterhalts und die Deckung des Ausbildungsbedarfs
erforderlichen Betrag nicht übersteigen und nach den von dem Geber erlassenen
Richtlinien vergeben werden (§ 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. a EStG),
• der Empfänger im Zusammenhang mit dem Stipendium nicht zu einer bestimmten
wissenschaftlichen oder künstlerischen Gegenleistung oder zu einer bestimmten
Arbeitnehmertätigkeit verpflichtet ist (§ 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. b EStG).
16 Zu Recht gehen die Beteiligten auf der Grundlage der angefochtenen Entscheidung
davon aus, dass von den rechtlichen Voraussetzungen der Steuerfreiheit von
Stipendien nach § 3 Nr. 44 EStG in diesem Revisionsverfahren lediglich streitig sein
kann, ob das Stipendium nicht nach Maßgabe der Regelung in Satz 3 Buchst. a der
Vorschrift den "für die Bestreitung des Lebensunterhalts erforderlichen Betrag
übersteigt".
17 Dem Gesetz selbst sind weitere Merkmale für eine Begrenzung dieses Betrages
nicht zu entnehmen.
18 Immerhin ergibt sich aus dem Zusammenhang der Regelungen in Satz 3 Buchst. a
einerseits und Satz 1 der Vorschrift andererseits, dass die nach dem Gesetz
gebotene Bestimmung des Stipendiums "zur Förderung" der in Satz 1 benannten
Zwecke --anders als bei Fördermaßnahmen i.S. des § 3 Nr. 11 EStG (vgl. dazu Urteil
des Reichsfinanzhofs vom 19. Mai 1938 IV 97/38, RFHE 44, 49; Urteile des
Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 4. Mai 1972 IV 133/64, BFHE 105, 374, BStBl II 1972,
566; vom 27. April 2006 IV R 41/04, BFHE 214, 69, BStBl II 2006, 755)-- auch die zur
Bestreitung des Lebensunterhalts dienenden Zuwendungen umfasst (BFH-Urteil vom
20. März 2003 IV R 15/01, BFHE 202, 168, BStBl II 2004, 190; Bergkemper in
Herrmann/ Heuer/Raupach --HHR--, § 3 Nr. 44 EStG Rz 2).
19 In diesem Zusammenhang soll § 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. a EStG nach dem Willen
des Gesetzgebers lediglich sicherstellen, dass "Stipendien nur in der Höhe steuerfrei
bleiben, die zur Erreichung des mit dem Stipendium verfolgten Zwecks erforderlich
ist" (BTDrucks IV/2400, S. 62; BFH-Urteil in BFHE 202, 168, BStBl II 2004, 190).
20 Diese Erforderlichkeit "zur Erreichung des mit dem Stipendium verfolgten Zwecks"
ist nach dem BFH-Urteil vom 15. September 2010 X R 33/08 (BFHE 231, 108, BStBl
II 2011, 637) schon dann zu bejahen, wenn
• die Vergabe des Stipendiums nach den Richtlinien für die Vergabe der Stipendien
i.S. des § 3 Nr. 44 Satz 1 und 2 EStG erfolgt,
• die Höhe des Stipendiums nicht den für die Erfüllung der Forschungsaufgabe
sowie für die Bestreitung des Lebensunterhalts der Klägerin erforderlichen Betrag
überschreitet und
• die Klägerin sich nicht zu einer bestimmten Gegenleistung verpflichtet.
21 Die Voraussetzung der Begrenzung eines Stipendiums auf den für den
Lebensunterhalt erforderlichen Betrag hat der BFH für ein Stipendium in Höhe von
35.000 $ bejaht (vgl. BFH-Urteil in BFHE 231, 108, BStBl II 2011, 637). Ebenso hat
der IV. Senat des BFH mit Urteil in BFHE 202, 168, BStBl II 2004, 190 eine
hinreichende betragsmäßige Begrenzung des Stipendiums bei einer Zuwendung von
jährlich 22.900 DM bejaht.
22 2. Nach diesen Grundsätzen tragen die tatsächlichen Feststellungen des FG nicht
seine Auffassung, im Streitfall überschreite das Stipendium den Rahmen der
erforderlichen Aufwendungen für den Lebensunterhalt der Klägerin.
23 a) Im Ausgangspunkt ist das FG allerdings zu Recht davon ausgegangen, dass
mangels konkreter Regelungen in § 3 Nr. 44 EStG die erforderlichen Aufwendungen
für den Lebensunterhalt eines Stipendiaten nach der allgemeinen Verkehrsauffassung
zu bestimmen sind (vgl. HHR/Bergkemper, § 3 Nr. 44 EStG Rz 2; von Beckerath, in:
Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 3 Nr. 44 Rz B 44/79).
24 Dabei ist unter Lebensbedarf die Gesamtheit der Mittel zu verstehen, die benötigt
werden, um dem Einzelnen ein menschenwürdiges Leben in einem sozialen Umfeld
zu sichern. Er umfasst die für den laufenden Lebensunterhalt unentbehrlichen
Aufwendungen für Wohnung, Verpflegung, Kleidung, Ausbildung, Gesundheit,
angemessene Freizeitgestaltung und andere notwendige Ausgaben dieser Art (vgl.
Palandt/Brudermüller, Bürgerliches Gesetzbuch, 74. Aufl., § 1610 Rz 9).
25 b) Ebenso hat das FG zu Recht die Leistungen nach dem
Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) nicht als Höchstsätze für die
Anerkennung von Stipendien als steuerfreie Zuwendungen i.S. des § 3 Nr. 44 EStG
angesehen (ebenso FG Berlin, Urteil vom 12. Dezember 2000 5 K 5192/99, EFG
2001, 483, bestätigt durch BFH-Urteil in BFHE 202, 168, BStBl II 2004, 190).
26 c) Zu Unrecht hat das FG indessen die festgestellte Differenz zwischen dem zur
Deckung des Lebensbedarfs vom Kolleg monatlich gezahlten Betrag von 2.700 EUR
einerseits und dem im Streitjahr 2009 geltenden BAföG-Höchstsatz von 643 EUR für
(nicht bei ihren Eltern lebende) Studenten andererseits zum Anlass genommen, einen
über 2.000 EUR hinausgehenden Beitrag des Kollegs zu den Lebenshaltungskosten
als nicht mehr erforderlich i.S. des § 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. a EStG anzusehen.
27 Für diesen Ansatz lässt sich auch mit Blick auf den vom FG in Bezug genommenen
Grundfreibetrag als Ausdruck der Steuerfreiheit des Existenzminimums in Höhe von
7.834 EUR im Streitjahr keine hinreichende Rechtsgrundlage finden (a.A. wohl Ross
in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 3 Nr. 44 Rz 5; bei Zahlung in Höhe üblicher
Entlohnung im Berufsumfeld des Stipendiaten keine Steuerfreiheit: Verfügung der
Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 28. Juli 2011 S 2121 A-13-St 213,
Tz. 2.1., juris).
28 Auszugehen ist nämlich --mit dem FG-- von der Notwendigkeit, bei der Bestimmung
des "erforderlichen Lebensunterhalts" das Alter der Stipendiaten, ihre akademische
Vorbildung sowie deren nach der Verkehrsauffassung erforderliche typische
Lebenshaltungskosten in ihrer konkreten sozialen Situation zu berücksichtigen.
29 Auf dieser Grundlage kann das vor Inanspruchnahme des Stipendiums vereinnahmte
und im Bewilligungszeitraum des Stipendiums zeitweilig ausfallende Entgelt ein
gewichtiges Indiz dafür begründen, dass das Stipendium, welches betragsmäßig über
den Betrag der vorher bezogenen Einnahmen nicht wesentlich hinausgeht, lediglich
den "erforderlichen Lebensbedarf" der Stipendiaten i.S. des § 3 Nr. 44 Satz 3
Buchst. a EStG abdeckt.
30 Dies gilt zumindest dann, wenn die Bemessung des Unterhalts zur Förderung des
gemeinnützigen Stiftungszwecks (hier "Förderung herausragender Forschung durch
Einladung hervorragend qualifizierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler")
ohne Begründung eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses (§ 1 Satz 2, § 5a2 Satz 1
der Stiftungsbestimmungen) "als Beitrag zur angemessenen Lebensführung" --wie im
Streitfall-- ausgewiesen ist und im Wesentlichen auf den Ausgleich für den
zeitweiligen Ausfall der vor Bewilligung des Stipendiums bezogenen Einnahmen
ausgerichtet ist.
31 3. Die Sache ist spruchreif. Auf der Grundlage der für den Senat nach § 118 Abs. 2
FGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG steht fest, dass das von der
Klägerin im Streitjahr 2009 bezogene Stipendium als Beitrag für die angemessene
Lebensführung zur Förderung der Forschung durch eine gemeinnützige Stiftung
bewilligt wurde und der Höhe nach lediglich den Ausfall ihrer früheren
Gehaltszahlungen im Bewilligungszeitraum des Stipendiums ausgleichen sollte.
32 Die Zahlungen aufgrund des Stipendiums sind danach bei der Steuerfestsetzung nach
§ 3 Nr. 44 EStG außer Ansatz zu lassen. Die entsprechende Berechnung der Steuer
überträgt der Senat dem FA nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO.
33 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.