Urteil des BFH vom 28.01.2015

Abgeltungsteuer: Kein Abzug der tatsächlichen Werbungskosten bei Günstigerprüfung

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 28.1.2015, VIII R 13/13
Abgeltungsteuer: Kein Abzug der tatsächlichen Werbungskosten bei Günstigerprüfung
Leitsätze
Auch bei der sog. "Günstigerprüfung" nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG findet § 20 Abs. 9 EStG
Anwendung; ein Abzug der tatsächlich entstandenen Werbungskosten kommt daher nicht in
Betracht.
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 17.
Dezember 2012 9 K 1637/10 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist testamentarischer Alleinerbe der 1914
geborenen und im September 2010 verstorbenen A. Diese schloss zusammen mit ihrem
damals noch lebenden Ehemann als Treugeber am 5. März 1998 mit dem
Prozessbevollmächtigten einen Treuhandvertrag. Gegenstand des Vertrags war die
Verwaltung des den Treugebern gehörenden Einfamilienhauses, verschiedener einzeln
bezeichneter Konten und Sparbücher sowie der bestehenden Rentenansprüche. Die
Vergütung bestand in einem Pauschalhonorar von 14.000 DM zzgl. Umsatzsteuer je
Kalenderjahr sowie einem zusätzlichen Stundenhonorar für besondere Maßnahmen,
Aufwendungs- und Auslagenersatz. Für die Erstellung der jährlichen Steuererklärungen
wurde die Vergütung gemäß der Steuerberatergebührenverordnung vereinbart. Seit dem
Jahr 2000 lebte A in einem Pflegeheim.
2 Nachdem zwischenzeitlich ihr Ehemann verstorben war, erteilte A dem
Prozessbevollmächtigten im November 2004 eine General- und Vorsorgevollmacht, die
auch die Vertretung in Steuerangelegenheiten umfasste. Am 16. November 2004 wurde
der Treuhandvertrag geändert und ein höheres Pauschalhonorar sowie eine zusätzliche
Sondervergütung vereinbart. Das Einfamilienhaus wurde im Jahr 2006 veräußert.
3 In der im März 2010 beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--)
eingegangenen Einkommensteuererklärung 2009 erklärte A neben Renteneinkünften
Einnahmen aus Kapitalvermögen in Höhe von 30.238 EUR. Zu diesem Zeitpunkt war A
95 Jahre alt und litt an einer dementen Störung, weshalb sie in die Pflegestufe II eingestuft
wurde. Der Prozessbevollmächtigte verwaltete aufgrund des Treuhandvertrags ihr
Vermögen und betreute sie. In der Steuererklärung wies der Prozessbevollmächtigte
darauf hin, dass im Veranlagungszeitraum 2009 eine Zusammenballung von Einnahmen
aus Kapitalvermögen vorliege. Im Folgejahr 2010 sei lediglich mit Zinseinnahmen von
12.800 EUR zu rechnen, was zu einer Steuerschuld von 0 EUR führe. Im
Einkommensteuerbescheid 2009 vom 8. April 2010 berücksichtigte das FA die
Kapitaleinnahmen in der erklärten Höhe und zog lediglich den Sparer-Pauschbetrag von
801 EUR ab. Von der im Veranlagungszeitraum 2009 aufgrund des Treuhandvertrags von
A gezahlten Vergütung von insgesamt 10.647,64 EUR berücksichtigte das FA einen
Teilbetrag von 3.549,21 EUR als außergewöhnliche Belastung für die allgemeine
Betreuung durch den Prozessbevollmächtigten.
4 Mit der form- und fristgerecht erhobenen Sprungklage begehrte der Kläger (als
Rechtsnachfolger der A) den Abzug von Werbungskosten aus Kapitalvermögen in Höhe
von insgesamt 7.375 EUR (nicht berücksichtigte Treuhand-Vergütung 7.098 EUR und
Steuerberatungskosten für die Kapitaleinkünfte 277 EUR). Diese Aufwendungen seien
bei der Berechnung der Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht berücksichtigt worden. Dies
verstoße gegen das aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes abgeleitete Prinzip der
Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit und das objektive Nettoprinzip.
5 Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte
(EFG) 2013, 1041 veröffentlichten Urteil insoweit statt, als die geltend gemachten
Werbungskosten den Sparer-Pauschbetrag von 801 EUR gemäß § 20 Abs. 9 Satz 1 des
Einkommensteuergesetzes 2009 (EStG) überstiegen. Zur Begründung verwies es darauf,
§ 32d Abs. 6 Satz 1 EStG sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass die
tatsächlich entstandenen Werbungskosten jedenfalls dann abziehbar seien, wenn der
individuelle Steuersatz bereits unter Berücksichtigung nur des Sparer-Pauschbetrags
unter 25 % liege.
6 Mit der --vom FG zugelassenen-- Revision rügt das FA die Verletzung von § 32d Abs. 6
EStG. Der Wortlaut der Vorschrift sei mit der vom FG vorgenommenen
verfassungskonformen Auslegung nicht vereinbar; der Ausschluss des Abzugs der
tatsächlich entstandenen Werbungskosten durch § 20 Abs. 9 Satz 1 2. Halbsatz EStG sei
verfassungsrechtlich unbedenklich.
7 Der Beigetretene, das Bundesministerium der Finanzen (Beigetretener --BMF--), schließt
sich der Auffassung des FA an und macht ergänzend geltend, selbst nach den
Feststellungen des FG hätten 80 % der Steuerpflichtigen keine über den Sparer-
Pauschbetrag hinausgehenden Aufwendungen; nach einer wissenschaftlichen
Untersuchung des X-Instituts gelte das sogar für mehr als 95 % der Steuerpflichtigen. Die
vom Gesetzgeber vorgenommenen pauschalisierenden und typisierenden Regelungen
hielten den verfassungsrechtlichen Anforderungen damit stand.
8 Das FA beantragt,
das Urteil des FG Baden-Württemberg vom 17. Dezember 2012 9 K 1637/10 aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
9 Der Kläger beantragt,
die Revision des FA zurückzuweisen.
10 Das BMF hat keinen Antrag gestellt.
11 Auf mündliche Verhandlung haben die Beteiligten übereinstimmend verzichtet.
Entscheidungsgründe
12 II. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und
Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die
Auffassung des FG, § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG sei verfassungskonform dahingehend
auszulegen, dass die tatsächlich entstandenen Werbungskosten abzugsfähig seien,
wenn der individuelle Steuersatz bereits unter Berücksichtigung nur des Sparer-
Pauschbetrags unter 25 % liege, hält der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
Gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 32d Abs. 6 EStG bestehen keine
verfassungsrechtlichen Bedenken.
13 1. Nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG werden auf Antrag des Steuerpflichtigen anstelle der
Anwendung der Absätze 1, 3 und 4 der Norm die nach § 20 EStG ermittelten
Kapitaleinkünfte den Einkünften i.S. des § 2 EStG hinzugerechnet und der tariflichen
Einkommensteuer unterworfen, wenn dies zu einer niedrigeren Einkommensteuer
einschließlich Zuschlagsteuern führt (Günstigerprüfung). Für diesen Ausnahmefall kommt
dann nicht der für die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen grundsätzlich
anzuwendende Abgeltungsteuersatz von 25 % zur Anwendung (vgl. § 32d Abs. 1 Satz 1
EStG), sondern der progressive Regelsteuersatz. Die Ermittlung der Kapitaleinkünfte ist
indes auch bei der Günstigerprüfung --und damit auch im Streitfall-- nach § 20 EStG
vorzunehmen (vgl. § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG). Damit findet auch im Falle der
Günstigerprüfung die einschränkende Regelung zum Verbot des Abzugs der tatsächlich
entstandenen Werbungskosten (vgl. § 20 Abs. 9 Satz 1 2. Halbsatz EStG) Anwendung.
14 2. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 32d Abs. 6 EStG hat der Senat keine
Bedenken. Die Vorschrift beinhaltet eine begünstigende Sonderregelung für bestimmte
Steuerpflichtige, bei denen ausnahmsweise von der Anwendung des proportionalen
Sondertarifs für die Einkünfte aus Kapitalvermögen von 25 % abgesehen wird und
stattdessen der Regelsteuersatz Anwendung findet, sofern das zu einer niedrigeren
Einkommensteuer führt. Da auch für diejenigen Steuerpflichtigen, die dem
Abgeltungsteuersatz unterliegen, das in § 20 Abs. 9 EStG verankerte Abzugsverbot für die
tatsächlich entstandenen Werbungskosten gilt, werden die Steuerpflichtigen, für die nach
§ 32d Abs. 6 EStG aufgrund der Günstigerprüfung der Regelsteuersatz zum Tragen
kommt, gegenüber den vom Abgeltungsteuersatz Betroffenen insoweit nicht schlechter
gestellt.
15 3. Der Senat hat auch keine Bedenken, dass das Werbungskostenabzugsverbot gemäß
§ 20 Abs. 9 EStG verfassungsrechtlichen Anforderungen standhält. Zur Vermeidung von
Wiederholungen nimmt der Senat insoweit Bezug auf die Gründe seiner Entscheidung
vom 1. Juli 2014 VIII R 53/12 (BFHE 246, 332, BStBl II 2014, 975).
16 4. Die Regelung stellt sich auch im Vergleich zu Steuerpflichtigen, die kraft Gesetzes oder
aufgrund eigenen Antrags gemäß § 32d Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 4 EStG mit den dort
geregelten Einkünften aus Kapitalvermögen aus der Abgeltungsteuer ausgeschlossen
sind und gemäß § 32d Abs. 2 Satz 2 EStG ihre Einkünfte aus Kapitalvermögen unter
Abzug der tatsächlich entstandenen Werbungskosten ermitteln können, als
verfassungsgemäß dar. Im Fall des § 32d Abs. 6 EStG werden die Einkünfte aus
Kapitalvermögen ohne den Abzug der tatsächlichen Werbungskosten ermittelt, gehen mit
dieser pauschalierten Bemessungsgrundlage in den Gesamtbetrag der Einkünfte ein (vgl.
§ 2 Abs. 5b EStG) und unterliegen der tariflichen Einkommensteuer gemäß § 2 Abs. 6
Satz 1 EStG. Steuerpflichtige werden im Rahmen der Günstigerprüfung somit im Hinblick
auf den Umfang abziehbarer Werbungskosten im Ergebnis schlechter gestellt als die
Bezieher tariflich besteuerter Einkünfte aus Kapitalvermögen, wenn ihnen höhere
tatsächliche Werbungskosten als der anzuwendende Sparer-Pauschbetrag entstanden
sind.
17 Diese Differenzierung ist sachlich gerechtfertigt. Denn mit den vorstehend genannten
Ausnahmen vom Abgeltungsteuersatz will der Gesetzgeber "Mitnahmeeffekte" bzw. eine
Überbesteuerung vermeiden (vgl. dazu auch die Senatsentscheidung vom 28. Januar
2015 VIII R 8/14, zur Veröffentlichung vorgesehen, m.w.N.). Die Günstigerprüfung nach
§ 32d Abs. 6 EStG hat indes weniger den Charakter einer nach der Intention des
Gesetzes zwingenden sachlichen Ausnahme von der Anwendung des
Abgeltungsteuersatzes, sondern ist eher als Billigkeitsmaßnahme zu verstehen, mit der
Steuerpflichtige, deren Steuersatz noch niedriger liegt als 25 %, eine weitere
Begünstigung erfahren. Diese soll aber nicht dazu führen, dass die derart Begünstigten
vollumfänglich aus dem System der Abgeltungsteuer ausscheiden.
18 Diese Ungleichbehandlung innerhalb des Systems der Besteuerung der Einkünfte aus
Kapitalvermögen ist aber auch durch den Vereinfachungs- und Pauschalierungszweck
der Regelung in § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG gerechtfertigt, der für den typischen Fall des
Kleinanlegers über den Abzug des Sparerpauschbetrags auch im Fall der
Günstigerprüfung zu einer realitätsgerechten Berücksichtigung der Aufwendungen führt
(Senatsentscheidung in BFHE 246, 332, BStBl II 2014, 975).
19 Im hier zu entscheidenden Fall beruhten die hohen Aufwendungen der verstorbenen A im
Streitjahr auf einem mit dem Prozessbevollmächtigten geschlossenen Treuhandvertrag,
welcher diesem trotz nicht sonderlich hoher Kapitaleinnahmen eine nicht unbeträchtliche
Treuhandvergütung zugestand, welche mit vertraglicher Ergänzung aus dem Jahr 2004
sogar noch einmal deutlich erhöht wurde. Allein daraus wird erkennbar, dass es sich im
Fall der verstorbenen A um eine atypische Konstellation handelte, die der Gesetzgeber
bei der von ihm vorgenommenen verfassungsrechtlich zulässigen Typisierung weder
berücksichtigen musste noch konnte. Die Verfassungsmäßigkeit der typisierenden
Abzugsbeschränkung des § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG auch in Fällen der Günstigerprüfung
wird somit durch den Streitfall nicht in Frage gestellt.
20 Dies gilt auch deshalb, weil der Klägerin die Möglichkeit einer Billigkeitsmaßnahme
gemäß §§ 163, 227 der Abgabenordnung (AO) verbleibt. Die Möglichkeit einer
Billigkeitsmaßnahme flankiert in besonderen Einzelfällen die Typisierungsbefugnis des
Gesetzgebers und gestattet ihm, eine typisierende Regelung zu treffen, bei der
Unsicherheiten über Zahl und Intensität der von der typisierenden Regelung nachteilig
betroffenen Fälle mit zumutbarem Aufwand nicht beseitigt werden können (Urteile des
Bundesfinanzhofs vom 20. September 2012 IV R 36/10, BFHE 238, 429, BStBl II 2013,
498, Rz 57; vom 24. Juni 2014 VIII R 35/10, BFHE 245, 565, Rz 28). Der Senat hat in
diesem Verfahren nicht zu entscheiden, ob es sich insoweit um einen atypischen
Extremfall handelt, für den eine Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 AO in Betracht zu
ziehen ist, verweist jedoch darauf, dass es keinen Anspruch auf "Meistbegünstigung"
selbst gewählter Gestaltungen gibt (Blümich/Werth, § 32d EStG Rz 163).
21 5. Danach besteht weder die Notwendigkeit noch --entgegen der Auffassung des FG-- die
Möglichkeit, § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG verfassungskonform derart auszulegen, dass die
tatsächlich entstandenen Werbungskosten jedenfalls dann abzugsfähig sind, wenn der
individuelle Steuersatz bereits unter Berücksichtigung nur des Sparer-Pauschbetrags
unter 25 % liegt. Eine solche "verfassungskonforme" Auslegung widerspricht sowohl dem
eindeutigen Wortlaut des Gesetzes als auch den mit Einführung der Abgeltungsteuer vom
Gesetzgeber bezweckten Zielen. Ist das FG der Auffassung, ein absolutes und
unumkehrbares Abzugsverbot von Werbungskosten sei in derartigen Konstellationen
verfassungswidrig, hätte es die Sache dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur
Prüfung vorlegen müssen.
22 a) Nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes hat die Ermittlung der Einkünfte aus
Kapitalvermögen auch bei der Günstigerprüfung gemäß § 20 EStG zu erfolgen. Das folgt
bereits daraus, dass es in § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG lautet, dass "die nach § 20 ermittelten
Kapitaleinkünfte" den Einkünften i.S. des § 2 EStG hinzugerechnet und der tariflichen
Einkommensteuer unterworfen werden, wenn dies zu einer niedrigeren Einkommensteuer
führt. Die Nichtanwendung des § 20 Abs. 9 EStG bei der Ermittlung der Kapitaleinkünfte
im Rahmen der Günstigerprüfung stellt daher einen Verstoß contra legem dar.
23 b) Das FG begründet seine verfassungskonforme Auslegung des § 32d Abs. 6 Satz 1
EStG letztlich damit, dass es das Werbungskostenabzugsverbot gemäß § 20 Abs. 9 EStG
als verfassungswidrig erachtet; die Regelung stelle einen Verstoß gegen das objektive
Nettoprinzip dar, verletze den allgemeinen Gleichheitssatz, verletze das Prinzip der
Folgerichtigkeit und sei auch durch außerfiskalische Förderungs- und Lenkungszwecke
nicht gerechtfertigt. Eine verfassungskonforme Auslegung könne die
Verfassungswidrigkeit vermeiden.
24 aa) Der revisionsrechtlichen Prüfung halten diese Überlegungen nicht stand. Nach
ständiger Rechtsprechung des BFH ist maßgebend für die Interpretation eines Gesetzes
der in ihm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers (vgl. z.B.
BVerfG-Beschluss vom 9. November 1988 1 BvR 243/86, BVerfGE 79, 106, unter B.II.1.
der Gründe, m.w.N.; BFH-Urteile vom 1. Dezember 1998 VII R 21/97, BFHE 187, 177,
unter II.2.a der Gründe; vom 21. Oktober 2010 IV R 23/08, BFHE 231, 544, BStBl II 2011,
277). Der Feststellung des zum Ausdruck gekommenen objektivierten Willens des
Gesetzgebers dienen die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatikalische
Auslegung), aus dem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck
(teleologische Auslegung) sowie aus den Gesetzesmaterialien und der
Entstehungsgeschichte (historische Auslegung); zur Erfassung des Inhalts einer Norm
darf sich der Richter dieser verschiedenen Auslegungsmethoden gleichzeitig und
nebeneinander bedienen (z.B. BFH-Urteil in BFHE 187, 177, m.w.N.). Gegen seinen
Wortlaut ist die Auslegung eines Gesetzes allerdings nur ausnahmsweise möglich, wenn
nämlich die wortgetreue Auslegung zu einem sinnwidrigen Ergebnis führt, das vom
Gesetzgeber nicht beabsichtigt sein kann (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 1. August 1974
IV R 120/70, BFHE 113, 357, BStBl II 1975, 12; vom 7. April 1992 VIII R 79/88, BFHE 168,
111, BStBl II 1992, 786; vom 17. Februar 1994 VIII R 30/92, BFHE 175, 226, BStBl II
1994, 938; vom 17. Januar 1995 IX R 37/91, BFHE 177, 58, BStBl II 1995, 410; vom
12. August 1997 VII R 107/96, BFHE 184, 198, BStBl II 1998, 131; vom 17. Mai 2006
X R 43/03, BFHE 213, 494, BStBl II 2006, 868; vom 17. Juni 2010 VI R 50/09, BFHE 230,
150, BStBl II 2011, 43; Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung,
§ 4 AO Rz 380) oder wenn sonst anerkannte Auslegungsmethoden dies verlangen (z.B.
BFH-Beschluss vom 4. Februar 1999 VII R 112/97, BFHE 188, 5, BStBl II 1999, 430).
25 bb) Im Streitfall führt eine wortgetreue Auslegung der Vorschrift indes nicht zu einem
sinnwidrigen Ergebnis, das vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt sein kann, vielmehr
entspricht diese gerade den vom Gesetzgeber beabsichtigten Zielen. Wie vorstehend
bereits ausgeführt, hat der Senat keine Zweifel, dass § 20 Abs. 9 EStG
verfassungsrechtlichen Anforderungen standhält (vgl. dazu II.3.). Die Vorschrift ist
entgegen der Auffassung des FG auch im Rahmen der Günstigerprüfung anzuwenden.
Das gebietet bereits der Gesetzeswortlaut des § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG, der von "nach
§ 20 EStG ermittelten Kapitaleinkünften" spricht.
26 cc) Ebenso wenig streiten die historische und die teleologische Auslegung der Vorschrift
für die Auffassung des FG. Wie sich bereits aus dem Gesetzentwurf zum
Unternehmensteuerreformgesetz 2008 (BTDrucks 16/4841, S. 35) ergibt, sollte mit der
Abgeltungsteuer nicht nur eine erhebliche steuerliche Entlastung, sondern auch eine
deutliche Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens von Kapitaleinkünften erreicht
werden. Dem entspricht auch die Gesetzesbegründung zu § 20 Abs. 9 EStG (vgl.
BTDrucks 16/4841, S. 57), in der es lautet: "Der Ansatz der tatsächlichen
Werbungskosten ist grundsätzlich ausgeschlossen. Dabei wird sowohl eine Typisierung
hinsichtlich der Höhe der Werbungskosten in den unteren Einkommensgruppen
vorgenommen, als auch berücksichtigt, dass mit einem relativ niedrigen
Proportionalsteuersatz von 25 Prozent die Werbungskosten in den oberen
Einkommensgruppen mit abgegolten werden." Bereits das spricht dafür, die mit der
Abgeltungsteuer bezweckte Vereinfachung und damit auch die Anwendung des § 20
Abs. 9 EStG für die Günstigerprüfung des § 32d Abs. 6 EStG nicht auszuschließen.
27 Auch die Formulierung "grundsätzlich ausgeschlossen" in der Gesetzesbegründung
spricht nicht gegen die Anwendung des § 20 Abs. 9 EStG. Das FG gewichtet nicht
ausreichend, dass das Gesetz in § 32d Abs. 2 EStG noch weitere Ausnahmen von der
Anwendung des gesonderten Steuertarifs für Einkünfte aus Kapitalvermögen vorsieht,
nämlich unter bestimmten Voraussetzungen bei Kapitalerträgen aufgrund von Verträgen
zwischen einander nahestehenden Personen sowie bei bestimmten Arten der
Gesellschafterfremdfinanzierung (s. oben unter II.4.). Hier ordnet der Gesetzgeber konkret
an, dass der besondere proportionale Sondertarif für die Einkünfte aus Kapitalvermögen
von 25 % keine Anwendung findet. Eine ähnliche Regelung findet sich in § 32d Abs. 2
Nr. 3 EStG für Steuerpflichtige, die sog. unternehmerische Beteiligungen halten. Ihnen
wird unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit eröffnet, anstelle der
Abgeltungsteuer zur Regelbesteuerung zu optieren. In beiden Fällen ordnet das Gesetz
indes ausdrücklich an, dass § 20 Abs. 9 EStG --ebenso wie Abs. 6 der Vorschrift-- keine
Anwendung findet (vgl. § 32d Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 und Abs. 2 Nr. 3 Satz 2 EStG, sowie
BTDrucks 16/4841, S. 61). Bei dem hier einschlägigen Abs. 6 Satz 1 EStG der Norm
findet sich ein derartiger Hinweis indes nicht. Wenn ein entsprechender Hinweis aber
weder dem Gesetzeswortlaut noch der Gesetzesbegründung zu entnehmen ist, deutet das
angesichts des Wortlauts der Regelung "die nach § 20 ermittelten Kapitaleinkünfte"
darauf hin, dass der Gesetzgeber im Rahmen der Günstigerprüfung gerade nicht von der
Anwendung des § 20 Abs. 9 EStG absehen wollte. Das gilt umso mehr, als die
Gewährung des Sparer-Pauschbetrags und der Ausschluss des Abzugs der tatsächlich
entstandenen Werbungskosten prägender Bestandteil der mit der Abgeltungsteuer
bezweckten Vereinfachung der Besteuerung sind.
28 dd) Die Überlegungen des FG zur "Belastungsgleichheit" sind ebenfalls nicht geeignet,
zu einem anderen steuerlichen Ergebnis zu führen. Hätten Steuerpflichtige mit einem
persönlichen Steuersatz von knapp unter 25 % die Möglichkeit, den Sparer-Pauschbetrag
übersteigende Werbungskosten geltend zu machen, Steuerpflichtige mit einem
persönlichen Steuersatz von knapp über 25 % aber nicht, würde das die
verfassungsrechtlich gebotene Gleichheit der Belastung und damit die --jedenfalls im
Wesentlichen-- gleiche Besteuerung nach der persönlichen Leistungsfähigkeit in Frage
stellen, und zwar insbesondere im Bereich der unteren Einkommensgruppen. Denn je
nachdem, wie hoch der persönliche Steuersatz des Steuerpflichtigen und die
tatsächlichen Werbungskosten sind, könnte die steuerliche Belastung der
Kapitaleinkünfte gravierende Unterschiede aufweisen.
29 ee) Die Behauptung des FG, auch bei Kleinanlegern sei die Fremdfinanzierung von
Kapitalanlagen nicht unüblich, auch in unteren Einkommensgruppen könnten höhere
Werbungskosten als 801 EUR vorkommen und diese Gruppe dürfe der Gesetzgeber nicht
außer Acht lassen, vermag den Senat nicht zu überzeugen. Durch belastbare tatsächliche
Feststellungen ist diese Behauptung nicht belegt. Dass Steuerpflichtige aus unteren
Einkommensgruppen, die Erträge aus von ihnen fremdfinanzierten Kapitalanlagen
erzielen oder andere Aufwendungen oberhalb des Sparerpauschbetrags zu tragen haben,
eine zahlenmäßig in irgendeiner Form bedeutsame Gruppe darstellen, ist nicht erkennbar.
Dafür spricht auch die vom BMF eingereichte und von den Beteiligten nicht in Frage
gestellte Auswertung des X-Instituts, nach der in den Jahren 2002 bis 2008 in ca. 95 %
aller Fälle die tatsächlichen Werbungskosten der Steuerpflichtigen nicht höher waren als
der Sparer-Pauschbetrag. Und bei den Steuerpflichtigen, welche in den Genuss der
Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG gekommen sind, haben bei den unteren
Einkommensgruppen (bis 30.000 EUR bei Zusammenveranlagung, bis 15.000 EUR bei
Einzelveranlagung) im Jahre 2008 99 % bzw. 98 % der Steuerpflichtigen mit Einkünften
aus Kapitalvermögen keine den Sparer-Pauschbetrag übersteigenden Werbungskosten
geltend gemacht. Insgesamt bestätigen diese Zahlen, dass der Gesetzgeber mit der
Gewährung des Sparer-Pauschbetrags in Höhe von 801 EUR eine verfassungsrechtlich
grundsätzlich anzuerkennende Typisierung der Werbungskosten bei den Beziehern
niedriger Kapitaleinkünfte sowie mit der Senkung des Steuertarifs von bisher bis zu 45 %
auf nunmehr 25 % zugleich eine verfassungsrechtlich anzuerkennende Typisierung der
Werbungskosten bei den Beziehern höherer Kapitaleinkünfte vorgenommen hat (vgl.
dazu Moritz/Strohm in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 20 n.F. Rz 44 f., m.w.N.; ebenso
Schmidt/Weber-Grellet, 33. Aufl., § 20 Rz 206; Senatsurteil in BFHE 246, 332, BStBl II
2014, 975).
30 Unabhängig davon lässt die Vorinstanz außer Acht, dass bei Steuerpflichtigen aus
unteren Einkommensgruppen mit Einnahmen aus Kapitalvermögen und hohen daraus
resultierenden Werbungskosten die Aufwendungen i.d.R. auf gezielten Gestaltungen
beruhen, die bewusst in Kauf genommen worden sind. Das gilt sowohl für den von der
Vorinstanz als verfassungsrechtlich problematisch erachteten Bereich der
"Fremdfinanzierungen bei Kleinanlegern" als auch für den Streitfall. So sind z.B.
Wertpapierkredite gerade für Kleinanleger schon deshalb schwierig zu erhalten, weil
diese i.d.R. trotz Verpfändung der kreditfinanzierten Kapitalanlagen eine
Nachschusspflicht des Kreditnehmers vorsehen, wenn die Kapitalanlage bestimmte
Wertgrenzen unterschreitet. Ob Kleinanleger nach den Vorstellungen der
kreditgewährenden Bank überhaupt imstande sind, dieser Nachschusspflicht stets
nachzukommen, scheint zweifelhaft.
31 6. Da die Vorentscheidung auf einer abweichenden Rechtsauffassung beruht, ist sie
aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Klage ist mit der sich ergebenden Kostenfolge
abzuweisen (§ 135 Abs. 1 FGO).