Urteil des BFH vom 18.08.2015

Trotz nicht fristgerechter Umsetzung von Unionsrecht keine Hemmung nationaler Verjährungsfristen bei eigener Säumnis - Bindung an die Würdigung des FG

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 18.8.2015, VII R 5/14
Trotz nicht fristgerechter Umsetzung von Unionsrecht keine Hemmung nationaler
Verjährungsfristen bei eigener Säumnis - Bindung an die Würdigung des FG
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Finanzgerichts Bremen vom 18. Dezember
2013 4 K 52/13 (2) wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt Kraftwerke zur
Stromerzeugung, in denen sie versteuertes Erdgas und Heizöl einsetzt. Im Namen
und Auftrag der Klägerin beantragte ihre Muttergesellschaft mit Schreiben vom
30. Dezember 2005 eine Entlastung von der Mineralölsteuer. Der Antrag enthielt
folgende Formulierung: "...beantragen wir unter Hinweis auf die mögliche EU-
Rechtswidrigkeit der gegenwärtigen Regelung des Mineralölsteuergesetzes zur
Besteuerung der Eingangsbrennstoffe Öl und Gas in Bezug auf Artikel 14 der
Europäischen Energiesteuer-Richtlinie (Richtlinie 2003/96/EG) die vollständige
Erstattung der Mineralölsteuer aus dem Jahr 2004 und für die möglichen Folgejahre.
2 Zur weiteren Begründung fügen wir in Kopie ein Schreiben der Arbeitsgemeinschaft
für Wärme und Heizkraftwirtschaft AGFW e.V. vom 16.12.2005 bei.
3 Dieser Antrag erfolgt zunächst zur Vermeidung des Eintritts der Verjährung für die
Erstattungsansprüche aus dem Jahr 2004."
4 In dem beigefügten Schreiben der AGFW wird darauf hingewiesen, dass noch unklar
sei, ob die gegenwärtige Regelung des Mineralölsteuergesetzes (MinöStG 1993)
unionsrechtskonform sei. Die zur Entscheidung berufenen Gerichte könnten aber nur
dann über diese Frage entscheiden, wenn die Erstattungsansprüche noch nicht
verjährt seien. Die Verjährung der Ansprüche aus dem Jahr 2004 trete erstmalig am
31. Dezember 2005 ein, weshalb derjenige, der sich vor einem Rechtsverlust zu
schützen beabsichtige, bis zum 31. Dezember 2005 die vollständige Erstattung der
Mineralölsteuer unter Hinweis auf einen Verstoß gegen die Energiesteuer-Richtlinie
beantragen müsse.
5 Mit Schreiben vom 31. Juli 2008 beantragte die Klägerin unter Hinweis auf Art. 14 der
Richtlinie 2003/96/EG (EnergieStRL) des Rates vom 27. Oktober 2003 zur
Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von
Energieerzeugnissen und elektrischem Strom (Amtsblatt der Europäischen Union
Nr. L 283/51) die vollständige Erstattung der gezahlten Mineralölsteuer aus dem Jahr
2006 für den Einsatz von Erdgas und Leichtöl, wobei sie angab, die
Gesamtrückerstattung betrage X EUR. Die beantragte Erstattung lehnte der Beklagte
und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt --HZA--) mit der Begründung ab, der Antrag
sei nicht fristgerecht bis zum 31. Dezember 2007 eingereicht worden.
6 Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) urteilte, das HZA
habe die erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist beantragte Erstattung zu Recht
abgelehnt. Das Unionsrecht stehe der Anwendung des § 169 Abs. 2 Nr. 1 der
Abgabenordnung (AO) nicht entgegen. Da der Klägerin die Geltendmachung ihres
Anspruchs weder unzumutbar erschwert noch versperrt worden sei, könnten die
Grundsätze des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Emmott
vom 25. Juli 1991 C-208/90 (EU:C:1991:333) keine Anwendung finden. In Kenntnis
der Rechtsunsicherheit und aufgrund der Hinweise durch einen Fachverband und
verlässlichen Handlungsempfehlungen wäre es der Klägerin zumutbar gewesen,
vorsorglich für die einzelnen Kalenderjahre fristgerecht entsprechende
Erstattungsanträge zu stellen. Besondere Umstände, wie sie der EuGH-Entscheidung
Emmott (EU:C:1991:333) zugrunde gelegen hätten, seien im Streitfall nicht gegeben,
so dass die streitigen Verjährungsfristen der AO trotz der unterbliebenen Umsetzung
der EnergieStRL und unabhängig von einer Kenntnis der Klägerin anwendbar seien.
Die Anwendbarkeit der Regelungen der Festsetzungsverjährung der §§ 169 ff. AO sei
nicht zu vergleichen mit der Anwendung von Fristen zur Erhebung einer Klage vor
den nationalen Gerichten. Die Unterschiede seien derart erheblich, dass für die
Anwendung der Emmott'schen Fristenhemmung auf die Festsetzungsverjährung kein
Raum sei. Vielmehr fänden die Regelungen der §§ 169 ff. AO auf den Streitfall
Anwendung, der nicht mit den Fällen verglichen werden könne, in denen sich ein
Mitgliedstaat darauf berufe, bei ordnungsgemäßer Umsetzung der betreffenden
Richtlinie hätte er den von dieser eingeräumten Gestaltungsspielraum ebenso in einer
anspruchsverhindernden Weise umsetzen können, oder in denen ein Mitgliedstaat mit
der Richtlinie nicht zu vereinbarende Rechtsvorschriften erlassen habe.
7 Entgegen der Auffassung der Klägerin habe sie mit Schreiben vom 30. Dezember
2005 einen Entlastungsantrag lediglich für das Jahr 2004 gestellt. Dies ergebe sich
aus dem klarstellenden Zusatz, dass der Antrag zur Vermeidung des
Verjährungseintritts für die Erstattungsansprüche aus dem Jahr 2004 gelte, und aus
den Begleitumständen. Die Auslegung des Antrags werde zudem dadurch gestützt,
dass die Formulierung "für die möglichen Folgejahre" zu unbestimmt sei und daher
lediglich als Ankündigung verstanden werden könne. Darüber hinaus habe es nicht
der Interessenlage der Klägerin entsprochen, in Unkenntnis der genauen Höhe der
Mineralölsteuer bereits für die Folgejahre einen Entlastungsantrag zu stellen, zumal in
den folgenden Jahren --ohne unangemessenen Aufwand-- ein formloser Antrag
genügt hätte. Schließlich könne der Inhalt des Schreibens der Klägerin vom
30. Dezember 2005 nicht als Antrag nach § 171 Abs. 3 AO gedeutet werden, so dass
eine Hemmung der Festsetzungsfrist nicht in Betracht komme.
8 Mit ihrer Revision macht die Klägerin geltend, das FG habe die besonderen
Umstände verkannt, die im Streitfall nach der Rechtsprechung des EuGH zwingend
zur Hemmung des Ablaufs der Festsetzungsfrist führten. Der vorliegende Fall, bei
dem es ebenfalls um die nicht ordnungsgemäße Umsetzung einer Richtlinie gehe, sei
mit dem Sachverhalt vergleichbar, über den der EuGH in der Rechtssache Emmott
entschieden habe. Die Besonderheiten des Streitfalls bestünden darin, dass eine hohe
Rechtsunsicherheit in Bezug auf die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 14
EnergieStRL bestanden habe, der eine Steuerbefreiung und damit ein
Antragsverfahren vor der Verwendung der Energieerzeugnisse nahelege, dass bei
einem Antragsverfahren keine Rechtsmittelbelehrung erfolge, und dass das HZA, das
sie frühzeitig kontaktiert habe, die stromerzeugenden Anlagen der Klägerin und den
regelmäßigen Einsatz von Energieerzeugnissen gekannt habe. Bereits in der
fehlenden Richtlinienumsetzung liege ein besonderer Umstand, der eine Hemmung
innerstaatlicher Fristen rechtfertige. Dem EuGH-Urteil Peterbroeck vom
14. Dezember 1995 C-312/93 (EU:C:1995:437) sei zu entnehmen, dass nicht nur eine
nicht ordnungsgemäße Richtlinienumsetzung, sondern auch verfahrensrechtliche
Besonderheiten und die Grundsätze der Rechtssicherheit zum Ausschluss einer
innerstaatlichen Verfahrensvorschrift führen könnten, selbst wenn die Möglichkeit
bestanden haben sollte, innerstaatliche Fristen einzuhalten. Von den Fällen, in denen
der EuGH eine Hemmung nationaler Verjährungsvorschriften verneint habe (EuGH-
Urteile Fantask u.a. vom 2. Dezember 1997 C-188/95, EU:C:1997:580, und Iaia u.a.
vom 19. Mai 2011 C-452/09, EU:C:2011:323), unterscheide sich der Streitfall
dadurch, dass sie bereits im Zeitpunkt höchster Rechtsunsicherheit und noch vor der
Richtlinienumsetzung tätig geworden sei. Im Übrigen habe das FG Hamburg in
seinem Urteil vom 9. Juni 2009 4 K 268/08 (Steuern der Energiewirtschaft --StE-- Juli
2010, 20) die Auffassung vertreten, § 169 Abs. 2 Nr. 1 AO könne im Fall einer nicht
ordnungsgemäßen Umsetzung einer Richtlinienbestimmung (in dem entschiedenen
Streitfall Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EnergieStRL) keine Anwendung finden.
9 Neben der Fristenhemmung nach europäischem Recht begründe auch § 171 Abs. 3
AO eine Fristenhemmung, denn ihr Antrag habe nicht nur das Jahr 2004, sondern
auch die Folgejahre umfasst. Das HZA habe weiterführende Ermittlungen zu ihren
Gunsten unterlassen, obwohl ihm die stromerzeugenden Anlagen bekannt und der
Befreiungszeitraum zumindest ermittelbar gewesen seien. Nach der Rechtsprechung
des Bundesfinanzhofs (BFH) komme es bei der Auslegung von Willenserklärungen
neben dem Wortlaut insbesondere auf den Zusammenhang, die Begleitumstände und
die Interessenlage des Erklärenden an. Für das HZA sei erkennbar gewesen, dass
der Befreiungszeitraum den Zeitraum für die Vergangenheit und für die Folgejahre bis
zur ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung erfasst habe. Entgegen der Ansicht des
FG habe es auch ihrer Interessenlage entsprochen, bereits am 30. Dezember 2005
und vor dem Verbrauch der Energieerzeugnisse einen Antrag für das Jahr 2006 zu
stellen. Insoweit hätte das FG nicht von einer bloßen Ankündigung ausgehen dürfen.
10 Die Klägerin stellt den Antrag, das Urteil des FG sowie die angefochtenen
Verwaltungsentscheidungen aufzuheben und das HZA zu verpflichten, für den
Zeitraum Januar bis Juli 2006 insgesamt X EUR Mineralölsteuer zu vergüten.
11 Das HZA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
12 Das HZA schließt sich im Wesentlichen den Ausführungen des FG an. Mit der von ihr
gewählten Formulierung habe die Klägerin eine Geltendmachung von
Entlastungsansprüchen für die Zukunft ausgeschlossen. Eine Antragstellung habe
das HZA weder erschwert noch versperrt. Die gesetzlich festgelegte
Festsetzungsfrist sei der Klägerin bekannt gewesen. Rechtsunsicherheit habe nicht in
Bezug auf die Festsetzungsfrist, sondern lediglich im Hinblick auf die unmittelbare
Anwendung des Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EnergieStRL bestanden. Schließlich sei es
Sache des Antragstellers, sich über Antragsmöglichkeiten zu unterrichten.
Behördliche Belehrungen brauche die Finanzbehörde nicht zu geben.
Entscheidungsgründe
13 II. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der
Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung
nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten
Gelegenheit zur Stellungnahme. Entgegen der Auffassung der Klägerin braucht die
Anhörungsmitteilung die Gründe für die beabsichtigte Senatsentscheidung nicht zu
benennen (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 126a Rz 5, m.w.N.).
14 Das FG hat zu Recht entschieden, dass hinsichtlich des von der Klägerin geltend
gemachten Mineralölsteuererstattungsanspruchs für den Zeitraum Januar bis Juli
2006 Festsetzungsverjährung eingetreten und infolgedessen der Anspruch nach § 47
AO erloschen ist. Aufgrund der nicht fristgerechten Umsetzung der EnergieStRL ist
der Ablauf der in § 169 Abs. 2 Nr. 1 AO festgelegten Festsetzungsfrist nicht gehemmt
worden.
15 1. Der Anspruch der Klägerin ist infolge eingetretener Festsetzungsverjährung
erloschen (§ 47 AO). Denn nach den Feststellungen des FG hat die Klägerin für den
Zeitraum Januar bis Juli 2006 einen Erstattungsantrag erst mit Schreiben vom 31. Juli
2008 gestellt. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch die in § 169 Abs. 2 Nr. 1 AO
festgelegte Festsetzungsfrist, die für Verbrauchsteuern und
Verbrauchsteuervergütungen lediglich ein Jahr beträgt, bereits abgelaufen. Der
Fristablauf wurde durch den Antrag vom 30. Dezember 2005 nicht gehemmt.
16 a) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist davon auszugehen, dass sie mit
Schreiben vom 30. Dezember 2005 lediglich für das Jahr 2004 und nicht auch für die
Folgejahre eine Mineralölsteuerentlastung beantragt hat. An die diesbezügliche
Würdigung des FG ist der erkennende Senat gebunden. Nach ständiger
Rechtsprechung des BFH gehört die Auslegung von Willenserklärungen, d.h. die
Ermittlung dessen, was die Vertragsparteien erklärt und was sie gewollt haben,
grundsätzlich zu den "tatsächlichen Feststellungen" i.S. des § 118 Abs. 2 FGO, deren
Vornahme dem FG obliegt (BFH-Urteile vom 24. April 2013 XI R 7/11, BFHE 241,
459, BStBl II 2013, 648; vom 14. Januar 2004 X R 37/02, BFHE 205, 96, BStBl II
2004, 493, und vom 13. Februar 1997 IV R 15/96, BFHE 183, 39, BStBl II 1997, 535).
Verstößt die Sachverhaltswürdigung des FG nicht gegen Denkgesetze oder
allgemeine Erfahrungssätze, ist sie für den BFH selbst dann bindend, wenn sie nicht
zwingend, sondern nur möglich ist (BFH-Urteile vom 20. November 2012
VIII R 57/10, BFHE 239, 422, BStBl II 2014, 56; vom 19. März 2009 IV R 45/06, BFHE
225, 334, BStBl II 2009, 902, und vom 31. Juli 1991 VIII R 23/89, BFHE 165, 398,
BStBl II 1992, 375). Sind die anerkannten Auslegungsregeln nicht verletzt, ist das
Revisionsgericht daran gehindert, eine eigenständige und von der Auffassung des FG
abweichende Auslegung vorzunehmen.
17 Nach diesen Grundsätzen ist die Würdigung des FG, dass die Klägerin mit Schreiben
vom 30. Dezember 2005 nur für das Jahr 2004 eine Entlastung von der
Mineralölsteuer begehrt hat, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Ergebnis
seiner Überlegungen hat das FG unter Hinweis auf die BFH-Rechtsprechung zur
Auslegung von Willenserklärungen nachvollziehbar begründet. Dabei hat es
insbesondere darauf abgestellt, dass die Klägerin zwar einleitend "die vollständige
Erstattung der Mineralölsteuer aus dem Jahr 2004 und für die möglichen Folgejahre"
beantragt, jedoch nachfolgend eine Klarstellung dahin getroffen hat, dass der Antrag
"zunächst zur Vermeidung des Eintritts der Verjährung für die Erstattungsansprüche
aus dem Jahr 2004" erfolgen sollte. Darüber hinaus hat das FG in Bezug auf die
Folgejahre auf die Unbestimmtheit der gewählten Formulierung und auf verschiedene
denkbare Ansätze der Klägerin hingewiesen und auch die Begleitumstände des
Antrags sowie die zu vermutende Interessenlage der Klägerin in Bezug genommen.
In einer Gesamtbetrachtung der Argumentation erweist sich die vom FG
vorgenommene Sachverhaltswürdigung durchaus als möglich. Jedenfalls vermag der
Senat keine Verstöße gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze zu
erkennen, so dass insoweit keine Möglichkeit besteht, eine von der Auffassung des
FG abweichende Auslegung des von der Klägerin in ihrem Antrag erklärten Willens
vorzunehmen.
18 b) Eine Hemmung des Ablaufs der in § 169 Abs. 2 Nr. 1 AO festgelegten Frist nach
§ 171 Abs. 3 AO ist nicht eingetreten. Nach dieser Vorschrift läuft die
Festsetzungsfrist insoweit nicht ab, bevor über einen vor Fristablauf außerhalb eines
Rechtsbehelfsverfahrens gestellten Antrag auf Steuerfestsetzung oder auf Aufhebung
oder Änderung einer Steuerfestsetzung oder ihrer Berichtigung nach § 129 AO nicht
unanfechtbar entschieden worden ist. Zwar kann ein Antrag i.S. des § 171 Abs. 3 AO
auch in einem Antrag auf Erstattung von Steuern bestehen (Banniza in
Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 171 AO Rz 25), jedoch muss sich aus einem solchen
Erstattungsantrag zweifelsfrei ergeben, inwieweit eine Steuerentlastung begehrt wird.
Lässt sich das Ziel des Antragstellers auch nicht durch Auslegung ermitteln, tritt keine
Ablaufhemmung ein (BFH-Urteil vom 27. Oktober 1993 XI R 17/93, BFHE 172, 493,
BStBl II 1994, 439). Bei einem Antrag i.S. des § 171 Abs. 3 AO handelt es sich um
eine Willenserklärung, die der Auslegung durch die Tatsacheninstanz zugänglich ist
(BFH-Urteil vom 15. Mai 2013 IX R 5/11, BFHE 241, 310, BStBl II 2014, 143, m.w.N.).
Allerdings kann eine solche Auslegung --wie bereits dargestellt-- vom
Revisionsgericht nur eingeschränkt überprüft werden. In seiner Urteilsbegründung hat
das FG nachvollziehbar begründet, warum der Zusatz im Schreiben vom
30. Dezember 2005 "...und für mögliche Folgejahre" nicht als ein den Ablauf der
Festsetzungsfrist hemmender Antrag gedeutet werden kann. Es hat diesen Zusatz
lediglich als Ankündigung ohne eigenständigen Aussagewert gewürdigt und im
Übrigen auf dessen Unbestimmtheit hingewiesen. Die Ausführungen des FG sind frei
von Verstößen gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze, so dass der erkennende
Senat an die Auslegung des FG gebunden ist. In Bezug auf den Zeitraum Januar bis
Juli 2006 liegt demnach kein Erstattungsantrag vor, der die in § 171 Abs. 3 AO
festgelegten Rechtsfolgen auslösen könnte.
19 2. Der Anwendung der in § 169 Abs. 2 Nr. 1 AO normierten Festsetzungsfrist stehen
das Unionsrecht und die Rechtsprechung des EuGH nicht entgegen.
20 a) Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die EnergieStRL durch entsprechende
nationale Rechts- und Verwaltungsvorschriften umzusetzen und diese
Rechtsvorschriften ab dem 1. Januar 2004 in Kraft treten zu lassen, ergibt sich aus
Art. 28 Abs. 1 und 2 EnergieStRL. Dieser Verpflichtung ist die Bundesrepublik
Deutschland (Deutschland) nicht fristgerecht nachgekommen. Eine Umsetzung der
EnergieStRL erfolgte erst durch Art. 1 des Gesetzes zur Neuregelung der
Besteuerung von Energieerzeugnissen und zur Änderung des Stromsteuergesetzes
vom 15. Juli 2006 (BGBl I 2006, 1534). Durch dieses Gesetz ist das bis dahin
geltende Mineralölsteuergesetz aufgehoben und mit Wirkung vom 1. August 2006
durch das Energiesteuergesetz ersetzt worden.
21 Nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 EnergieStRL sind die Mitgliedstaaten
verpflichtet, bei der Stromerzeugung verwendete Energieerzeugnisse, die zur
Aufrechterhaltung der Fähigkeit, elektrischen Strom zu erzeugen, verwendet werden,
von der Steuer zu befreien (sog. output-Lösung). Lediglich aus umweltpolitischen
Gründen dürfen zur Verstromung eingesetzte Energieerzeugnisse besteuert werden
(Art. 14 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 EnergieStRL). Im Urteil Flughafen Köln/Bonn vom
17. Juli 2008 C-226/07 (EU:C:2008:429) hat der EuGH entschieden, dass Art. 14
Abs. 1 Buchst. a EnergieStRL insoweit unmittelbare Wirkung entfaltet, so dass sich
ein Einzelner vor den nationalen Gerichten --für einen Zeitraum, in dem der
betreffende Mitgliedstaat die EnergieStRL nicht fristgerecht in sein innerstaatliches
Recht umgesetzt hat-- in einem Rechtsstreit mit den Zollbehörden dieses Staates
unmittelbar auf diese Bestimmung berufen kann, damit eine mit ihr unvereinbare
nationale Regelung unangewendet bleibt und er eine Erstattung einer unter Verstoß
gegen diese Bestimmung erhobenen Steuer erwirken kann. Im Streitfall hatte das bis
einschließlich 31. Juli 2006 geltende MinöStG 1993 keine Entlastung für das von der
Klägerin in ihren Kraftwerken zur Verstromung eingesetzte Erdgas und Leichtöl
vorgesehen, so dass sich aufgrund der nicht fristgerechten Umsetzung der
unionsrechtlichen Vorgaben ein Entlastungsanspruch aus der unmittelbaren
Anwendung des Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EnergieStRL ergeben hätte. Allerdings ist
der von der Klägerin nunmehr geltend gemachte Anspruch infolge der eingetretenen
Festsetzungsverjährung nach § 47 AO erloschen.
22 b) In Bezug auf einen Erstattungsanspruch aus Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EnergieStRL
hat das FG Hamburg unter Hinweis auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache
Emmott geurteilt, dass die Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Nr. 1 AO deshalb keine
Anwendung finden kann, weil die Rechtslage unklar gewesen sei und der
Gesetzgeber die EnergieStRL nicht ordnungsgemäß umgesetzt habe (Urteil des FG
Hamburg in StE Juli 2010, 20). Dieser Ansicht folgt der erkennende Senat nicht. Nach
der Rechtsprechung des EuGH kann sich ein säumiger Mitgliedstaat zwar bis zum
Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung einer Richtlinie unter bestimmten
Voraussetzungen nicht auf die verspätete Erhebung einer Klage berufen, doch gilt
dieser Grundsatz nicht uneingeschränkt. Vielmehr setzt die Hemmung nationaler
Rechtsbehelfs- bzw. Verjährungsfristen das Vorliegen besonderer Umstände voraus.
In der Rechtssache Emmott ergaben sich diese daraus, dass ein Bürger eines
Mitgliedstaats von dessen Behörden --durch ein entsprechendes Schreiben eines
Ministeriums-- zunächst von der rechtzeitigen Einlegung einer Klage abgehalten und
ihm später der Einwand der verspäteten Klageerhebung entgegengehalten wurde. Wie
der EuGH in einer späteren Entscheidung (Iaia u.a., EU:C:2011:323, Rz 20), mit der
dieses Urteil auf Verjährungsfristen übertragen wurde, erläuternd ausführte, hatte die
Vorgehensweise der nationalen Behörde die Klägerin des Ausgangsverfahrens daran
gehindert, die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Rechte einzuklagen, woraus zu
schließen sei, dass sich eine nationale Behörde dann nicht auf den Ablauf einer
nationalen Verjährungsfrist berufen könne, wenn sie durch ihr eigenes Verhalten die
Verspätung einer Klage verursacht und damit die Geltendmachung der sich aus dem
Unionsrecht ergebenden Rechte unmöglich gemacht habe.
23 In Bezug auf die in § 852 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs a.F. festgelegte
dreijährige Frist, nach deren Ablauf Schadensersatzansprüche wegen unerlaubter
Handlung verjähren, hat der EuGH geurteilt, dass das Gemeinschaftsrecht es nicht
verwehrt, die Verjährungsfrist für einen Staatshaftungsanspruch wegen fehlerhafter
Umsetzung einer Richtlinie zu dem Zeitpunkt in Lauf zu setzen, in dem die ersten
Schadensfolgen der fehlerhaften Umsetzung eingetreten und weitere Schadensfolgen
absehbar sind, selbst wenn dieser Zeitpunkt vor der ordnungsgemäßen Umsetzung
dieser Richtlinie liegt (EuGH-Urteil Danske Slagterier vom 24. März 2009 C-445/06,
EU:C:2009:178). Nach der Ansicht des EuGH wird der Ablauf einer nationalen
Verjährungsfrist auch nicht durch den Umstand gehemmt, dass die Europäische
Kommission gegen den betreffenden Mitgliedstaat bereits ein
Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat, sofern nach nationalem Recht die
Möglichkeit besteht, den aus dem Unionsrecht abgeleiteten Anspruch geltend zu
machen, ohne das den Verstoß des Mitgliedstaats gegen das Unionsrecht
feststellende Urteil des EuGH abwarten zu müssen. Der Entscheidung ist zu
entnehmen, dass der bloße Umstand, dass ein Mitgliedstaat ausweislich eines beim
EuGH anhängigen Vertragsverletzungsverfahrens seine Umsetzungspflicht versäumt
haben könnte und dass insoweit eine Rechtsunsicherheit besteht, noch nicht zur
Ablaufhemmung nationaler Verjährungsvorschriften führt. Vielmehr hat der EuGH
auch in diesem Urteil seine Ansicht bestätigt, dass besondere Umstände hinzutreten
müssen, um solche Fristen außer Kraft zu setzen.
24 Solche Umstände liegen nach der Rechtsprechung des BFH nicht vor, wenn der
Steuerpflichtige nicht daran gehindert war, innerhalb der allgemeinen Fristen seine
Umsatzsteuerfestsetzungen anzufechten (BFH-Urteil vom 16. September 2010
V R 57/09, BFHE 230, 504, BStBl II 2011, 151) oder einen Grundlagenbescheid in
nicht verjährter Zeit zu beantragen (BFH-Urteil vom 21. Februar 2013 V R 27/11,
BFHE 240, 487, BStBl II 2013, 529). Nach Ansicht des Senats sind die
Voraussetzungen ebenfalls nicht erfüllt, wenn ein Steuerpflichtiger in Kenntnis der
Anspruchsvoraussetzungen fristgerecht Entlastungsansprüche für vorangegangene
Entlastungsabschnitte gestellt hat, jedoch entsprechende Anträge für zukünftige
Entlastungszeiträume versäumt und dadurch selbst zum Eintritt der Verjährung
beiträgt.
25 Im Übrigen hat der EuGH wiederholt entschieden, dass eine etwaige Feststellung
eines Unionsrechtsverstoßes durch den EuGH für den Beginn der Verjährungsfrist
zumindest dann unerheblich ist, wenn der Verstoß außer Zweifel steht (Urteile
Danske Slagterier, EU:C:2009:178, und Iaia u.a., EU:C:2011:323). Zudem ist die
Festlegung angemessener Verjährungsfristen mit dem Unionsrecht vereinbar, denn
solche Fristen sind nicht geeignet, die Ausübung der durch das Unionsrecht
verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren,
selbst wenn ihr Ablauf zum endgültigen Anspruchsverlust führen sollte (EuGH-Urteile
Edis vom 15. September 1998 C-231/96, EU:C:1998:401, und Mark & Spencer vom
11. Juli 2002 C-62/00, EU:C:2002:435).
26 c) Nach den dargestellten Grundsätzen kann im Streitfall nicht von einer Hemmung
des Ablaufs der Festsetzungsfrist ausgegangen werden. Besondere Umstände, die
dazu geführt haben könnten, dass der Klägerin die Geltendmachung des
Erstattungsanspruchs unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert worden wäre,
sind nicht ersichtlich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin aufgrund der ihr
vorliegenden Informationen eines Fachverbands von der Möglichkeit ausgehen
konnte, dass sich aufgrund der nicht ordnungsgemäßen Umsetzung der EnergieStRL
ein Entlastungsanspruch aus der unmittelbaren Anwendung des Art. 14 Abs. 1
Buchst. a EnergieStRL würde ableiten lassen. Zudem hat sie gegenüber dem HZA für
das Jahr 2004 --unter ausdrücklichem Hinweis auf eine mögliche
Unionsrechtswidrigkeit der im MinöStG 1993 getroffenen Regelungen-- einen solchen
Anspruch auch geltend gemacht. Nach den Feststellungen des FG hat sie darüber
hinaus fristgerecht auch für das Jahr 2005 eine Steuererstattung beantragt. Lediglich
für die Monate Januar bis Juli 2006 hat sie eine entsprechende Antragstellung
versäumt. Bei diesem Befund kann nicht davon ausgegangen werden, dass die
Vorgehensweise der nationalen Behörde die Klägerin daran gehindert hat, die sich aus
dem Unionsrecht ergebenden Rechte fristgerecht geltend zu machen bzw.
einzuklagen.
27 Daran ändert auch der Umstand nichts, dass keine Gewissheit über die Art und
Weise der Umsetzung der in Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EnergieStRL festgelegten
obligatorischen Steuerbefreiung bestand. Zwar trifft es zu, dass der Gesetzgeber statt
eines Entlastungsverfahrens auch ein Verfahren der steuerfreien Verwendung hätte
einführen können, doch ist in dieser Gestaltungsfreiheit kein besonderer Umstand zu
sehen, der nach der Rechtsprechung des EuGH zu einer Hemmung des Ablaufs der
Festsetzungsfrist führt. Ein schützenswertes Vertrauen der Wirtschaftsbeteiligten auf
die Einführung eines Verfahrens der steuerfreien Verwendung anstelle eines
Entlastungsverfahrens bestand nicht. Wie die von der Klägerin gestellten
Entlastungsanträge belegen, hat sie auch selbst nicht darauf vertraut, der nationale
Gesetzgeber werde die Steuerbefreiung durch Einführung eines Verwenderverfahrens
umsetzen. Unbeachtlich ist in diesem Zusammenhang, dass das HZA im Zeitpunkt
der Antragstellung für das Jahr 2004 Kenntnis von den Anlagen der Klägerin und von
der Verwendung der zur Verstromung eingesetzten Energieerzeugnisse hatte, denn
nach der vom FG vorgenommenen Auslegung des Entlastungsantrags hat die
Klägerin den Erstattungsantrag selbst auf einen bestimmten Zeitraum eingeschränkt,
ohne hierzu vom HZA veranlasst worden zu sein.
28 Schließlich können besondere Umstände nicht darin gesehen werden, dass die
Klägerin in Kenntnis der bestehenden Rechtsunsicherheit noch vor der Umsetzung
der EnergieStRL durch den deutschen Gesetzgeber und vor dem Erlass des EuGH-
Urteils Flughafen Köln/Bonn (EU:C:2008:429) tätig geworden ist. Dem EuGH-Urteil
Danske Slagterier (EU:C:2009:178) ist zu entnehmen, dass eine bestehende
Rechtsunsicherheit in Bezug auf die ordnungsgemäße Umsetzung einer
Richtlinienbestimmung für sich genommen noch kein besonderer Umstand ist, der
zur Hemmung nationaler Verjährungsfristen führt, sofern die bloße Geltendmachung
eines Anspruchs nicht vom Ausgang eines beim EuGH anhängigen Verfahrens
abhängig gemacht wird. Im Streitfall hing die Möglichkeit, beim HZA eine Erstattung
der Mineralölsteuer für den Zeitraum von Januar bis Juli 2006 zu beantragen, weder
nach den energiesteuerrechtlichen Vorschriften noch nach den Bestimmungen der
AO von einer Entscheidung des EuGH über die ordnungsgemäße Umsetzung der
EnergieStRL ab.
29 Da von der Rechtsprechung des EuGH geforderte besondere Umstände nicht
erkennbar sind, ist im Streitfall die Festsetzungsverjährungsfrist abgelaufen und der
geltend gemachte Erstattungsanspruch erloschen.
30 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.