Urteil des BFH vom 11.12.2015

Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung - Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens - Wahrung der Prozessfürsorgepflicht

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 11.12.2015, VI B 53/15
Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung - Berücksichtigung des Gesamtergebnisses
des Verfahrens - Wahrung der Prozessfürsorgepflicht
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des
Hessischen Finanzgerichts vom 5. März 2015 12 K 1413/14 wird als unbegründet
zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Gründe
1 Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet. Die geltend gemachten
Revisionszulassungsgründe der Notwendigkeit der Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--
) sowie eines Verfahrensmangels (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) liegen nicht vor.
2 1. Die Revision ist nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO zuzulassen.
3 a) Eine Divergenz i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO ist gegeben, wenn
das Finanzgericht (FG) mit einem das angegriffene Urteil tragenden und
entscheidungserheblichen Rechtssatz von einem ebensolchen Rechtssatz einer
anderen Gerichtsentscheidung abgewichen ist. Das angefochtene Urteil und die
vorgebliche Divergenzentscheidung müssen dabei dieselbe Rechtsfrage betreffen
und zu gleichen oder vergleichbaren Sachverhalten ergangen sein (z.B. Beschluss
des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 12. Oktober 2011 III B 56/11, BFH/NV 2012,
178). Die voneinander abweichenden Rechtssätze müssen sich aus dem
angefochtenen Urteil des FG und der Divergenzentscheidung mit hinreichender
Deutlichkeit ergeben (BFH-Beschluss vom 12. Dezember 2013 III B 55/12, BFH/NV
2014, 575, m.w.N.). Nicht erforderlich ist dabei, dass der abstrakte Rechtssatz nach
Art eines Leitsatzes in den Gründen des angefochtenen Urteils formuliert ist; er kann
sich auch aus scheinbar nur fallbezogenen Rechtsausführungen ergeben (BFH-
Beschlüsse vom 23. April 1992 VIII B 49/90, BFHE 167, 488, BStBl II 1992, 671, und
vom 2. Juni 2014 III B 153/13, BFH/NV 2014, 1377).
4 b) Daran gemessen liegt die von der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin)
vorgetragene Divergenz nicht vor. Soweit die Klägerin aus dem BFH-Urteil vom
28. Februar 1978 VII R 92/74 (BFHE 124, 487, BStBl II 1978, 390) und dem
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 26. März 1997
2 BvR 842/96 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1997, 769)
entscheidungserhebliche Rechtssätze herausgestellt hat, ist zu berücksichtigen, dass
der Rechtssatz, den sie dem Urteil des FG entnommen und den Rechtssätzen der
angeblichen Divergenzentscheidungen gegenübergestellt hat, für die Entscheidung
des FG nicht tragend (entscheidungserheblich) war. Das FG hat den von der Klägerin
herausgestellten Rechtssatz ausweislich der Entscheidungsgründe des
finanzgerichtlichen Urteils nur für den Fall aufgestellt, dass "unterstellt" wird, die
Bedürftigkeitsbescheinigung sei zu den Steuerakten gelangt (Bl. 13 des
Urteilsumdrucks). Das FG konnte aufgrund des erstinstanzlichen Vorbringens der
Klägerin jedoch schon nicht die Überzeugung gewinnen, "ob die danach existierende
amtliche Bescheinigung zur Unterhaltsbedürftigkeit ... überhaupt (zusammen mit dem
Schreiben vom 22. Dezember 1999) zu den Steuerakten gelangt ist."
5 Insofern liegt der Vorentscheidung des FG und den angeblichen
Divergenzentscheidungen auch kein vergleichbarer Sachverhalt zugrunde. Denn in
den Fällen, über die in dem BFH-Urteil in BFHE 124, 487, BStBl II 1978, 390 und in
dem BVerfG-Beschluss in HFR 1997, 769 zu entscheiden war, stand fest, dass das
fragliche Schriftstück bei der aktenführenden Stelle (jeweils einem Gericht)
eingegangen war, es aber durch Versagen organisatorischer Vorkehrungen, auf die
der Bürger keinen Einfluss hatte, nicht zu den Akten genommen wurde. Ein solcher
Sachverhalt steht im Streitfall allerdings nicht fest. Denn das FG konnte sich schon
nicht davon überzeugen, dass die Bedürftigkeitsbescheinigung für das Streitjahr dem
Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) überhaupt zugegangen war.
Nur für den Fall, dass solches "unterstellt" wird, hat das FG den von der Klägerin
herausgestellten Rechtssatz gebildet.
6 2. Die Revision ist auch nicht wegen eines von der Klägerin geltend gemachten
Verfahrensmangels zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
7 a) Das FG hat nicht gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO verstoßen. Nach
dieser Vorschrift hat das FG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des
Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Die Rüge eines derartigen
Verfahrensverstoßes setzt die Darlegung voraus, dass das FG seiner Entscheidung
einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem schriftlichen oder protokollierten
Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht oder eine nach den Akten klar feststehende
Tatsache unberücksichtigt gelassen hat (BFH-Beschluss vom 08. Mai 2014
X B 105/13, BFH/NV 2014, 1213).
8 Soweit die Klägerin rügt, das FG habe das Schreiben des FA vom 19. Juni 2000
verfahrensfehlerhaft nicht berücksichtigt, übersieht sie, dass dieses Schreiben, auch
soweit dort eine von der Klägerin vorgelegte Bedürftigkeitsbescheinigung
angesprochen wurde, gar nicht das Streitjahr, sondern das Folgejahr betraf. Damit
kam es nach der materiell-rechtlichen Auffassung des FG, von der bei der
Beantwortung der Frage, ob das FG einen Verfahrensfehler begangen hat,
auszugehen ist (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 6. Juli 1999
VIII R 12/98, BFHE 189, 148, BStBl II 1999, 731; BFH-Beschlüsse vom 1. September
2005 VI B 30/05, BFH/NV 2005, 2046, und vom 8. Oktober 2004 IV B 202/02,
BFH/NV 2005, 367), auf das Schreiben des FA vom 19. Juni 2000 nicht an. Denn das
FG hat materiell-rechtlich (zutreffend) darauf abgestellt, ob für das Streitjahr, nicht
aber für ein Vor- oder ein Folgejahr, eine Bedürftigkeitsbescheinigung vorlag.
9 b) Das FG hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des
Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) auch nicht durch den Erlass einer sog.
Überraschungsentscheidung verletzt. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor,
wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder
tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt,
mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter
Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf
der Verhandlung nicht rechnen musste (BFH-Beschluss vom 2. April 2002 X B 56/01,
BFH/NV 2002, 947). Danach ist im Streitfall keine Überraschungsentscheidung
gegeben.
10 Das FG hat die Klägerin vor Erlass seines Urteils unter Hinweis auf das für das
Streitjahr geltende Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom
15. September 1997 (BStBl I 1997, 826) aufgefordert, die Voraussetzungen für den
Abzug von Unterhaltsaufwendungen für ihre in Mazedonien lebende Mutter
nachzuweisen. Bei dieser Sachlage konnte die Klägerin nicht davon überrascht sein,
dass das FG die Klage abwies, weil die Klägerin den Nachweis der
Unterhaltsbedürftigkeit ihrer Mutter im Streitjahr nicht erbracht habe. Da sich das
Schreiben des FA vom 19. Juni 2000 --wie zuvor dargelegt wurde-- nicht auf das
Streitjahr bezog, konnte es die Klägerin auch nicht überraschen, dass das FG sich
trotz der in diesem Schreiben erwähnten Bedürftigkeitsbescheinigung nicht vom
Vorliegen einer solchen Bescheinigung für das Streitjahr überzeugen konnte.
11 c) Der Anspruch der Klägerin auf Gehör sowie § 76 Abs. 2 FGO wurden schließlich
auch nicht dadurch verletzt, dass das FG dem zum Termin zur mündlichen
Verhandlung am 5. März 2015 ordnungsgemäß geladenen, aber nicht erschienenen
FA den Schriftsatz der Klägerin vom 4. März 2015, der beim FG am 5. März 2015 um
02:13 Uhr einging, "kurz vor der Sitzung telefonisch ... kursorisch erläutert" hat.
Hierdurch hat das FG der Klägerin nicht das rechtliche Gehör verweigert und auch
seine Prozessfürsorgepflicht aus § 76 Abs. 2 FGO gegenüber der Klägerin nicht
verletzt. Die Prozessfürsorgepflicht des § 76 Abs. 2 FGO dient in erster Linie der
Gewährleistung eines fairen Verfahrens, der Wahrung des Anspruchs auf rechtliches
Gehör sowie der Vermeidung von Überraschungsentscheidungen (BFH-Beschluss
vom 11. März 2013 I B 95/12, BFH/NV 2013, 1425).
12 Die Klägerin hatte im Streitfall indessen Gelegenheit, zur Sache vorzutragen und ihren
Rechtsstandpunkt darzulegen. Auch müssen sich die --wie im Streitfall-- ordnungs-
und fristgemäß geladenen Beteiligten bewusst sein, dass im Anschluss an die
mündliche Verhandlung eine Entscheidung gefällt und zugestellt wird (§ 104 Abs. 2
FGO). Auch das Nichterscheinen der Beteiligten steht einer Verhandlung und
Entscheidung nicht entgegen. Denn es kann ohne einen Beteiligten verhandelt und
entschieden werden, wie sich aus § 91 Abs. 2 FGO ergibt. Die Klägerin konnte daher
im Streitfall nicht davon ausgehen, dass das FG ihren kurz vor dem Termin zur
mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsatz vor der mündlichen Verhandlung
dem FA noch übersenden oder die mündliche Verhandlung zu diesem Zweck
unterbrechen werde oder den Schriftsatz dem zum Termin zur mündlichen
Verhandlung ordnungsgemäß geladenen, aber nicht erschienenen FA vollständig
telefonisch vorlesen werde.
13 3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO
ab.
14 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.