Urteil des BFH vom 18.02.2016

Zu den Anforderungen an die Gewährung des Vorsteuerabzugs aus Billigkeitsgründen - Nachprüfung einer Ermessensentscheidung

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 18.2.2016, V R 62/14
Zu den Anforderungen an die Gewährung des Vorsteuerabzugs aus Billigkeitsgründen -
Nachprüfung einer Ermessensentscheidung
Leitsätze
1. Vorsteuerabzug im Billigkeitsverfahren setzt voraus, dass der Unternehmer gutgläubig
war und alle Maßnahmen ergriffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden
können, um sich von der Richtigkeit der Angaben in der Rechnung zu überzeugen und seine
Beteiligung an einem Betrug ausgeschlossen ist.
2. Im Billigkeitsverfahren muss das FA nicht das Vorliegen objektiver Umstände
nachweisen, die den Schluss zulassen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug in
betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird. Das ist nur dann
erforderlich, wenn der Vorsteuerabzug trotz Vorliegens dessen objektiver Merkmale wegen
der Einbindung des Unternehmers in eine missbräuchliche Gestaltung versagt werden soll.
3. Es stellt keinen Ermessensfehler dar, wenn eine Behörde ihre Entscheidung auf mehrere
Ermessenserwägungen stützt, von denen zwar eine oder einzelne fehlerhaft sind, die
Behörde aber eindeutig zum Ausdruck gebracht hat, dass jede einzelne der
Ermessenserwägungen bereits allein tragend ist.
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts München vom 20. Mai
2014 2 K 875/11 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens trägt der Beklagte.
Tatbestand
1 I. Streitig ist im Revisionsverfahren, ob der Beklagte und Revisionskläger (das
Finanzamt --FA--) zu Recht eine abweichende Steuerfestsetzung aus
Billigkeitsgründen abgelehnt hat.
2 Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) erzielt steuerpflichtige Umsätze aus
der Lagerung, Kommissionierung und Verteilung von Gütern aller Art. Gesellschafter
der Klägerin sind A und P.K. Mit ihrer Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr (2006)
machte die Klägerin u.a. abziehbare Vorsteuerbeträge aus zwei Rechnungen der
Fa. H (Prag/Tschechien) vom 5. Dezember 2005 und 11. Januar 2006 über die
Lieferung von Nickel-Kathoden zum Preis von 249.674,99 EUR zzgl. 16 %
Mehrwertsteuer in Höhe von 39.948 EUR und 258.022,57 EUR zzgl. 16 %
Mehrwertsteuer in Höhe von 41.283,61 EUR geltend. Auf den Rechnungen ist eine
Steuernummer mit einer vierstelligen Ziffernfolge im dritten Ziffernblock angegeben.
Die Rechnungen enthalten den Hinweis, dass die Verladung im Lager N (Inland) bei
der Fa. M nur in Absprache mit dem Mitarbeiter J erfolgen dürfe.
3 Mit Schreiben vom 3. März 2008 teilte das FA X dem beklagten FA mit, dass die
Fa. H keine Geschäftstätigkeit ausgeübt und niemals Verfügungsmacht über die
angeblich an die Klägerin gelieferten Waren gehabt habe. Die streitgegenständlichen
Rechnungen seien deshalb zu Unrecht ausgestellt worden. Das FA X legte dazu
Niederschriften über die Beschuldigtenvernehmung von Frau B, der
Geschäftsführerin der Fa. H, vom 17. November 2006 und über die
Zeugenvernehmung von A.K., dem Geschäftsführer der Klägerin, vom 8. November
2007, vor.
4 Im Rahmen der daraufhin von der Steuerfahndungsstelle des FA durchgeführten
Ermittlungsmaßnahmen wurde festgestellt, dass die Waren von einer
niederländischen Spedition ab dem Lager der Fa. M in N (Inland) direkt zum
Abnehmer nach Italien transportiert wurden. Die Klägerin stellte die Lieferungen dem
italienischen Abnehmer in Rechnung, der diese per Überweisung bezahlte. Die
Klägerin überwies die Rechnungsbeträge auf das auf den Rechnungen angegebene
Konto einer Schweizer Bank. Feststellungen zu einem Herrn J konnten nicht getroffen
werden. Ein Mitarbeiter der Fa. M sagte als Zeuge aus, dass er einen Herrn J nicht
kenne. Des Weiteren wurde festgestellt, dass die Fa. H im Handelsregister des
Stadtgerichts Prag eingetragen war und über eine tschechische USt-IdNr. verfügte.
5 Das FA setzte daraufhin mit Steueränderungsbescheid vom 4. Dezember 2008 die
Umsatzsteuer für 2006 unter Versagung der Vorsteuer aus den beiden Rechnungen
der Fa. H fest.
6 Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein und beantragte eine abweichende
Festsetzung der Umsatzsteuer aus Billigkeitsgründen, die mit Bescheid vom
2. Februar 2010 abgelehnt wurde.
7 Den hiergegen eingelegten Einspruch und den Einspruch gegen den
Umsatzsteuerbescheid vom 4. Dezember 2008 verband das FA zu gemeinsamer
Entscheidung und wies beide Einsprüche mit Einspruchsentscheidung vom
22. Februar 2011 als unbegründet zurück.
8 Die Ablehnung einer Gewährung des Vorsteuerabzugs aus Billigkeitsgründen
begründete das FA damit, dass die Klägerin --obwohl es sich bei der Fa. H um eine
neue Geschäftsbeziehung gehandelt habe-- weder Kenntnis von den
Geschäftsführern noch von sonstigen Kontaktpersonen bei der angeblichen
Lieferantin Fa. H gehabt habe, auf Faxantworten der Fa. H auch keine Kontaktperson
aufgeführt gewesen sei, unterschiedliche Adressen der Fa. H in der Rechnung und in
der weiteren Korrespondenz genannt worden seien, die von der Fa. H verwendete
Steuernummer erkennbar von den in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland)
gebräuchlichen Steuernummern abgewichen sei, die Klägerin dies habe erkennen und
mittels einer Nachfrage beim FA X verifizieren können und dass bei einem besonders
gelagerten Geschäft, bei dem der Lieferant und der Abnehmer von einem Dritten, hier
dem italienischen Geschäftsfreund, vorgegeben würden und keine Verhandlungen
über den Geschäftsablauf und die Preisgestaltung geführt worden seien, besondere
Aufmerksamkeit erforderlich sei.
9 Die Klage hatte zum Teil Erfolg. Das Finanzgericht (FG) bestätigte den
Steueränderungsbescheid vom 4. Dezember 2008 und die hierzu ergangene
Einspruchsentscheidung, hob aber den Bescheid vom 2. Februar 2010 über die
Ablehnung einer abweichenden Festsetzung der Umsatzsteuer aus Billigkeitsgründen
und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 22. Februar 2011 wegen
fehlerhafter Ermessensausübung auf.
10 Zur Begründung führte das FG im Wesentlichen aus, das FA habe den
Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der Fa. H zu Recht versagt, weil sie nicht die
der Fa. H vom FA erteilte Steuernummer enthalten habe und die Fa. H auch nicht
leistende Unternehmerin gewesen sei. Nicht die Rechnungsausstellerin die Fa. H,
sondern ein (unbekannter) Dritter habe die Lieferungen der in den Rechnungen
angeführten Nickel-Kathoden an die Klägerin ausgeführt. Bei der auf den Rechnungen
angegebenen Adresse habe es sich somit nicht um den Namen und die Anschrift der
leistenden Unternehmerin i.S. von § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 des
Umsatzsteuergesetzes (UStG) gehandelt. Soweit die Klägerin über die Identität der
Leistenden getäuscht worden sei, könne sie sich nicht darauf berufen, gutgläubig
gewesen zu sein, denn § 15 Abs. 1 UStG schütze nicht den guten Glauben an die
Erfüllung der Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug. Gesichtspunkte des
Vertrauensschutzes könnten im Festsetzungsverfahren nicht berücksichtigt werden.
Das FA habe daher im Steueränderungsbescheid vom 4. Dezember 2008 den
Vorsteuerabzug zu Recht versagt.
11 Anders verhalte es sich mit der Ablehnung der von der Klägerin beantragten
abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen. Der Ablehnungsbescheid
vom 2. Februar 2010 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung seien
aufzuheben, weil das FA hierbei das ihm zustehende Ermessen nicht
ordnungsgemäß ausgeübt habe. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der
Europäischen Union (EuGH) könne dann, wenn nachgewiesen sei, dass die
streitgegenständlichen Lieferungen von Gegenständen tatsächlich bewirkt und diese
Gegenstände vom Steuerpflichtigen auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für die
Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet worden seien, das Recht auf
Vorsteuerabzug nur versagt werden, wenn die Steuerbehörden das Vorliegen
objektiver Umstände nachgewiesen hätten, die den Schluss zuließen, dass dieses
Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht werde. Nur
wenn Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung vorlägen,
könne ein verständiger Wirtschaftsteilnehmer nach den Umständen des konkreten
Falls verpflichtet sein, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, von dem er
Gegenstände oder Dienstleistungen zu erwerben beabsichtige, Auskünfte einzuholen,
um sicherzustellen, dass dessen Umsätze nicht in einen von einem
Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangenen Betrug
einbezogen seien.
12 Das FA habe aber weder im Ablehnungsbescheid vom 2. Februar 2010 noch in der
dazu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 22. Februar 2011 objektive
Umstände dargelegt, aufgrund derer die Klägerin verpflichtet gewesen sei, weitere
Auskünfte über die Fa. H einzuholen. Die Zahlung auf ein Konto in der Schweiz und
die Vermittlung des Geschäfts mit der Fa. H durch einen, dem Geschäftsführer der
Klägerin (G), bekannten Dritten seien keine außergewöhnlichen Umstände, die auf
eine Steuerhinterziehung schließen ließen. Das gelte gleichermaßen für den
Umstand, dass G die Ware nicht selbst gesehen und keinen persönlichen Kontakt zu
Frau B gehabt habe und das Geschäft über den (angeblich) beauftragten J
abgewickelt worden sei.
13 Mit der Revision, mit der es Verletzung materiellen Rechts (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1,
§ 14 UStG, § 31 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung, §§ 163, 227 der
Abgabenordnung --AO--) geltend macht, wendet sich das FA gegen die Aufhebung
seiner Entscheidungen im Billigkeitsverfahren. Zu den vom Leistungsempfänger zu
ergreifenden Maßnahmen gehöre u.a. die dokumentierte Vergewisserung über die
Unternehmereigenschaft des Leistenden. In der Einspruchsentscheidung seien
diverse Besonderheiten aufgeführt und gewürdigt worden, die der Klägerin zu weiteren
Nachforschungen Anlass gegeben hätten. Den sich daraus ergebenden Zweifeln sei
die Klägerin aber nicht nachgegangen. Der vom FG geforderte Nachweis, dass die
Klägerin ihr Vorsteuerabzugsrecht in betrügerischer Absicht oder missbräuchlich
geltend mache, lasse sich weder aus der Rechtsprechung des EuGH noch aus der
des Bundesfinanzhofs (BFH) herleiten.
14 Das FA beantragt,
das FG-Urteil insoweit aufzuheben, als es der Klage stattgegeben hat und die Klage
insgesamt abzuweisen.
15 Die Klägerin beantragt,
die Revision des FA als unbegründet zurückzuweisen.
16 Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, die von der Fa. H an sie, die Klägerin,
verkaufte Ware sei tatsächlich durch einen von ihr beauftragten Spediteur zum
Abnehmer nach Italien verbracht worden. Das FA habe den Sachverhalt nicht
hinreichend aufgeklärt, um eine sachgemäße Ermessensentscheidung treffen zu
können. Allein der Umstand, dass eine erbrachte Leistung nicht tatsächlich von dem
in der Rechnung angegebenen Leistenden bewirkt worden sei oder die Unterschriften
der Personen, die bestimmte Dokumente als Leistende unterzeichnet hätten, sich als
falsch erwiesen hätten, reiche nicht aus, den Vorsteuerabzug zu versagen. Das FA
könne vom Steuerpflichtigen nicht verlangen, zu prüfen, ob der Aussteller der
Rechnung Steuerpflichtiger sei.
Entscheidungsgründe
17 II. Die Revision des FA ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2
der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Entscheidung des FG stellt sich im
Ergebnis aus anderen Gründen als richtig dar (§ 126 Abs. 4 FGO).
18 1. Das FG hat die Voraussetzungen, unter denen im Billigkeitsverfahren (§§ 163, 227
AO) der Vorsteuerabzug gewährt werden kann, verkannt.
19 a) Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Vorsteuerabzug im
Billigkeitsverfahren zu gewähren ist, wenn die Steuerbehörden nicht das Vorliegen
objektiver Umstände nachweisen, die den Schluss zulassen, dass das Recht auf
Vorsteuerabzug in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird,
denn diese Voraussetzung betrifft nicht das Billigkeitsverfahren.
20 b) Das FG hat seine Auffassung insoweit zu Unrecht auf die EuGH-Urteile
Mahagebén und Dávid vom 21. Juni 2012 C-80/11 und C-142/11 (EU:C:2012:373),
Maks Pen vom 13. Februar 2014 C-18/13 (EU:C:2014:69) und Bonik vom
6. Dezember 2012 C-285/11 (EU:C:2012:774) gestützt. Denn in den vom EuGH in
den Entscheidungen Mahagebén und Dávid, Maks Pen und Bonik zu beurteilenden
Sachverhalten stand aufgrund der Vorlageentscheidungen fest, dass die nach der
Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
vom 28. November 2006 (Mehrwertsteuersystem-Richtlinie --MwStSystRL--)
vorgesehenen materiellen und formellen Voraussetzungen für die Entstehung und die
Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt waren (EuGH-Urteile Mahagebén
und Dávid, EU:C:2012:373, Rz 43, 44, 52; Maks Pen, EU:C:2014:69, Rz 25, und
Bonik, EU:C:2012:774, Rz 29, 33, 40). Mit diesen Urteilen hat der EuGH daher das
Recht auf Vorsteuerabzug nicht durch Vertrauensschutzgesichtspunkte erweitert,
sondern begrenzt, indem er den Vorsteuerabzug selbst dann versagt, wenn dessen
Voraussetzungen zwar tatsächlich vorliegen, jedoch aufgrund objektiver Umstände
feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich
mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine vom Lieferer oder von
einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden
Umsatzstufe der Lieferkette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war (BFH-
Urteil vom 22. Juli 2015 V R 23/14, BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914, Rz 36). Diese
Sanktion, dem Steuerpflichtigen den Vorsteuerabzug trotz Vorliegens seiner
objektiven Merkmale zu versagen, ist nur zu rechtfertigen, wenn das FA das
Vorliegen objektiver Umstände nachweist, die den Schluss zulassen, dass das Recht
auf Vorsteuerabzug vom Steuerpflichtigen in betrügerischer Weise oder
missbräuchlich geltend gemacht wird (z.B. EuGH-Urteil Bonik, EU:C:2012:774,
Rz 44).
21 c) Entgegen der Auffassung des FG lassen sich auch aus dem EuGH-Urteil Maks
Pen (EU:C:2014:69, Rz 31) keine dahingehenden Schlussfolgerungen ableiten, dass
auch bei unzutreffenden Rechnungsangaben der Vorsteuerabzug nur versagt werden
dürfe, wenn das FA das Vorliegen objektiver Umstände nachweist, die den Schluss
zulassen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug vom Steuerpflichtigen in
betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird. Aus Rz 31 ergibt
sich, dass Zweifel daran, dass die Rechnungsangaben zutreffend und die
Abrechnende auch die leistende Unternehmerin ist, nicht allein damit begründet
werden können, dass die Abrechnende nicht über das erforderliche Personal sowie
die erforderlichen Sachmittel und Vermögenswerte verfügt habe, die Kosten der
Leistung nicht in ihrer Buchführung dokumentiert worden seien oder die Unterschrift
der Personen, die bestimmte Dokumente als Leistende unterzeichnet haben, sich als
falsch erwiesen haben. Vorliegend steht nach den Feststellungen des FG aber fest,
dass die Fa. H nicht die leistende Unternehmerin war, sondern ein unbekannter Dritter
und dass die Rechnung nicht die korrekte Steuernummer der Rechnungsausstellerin
enthalten hat.
22 d) Im Billigkeitsverfahren (§§ 163, 227 AO) kann der Vorsteuerabzug ausnahmsweise
unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Rechtsgrundsatzes des
Vertrauensschutzes nach den Grundsätzen der EuGH-Rechtsprechung (Urteile
Teleos vom 27. September 2007 C-409/04, EU:C:2007:548, Rz 68, und Netto
Supermarkt vom 21. Februar 2008 C-271/06, EU:C:2008:105, Rz 25) in Betracht
kommen. Das setzt voraus, dass der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer
gutgläubig war und alle Maßnahmen ergriffen hat, die vernünftigerweise von ihm
verlangt werden können, um sich von der Richtigkeit der Angaben in der Rechnung
zu überzeugen und seine Beteiligung an einem Betrug ausgeschlossen ist (BFH-Urteil
vom 30. April 2009 V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744, Rz 49).
23 Die Begründung des FG trägt deshalb die Aufhebung der Ermessensentscheidung
des FA nicht.
24 2. Die Aufhebung der Entscheidung des FA im Billigkeitsverfahren ist aber im
Ergebnis richtig, weil dem FA Ermessensfehler unterlaufen sind.
25 a) Die vom FA im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO zu treffende
Ermessensentscheidung ist im finanzgerichtlichen Verfahren nur eingeschränkt
dahingehend überprüfbar, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen
Grenzen des Ermessens überschritten (Ermessensmissbrauch) oder von dem ihr
eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden
Weise Gebrauch gemacht hat (Ermessensfehlgebrauch; vgl. BFH-Urteil vom
23. September 2004 V R 58/03, BFH/NV 2005, 825, Rz 12).
26 b) Das FA hat in seinen Ermessenserwägungen berücksichtigt, dass die Klägerin --
obwohl es sich bei der Fa. H um eine neue Geschäftsbeziehung handelte-- weder
Kenntnis von den Geschäftsführern noch von sonstigen Kontaktpersonen bei der
angeblichen Lieferantin der Fa. H hatte, auf Faxantworten der Fa. H auch keine
Kontaktperson aufgeführt war, unterschiedliche Adressen der Fa. H in der Rechnung
und in der weiteren Korrespondenz genannt wurden und dass bei einem besonders
gelagerten Geschäft, bei dem der Lieferant und der Abnehmer von einem Dritten, hier
dem italienischen Geschäftsfreund, vorgegeben werden und keine Verhandlungen
über den Geschäftsablauf und die Preisgestaltung geführt werden, besondere
Aufmerksamkeit erforderlich ist.
27 c) Das FA hat darüber hinaus seine Ermessensentscheidung aber auch darauf
gestützt, dass die von der Fa. H verwendete Steuernummer erkennbar von den in
Deutschland gebräuchlichen Steuernummern abgewichen sei und die Klägerin sich
über die Steuernummer der Fa. H durch eine Rückfrage beim FA X habe Gewissheit
verschaffen können. Die Annahme des FA, dass die Steuernummern in Deutschland
durchweg durch eine fünfstellige Ziffernkombination im dritten Ziffernblock
gekennzeichnet seien, erweist sich als unzutreffend. Zumindest im Bundesland
Nordrhein-Westfalen ist eine vierstellige Ziffernfolge im dritten Ziffernblock üblich.
Deshalb ist auch die auf der Annahme einer erkennbar unzutreffenden Steuernummer
beruhende Erwägung des FA, die Klägerin habe sich durch eine Nachfrage beim FA X
Gewissheit verschaffen müssen, fehlerhaft.
28 d) Zwar stellt es keinen Ermessensfehler dar, wenn eine Behörde ihre Entscheidung
auf mehrere Ermessenserwägungen stützt, von denen zwar eine oder einzelne
fehlerhaft sind, die Behörde aber zum Ausdruck gebracht hat, dass bereits jede
einzelne der Ermessenserwägungen sie dazu veranlasst hat, die von ihr getroffene
Entscheidung vorzunehmen, also insofern bereits allein tragend ist. Für die
Fehlerfreiheit einer Ermessensentscheidung genügt es, dass ein selbständig
tragender Grund rechtlich fehlerfrei ist (BFH-Urteil vom 16. September 2014
X R 30/13, BFH/NV 2015, 150, 2. Orientierungssatz und Rz 29; Urteile des
Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Mai 1981 1 C 169.79, BVerwGE 62, 215; vom
21. September 2000 2 C 5.99, Deutsches Verwaltungsblatt 2001, 726; vom
27. September 1978 1 C 28.77, Die öffentliche Verwaltung 1979, 374; vom 27. März
1979 1 C 15.77, Buchholz 402.24 § 10 der Ausländergesetzes Nr. 61;
Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 21. Aufl., § 114 Rz 6a,
m.w.N.).
29 Der Ermessensentscheidung des FA lässt sich aber nicht entnehmen, ob die unter
II.2.b) genannten Erwägungen allein oder in ihrer Summe für die Entscheidung des FA
maßgebend gewesen sind oder erst in der Gesamtschau mit den unter II.2.c)
genannten fehlerhaften Erwägungen. Diese Entscheidung kann der Senat nicht an
Stelle des FG treffen, denn das Gericht hat im Falle der Aufdeckung von
Ermessensfehlern die Ermessensentscheidung aufzuheben (BFH-Urteil vom
3. August 1983 II R 144/80, BFHE 139, 128, BStBl II 1984, 321, Orientierungssatz)
und darf grundsätzlich nicht sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der
Verwaltungsbehörde setzen (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom
6. November 2012 VII R 72/11, BFHE 239, 15, BStBl II 2013, 141, Orientierungssatz
und Rz 14).
30 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.