Urteil des BFH vom 18.02.2016

Steuerfreie Lieferung eines Miteigentumsanteils - Änderung nach § 174 Abs. 4 AO steht Verböserungsverbot nicht entgegen

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 18.2.2016, V R 53/14
Steuerfreie Lieferung eines Miteigentumsanteils - Änderung nach § 174 Abs. 4 AO steht
Verböserungsverbot nicht entgegen
Leitsätze
1. Die Veräußerung des Miteigentumsanteils an einer Sache (Buch) kann Gegenstand einer
Lieferung sein (Änderung der Rechtsprechung).
2. Diese Lieferung ist trotz fehlenden Buchnachweises steuerfrei, wenn objektiv feststeht,
dass der veräußerte Gegenstand unmittelbar nach der Veräußerung in einen anderen
Mitgliedstaat gebracht wurde.
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 9.
Oktober 2014 5 K 5225/12 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
1 I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die in 2008 (Streitjahr) erfolgte Veräußerung des
hälftigen Miteigentumsanteils am X-Buch (Buch) an eine in London ansässige Galerie
als innergemeinschaftliche Lieferung steuerfrei ist.
2 Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betreibt einen Handel mit
Kunstgegenständen. Nachdem er am 3. Juli 2008 auf einer Auktion in München das
Buch ersteigert hatte, verkaufte er am 11. Juli 2008 einen Anteil von 50 % an dem
Buch ("50% share") an die in London ansässige Y-Galery (Galerie) zu einem Preis
von 65.484 EUR. In der Rechnung vom 11. Juli 2008 wird weder Umsatzsteuer
ausgewiesen noch enthält die Rechnung einen Hinweis auf eine Steuerfreiheit. Am
30. Oktober 2012 berichtigte der Kläger die Rechnung gemäß § 31 Abs. 5 der
Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung (UStDV) durch die Angabe: "Der Umsatz
ist gemäß § 4 Nr. 1b, § 6a UStG als innergemeinschaftliche Lieferung steuerfrei."
3 Der Galerist JF holte das Buch in München ab und transportierte es im Handgepäck
nach London. Dort wurde das Buch begutachtet und ausgestellt. Im März 2010
verkaufte es die Galerie an eine amerikanische Sammlung.
4 Am 1. Mai 2010 verkaufte der Kläger auch die bei ihm verbliebene (50 %ige)
Beteiligung am Buch zu einem Kaufpreis von 240.000 EUR an die Galerie. Auch
diese Veräußerung behandelte der Kläger als steuerfreie innergemeinschaftliche
Lieferung.
5 Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) führte am 5. November
2010 eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung beim Kläger durch. Nach dem Bericht vom
15. Juli 2011 (Tz. 15) ging die Prüferin davon aus, JF sei im Streitjahr nicht nur ein
Anteil am Werk veräußert, sondern Verfügungsmacht am gesamten Werk eingeräumt
worden, da ihm das Buch zur Verwertung überlassen worden sei. Es sei
offensichtlich, dass JF die Fähigkeit gehabt habe, das Werk zu veräußern. Dies
ergebe sich aus der Tatsache, dass er das Buch bereits vor dem Verkauf des
restlichen Anteils von 50 % an dem Werk weiterveräußert habe und nicht zur
Offenlegung des Kunden verpflichtet sei. Die Veräußerung der Beteiligung an dem
Buch sei im Inland steuerbar, aber steuerpflichtig, weil der Kläger den Belegnachweis
nicht geführt habe. Durch die Rechnung vom 1. Mai 2010 in Höhe von 240.000 EUR
sei es zu einer im Streitjahr zu berücksichtigenden Änderung der
Bemessungsgrundlage gekommen. Diese betrage daher 285.499 EUR.
6 Den Feststellungen der Umsatzsteuer-Sonderprüfung folgend erließ das FA am
18. August 2011 einen geänderten Umsatzsteuerbescheid 2008 und hob den
Vorbehalt der Nachprüfung auf.
7 Dem dagegen eingelegten Einspruch half das FA mit dem Änderungsbescheid vom
29. Juni 2012 (Anlage zur Einspruchsentscheidung) insoweit ab, als es die
Bemessungsgrundlage für die dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Umsätze
um 224.299 EUR (240.000 EUR ./. 15.701 EUR) minderte. Die Änderung der
Bemessungsgrundlage sei nicht im Streitjahr eingetreten, sondern im Zeitraum der
Rechnungserteilung am 1. Mai 2010 und werde daher im 2. Quartal 2010 erfasst. Im
Übrigen wies das FA den Einspruch durch die Einspruchsentscheidung vom 29. Juni
2012 als unbegründet zurück.
8 Im Klageverfahren vertrat das FA --entgegen seiner bisherigen Ansicht-- die
Auffassung, dass es sich bei der Veräußerung der Miteigentumsanteile nicht um
Lieferungen, sondern um sonstige Leistungen handele. Die im Streitjahr erbrachte
Leistung sei nach § 3a Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes in der für das Streitjahr
gültigen Fassung (UStG) an dem Ort ausgeführt worden, von dem aus der
Unternehmer sein Unternehmen betreibe und damit im Inland steuerbar und
steuerpflichtig. Bei der zweiten Veräußerung des Miteigentumsanteils liege der Ort der
Leistung dagegen --nach der gesetzlichen Neuregelung durch § 3a Abs. 2 UStG in
der ab 1. Januar 2010 geltenden Fassung-- in London, sodass diese nicht mehr im
Inland steuerbar sei. Dem Einspruch gegen die entsprechende Steuerfestsetzung
2010 werde daher abgeholfen.
9 Mit dem nach § 174 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO) geänderten Bescheid vom
15. März 2013 erhöhte das FA im Klageverfahren die Umsatzsteuerfestsetzung auf
6.248,37 EUR. Da die sonstige Leistung dem Regelsteuersatz unterliege, betrage die
Bemessungsgrundlage nicht 61.200 EUR, sondern 55.028 EUR.
10 Auf Nachfrage des Finanzgerichts (FG) in der mündlichen Verhandlung vom
9. Oktober 2014 erklärte der Vertreter des FA, dass das direkte Verbringen des
Buches von München nach London nicht bestritten werde. Der
Prozessbevollmächtigte des Klägers gab an, bei der Veräußerung des
Miteigentumsanteils im Jahr 2008 sei bereits angedacht gewesen, dass die Galerie in
London das Buch weiterveräußere.
11 Die Klage hatte aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2015, 166
abgedruckten Gründen Erfolg. Das FG qualifizierte die Veräußerung des
Miteigentumsanteils als Lieferung. Diese sei steuerfrei, weil objektiv feststehe, dass
der veräußerte Miteigentumsanteil nach Großbritannien verbracht wurde.
12 Mit seiner Revision macht das FA die Verletzung von Bundesrecht (§ 3 Abs. 1 und 9,
§ 3a Abs. 1 UStG) geltend. Die Veräußerung des Miteigentumsanteils an dem Buch
stelle keine Lieferung i.S. des § 3 Abs. 1 UStG dar. Bei dem umsatzsteuerrechtlichen
Liefergegenstand müsse es sich um eine einheitliche unteilbare Sache als Ganzes
handeln. Daran fehle es bereits faktisch bei einem Miteigentumsanteil an einem Buch,
da der Liefergegenstand (Anteil am Buch) nicht nach Art, Güte, Beschaffenheit,
Menge oder Gewicht hinreichend konkretisiert werden könne. Das Wesen derartiger
Übertragungsvorgänge liege in der Übertragung eines Rechts und nicht in der
Verschaffung der Verfügungsmacht an einer einheitlichen Sache als Ganzes. Es sei
schwer vorstellbar, wie an einem "virtuellen Gebilde", wie es ein Miteigentumsanteil
darstelle, faktisch die Verfügungsmacht verschafft werden könne.
13 Entgegen den Ausführungen des FG sei dem Urteil des Gerichtshofs der
Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 15. Dezember 2005 C-63/04 Centralan
Property Ltd. (EU:C:2005:773) nicht zu entnehmen, dass die Übertragung eines
Miteigentumsanteils (§§ 1008 ff., 741 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs --BGB--)
zwingend die Lieferung eines Gegenstands darstelle. Dieser Entscheidung habe keine
Übertragung eines Miteigentumsanteils zugrunde gelegen. Vielmehr betreffe die
Entscheidung eine Konstellation im englischen Zivilrecht, die eher dem deutschen
Erbbaurecht als dem Miteigentum vergleichbar sei. Konkret sei es um eine zeitliche
Verteilung der Eigentumsrechte und nicht um gleichzeitige Nutzungsrechte wie beim
Miteigentum nach deutschem Zivilrecht gegangen. Mit diesen Besonderheiten des
Sachverhalts der EuGH-Entscheidung habe sich das FG nicht auseinandergesetzt.
14 Das FA beantragt,
das Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 9. Oktober 2014 5 K 5225/12 aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
15 Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
16 Durch die Übertragung des Miteigentumsanteils und durch die Inbesitznahme des
Buches durch den Erwerber habe die faktische Verfügungsmacht beim Erwerber
gelegen. Der Hinweis des FA, dass es sich bei dem vom EuGH zu entscheidenden
Fall um einen gänzlich anderen Sachverhalt handele, gehe ins Leere. Denn der EuGH
habe entschieden, dass der Begriff der "Lieferung eines Gegenstandes" jede
Übertragung eines Gegenstands durch eine Partei umfasse, die eine andere Partei
ermächtige, über diesen Gegenstand faktisch so zu verfügen, als wäre dieser
Eigentümer, also auch den Miteigentumsanteil.
Entscheidungsgründe
17 II. Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FA war zwar zum Erlass des Umsatzsteuer-
Änderungsbescheids 2008 vom 15. März 2013 berechtigt, die Übertragung des
Miteigentumsanteils an dem Buch stellt jedoch --wie das FG zu Recht entschieden
hat-- eine Lieferung dar, die nach § 4 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. § 6a UStG steuerfrei ist.
18 1. Das FA war nach § 132 AO i.V.m. § 174 Abs. 4 AO --auch noch im Rahmen des
Klageverfahrens-- zum Erlass des Umsatzsteuer-Änderungsbescheids 2008 vom
15. März 2013 berechtigt.
19 a) Die Vorschriften über die Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten gelten
auch während eines finanzgerichtlichen Verfahrens (§ 132 AO), sodass eine nach
dem Gesetz bestehende Änderungsmöglichkeit durch ein schwebendes
finanzgerichtliches Verfahren nicht eingeschränkt wird.
20 b) Diese gesetzliche Änderungsmöglichkeit besteht vorliegend nach § 174 Abs. 4 AO.
Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid
ergangen, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des
Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder
geändert wird, so können nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aus dem Sachverhalt
nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen
steuerlichen Folgerungen gezogen werden.
21 c) Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor:
22 aa) Der "bestimmte Sachverhalt" als maßgeblicher Lebensvorgang besteht vorliegend
in der jeweils hälftigen Veräußerung des Buches in 2008 und 2010. Diesen
Sachverhalt berücksichtigte das FA nicht nur im Streitjahr, sondern erfasste ihn auch
im 2. Quartal 2010 als eine dem ermäßigten Steuersatz unterliegende Lieferung.
23 bb) Die Beurteilung des FA erweist sich insoweit als irrig, als es unter
Berücksichtigung von Abschn. 3.5 Abs. 3 Nr. 2 des Umsatzsteuer-
Anwendungserlasses (UStAE) und der höchstrichterlichen Rechtsprechung (Urteil
des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 27. April 1994 XI R 91-92/92, BFHE 174, 559,
BStBl II 1994, 826, unter II.1., Rz 15, m.w.N.) von einer sonstigen Leistung ausgehen
musste und die Übertragung des Bruchteilseigentums in 2010 dann nicht mehr
steuerbar ist (§ 3a Abs. 2 UStG). Die Umsatzsteuerfestsetzung 2010 wurde daher
aufgrund eines Rechtsbehelfs des Klägers geändert und eine Besteuerung im
Veranlagungszeitraum 2010 unterlassen.
24 cc) Rechtsfolge ist, dass das FA --korrespondierend zur Änderung des sog.
Ausgangsbescheids in 2010-- die richtigen steuerlichen Konsequenzen ziehen und
den streitgegenständlichen Änderungsbescheid erlassen durfte. Die im Verhältnis
zum Ausgangsbescheid richtige steuerliche Konsequenz besteht darin, die
Übertragung des Miteigentumsanteils als sonstige Leistung dem Regelsteuersatz zu
unterwerfen.
25 Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass der Steuerbescheid infolge der
irrigen Beurteilung unrechtmäßig sein muss und daher eine lediglich von der Behörde
angenommene, tatsächlich aber nicht bestehende Unrichtigkeit die Anwendbarkeit
des § 174 Abs. 4 AO nicht rechtfertige (BFH-Urteil vom 4. März 2009 I R 1/08, BFHE
225, 312, BStBl II 2010, 407, Rz 54, unter Hinweis auf von Wedelstädt in
Beermann/Gosch, AO § 174 Rz 95, sowie FG Düsseldorf, Urteil vom 17. März 1998
9 K 1307/95 G, EFG 1998, 1308). Der Fall einer lediglich subjektiven Unrichtigkeit liegt
hier nicht vor, weil das FA mit der bisherigen BFH-Rechtsprechung von einer
sonstigen Leistung ausgehen konnte.
26 dd) Einer Änderung nach § 174 Abs. 4 AO steht das Verböserungsverbot des § 367
Abs. 2 Satz 2 AO nicht entgegen, da es sich bei der Änderung nach § 174 Abs. 4 AO
nicht um eine Entscheidung im Rechtsbehelfsverfahren, sondern um eine
eigenständige Änderung handelt (BFH-Urteile vom 19. Mai 2005 IV R 17/02, BFHE
209, 384, BStBl II 2005, 637, sowie vom 26. Oktober 1989 IV R 25/88, BFHE 159, 37,
BStBl II 1990, 373). Dasselbe gilt für das finanzgerichtliche Verböserungsverbot.
Dieses verwehrt dem FG lediglich, den Kläger bezogen auf die mit der Klage
angegriffene Steuerfestsetzung schlechter zu stellen (BFH-Urteil vom 13. Juni 2012
VI R 92/10, BFHE 237, 302, BStBl II 2013, 139, unter II.4.a, m.w.N.).
27 2. Die Übertragung des hälftigen Miteigentumsanteils an dem Buch stellt eine
Lieferung dar.
28 a) Lieferungen eines Unternehmers sind nach § 3 Abs. 1 UStG Leistungen, durch die
er oder in seinem Auftrag ein Dritter den Abnehmer oder in dessen Auftrag einen
Dritten befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen
(Verschaffung der Verfügungsmacht). Unionsrechtlich beruht § 3 Abs. 1 UStG auf
Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über
das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL), der die Lieferung von
Gegenständen als Übertragung der Befähigung definiert, wie ein Eigentümer über
einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.
29 b) Die bisherige Rechtsprechung des V. und des XI. Senats des BFH (zuletzt im
BFH-Urteil in BFHE 174, 559, BStBl II 1994, 826, unter II.1., Rz 15, davor in den BFH-
Urteilen vom 22. Juni 1967 V 185/63, BFHE 89, 366, BStBl III 1967, 662; vom
18. Januar 1968 V 28/65, BFHE 91, 502, Der Betrieb 1968, 966, und vom 20. Juni
1968 V 116/65, BFHE 93, 291, BStBl II 1968, 788), die Finanzverwaltung (Abschn. 3.5
Abs. 3 Nr. 2 UStAE) sowie Teile des Schrifttums (Birkenfeld in Birkenfeld/Wäger,
Umsatzsteuer-Handbuch, § 94 Rz 161; Husmann in Rau/ Dürrwächter, UStG, § 1
Rz E 77) sind der Auffassung, dass es sich bei der Übertragung eines
Miteigentumsanteils an einem Gegenstand um eine sonstige Leistung handele.
30 c) Unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung und nach Zustimmung des
XI. Senats des BFH (Beschluss vom 16. Dezember 2015 XI ER-S 3/15) zur
Abweichung von seiner bisherigen Rechtsprechung in dem Urteil in BFHE 174, 559,
BStBl II 1994, 826 geht der erkennende Senat davon aus, dass der
Miteigentumsanteil an einem Gegenstand geliefert wird.
31 aa) Eine Beurteilung der Übertragung des Miteigentumsanteils an einem Gegenstand
als sonstige Leistung wäre nicht mit dem Unionsrecht vereinbar: Nach Art. 12 Abs. 1
Buchst. a sowie Art. 135 Abs. 1 Buchst. j und Art. 137 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL
können nicht nur Gebäude, sondern auch "Gebäudeteile" Gegenstand einer Lieferung
sein. Dies setzt voraus, dass in Bezug auf einen Gegenstand gleichzeitig mehrere
Lieferungen bewirkt werden können. Dementsprechend hat der EuGH in dem Urteil
Centralan Property Ltd. (EU:C:2005:773) sowohl die Einräumung eines Besitzrechts
an einem bebauten Grundstück als auch die eng damit verbundene Übertragung des
"Resteigentums" an einen anderen Erwerber jeweils als Lieferung beurteilt (EuGH-
Urteil Centralan Property Ltd., EU:C:2005:773, Rz 26/27 und Rz 64). Die Aufspaltung
der Verfügungsmacht an einem körperlichen Gegenstand mit der Folge, dass
mehrere Personen das Recht innehaben, über einen Gegenstand wie ein Eigentümer
zu verfügen, entspricht damit der Rechtsposition eines Miteigentümers, der nach
§ 747 Satz 1 BGB über seinen Miteigentumsanteil frei verfügen kann. Miteigentum
nach Bruchteilen ist seinem Wesen nach dem Alleineigentum gleichartig, sodass der
Miteigentümer dieselbe Rechtsposition hat wie ein Eigentümer (Urteil des
Bundesgerichtshofs vom 10. Mai 2007 V ZB 6/07, BGHZ 172, 209, unter III.3.a).
32 bb) Bestätigt wird diese Auffassung dadurch, dass das Miteigentum als Bruchteil an
einem körperlichen Gegenstand --ebenso wie das Volleigentum als dessen
wesensgleiches Minus-- im Wirtschaftsleben wie ein körperlicher Gegenstand
behandelt wird (Stadie, UStG, 3. Aufl., § 3 Rz 7; Nieskens in Rau/ Dürrwächter,
Umsatzsteuergesetz, § 3 Rz 1455; Frye in Rau/ Dürrwächter, a.a.O., § 6a Rz 138).
33 cc) Dementsprechend wird im Schrifttum ganz überwiegend die Auffassung vertreten,
dass ein Miteigentumsanteil an einer Sache "Gegenstand" einer Lieferung sein könne
(vgl. Heuermann in Sölch/Ringleb, § 3 Rz 312; Martin in Sölch/Ringleb, § 3 Rz 43;
Nieskens in Rau/Dürrwächter, a.a.O., § 3 Rz 1455; Frye in Rau/Dürrwächter, a.a.O.,
§ 6a Rz 138; Leipold, in Sölch/ Ringleb, § 4 Nr. 28 Rz 3; Leonard in Bunjes, § 3 Rz 39;
Lippross, Umsatzsteuer, 23. Aufl., 2.3.2a; Stadie, a.a.O., § 3 Rz 7; Hahn in
Weymüller, Umsatzsteuergesetz, § 3 Rz 57.1; FG Niedersachsen, Urteil vom
13. Dezember 2012 16 K 305/12, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2014,
163; Ruppe/ Achatz, Kommentar zum österreichischen Umsatzsteuergesetz, 4. Aufl.,
§ 3 Rz 25, unter Hinweis auf das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom 20. Oktober
2004 2000/14/0185, Beilage zur Österreichischen Steuer-Zeitung 2005, 255 zum sog.
time sharing).
34 d) Im Streitfall übertrug die Klägerin der Galerie die Befugnis, über das Buch wie ein
Miteigentümer zu verfügen. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass JF als
Betreiber der Galerie nicht nur Besitz am Buch eingeräumt wurde, sondern diesem
auch gestattet war, das Buch begutachten und kunsthistorisch erforschen zu lassen.
Im Hinblick darauf, dass bereits bei der Veräußerung des Miteigentumsanteils ein
Weiterverkauf durch die Galerie beabsichtigt war, durfte diese das Buch in einem
Verkaufskatalog anbieten und schließlich sogar im März 2010 weiterverkaufen,
obwohl sie erst durch den Kauf des restlichen Anteils von 50 % vom 1. Mai 2010 zur
alleinigen Eigentümerin am Buch wurde.
35 3. Bei der Veräußerung des hälftigen Miteigentumsanteils handelt es sich, wie das FG
zu Recht entschieden hat, um eine nach § 4 Abs. 1 Buchst. b UStG i.V.m. § 6a UStG
steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung.
36 a) Nach § 4 Nr. 1 Buchst. b UStG i.V.m. § 6a Abs. 1 Satz 1 UStG ist eine
innergemeinschaftliche Lieferung steuerfrei, wenn die folgenden Voraussetzungen
erfüllt sind:
"1. Der Unternehmer oder der Abnehmer hat den Gegenstand der Lieferung in das
übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet,
2. der Abnehmer ist
a) ein Unternehmer, der den Gegenstand der Lieferung für sein Unternehmen
erworben hat, ...
und
3. der Erwerb des Gegenstands der Lieferung unterliegt beim Abnehmer in einem
anderen Mitgliedstaat den Vorschriften der Umsatzbesteuerung."
37 Unionsrechtlich beruht die Steuerfreiheit im Streitjahr auf Art. 138 MwStSystRL (vor
dem 1. Januar 2007: Art. 28c Teil A Buchst. a Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie
77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer --Richtlinie
77/388/EWG--). Danach befreien die Mitgliedstaaten die Lieferungen von
Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach
Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt
oder befördert werden von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen anderen
Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt wird,
der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der
Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt.
38 b) Vorliegend hat JF im Auftrag der Galerie das Buch in München abgeholt und es im
Juli 2008 nach London gebracht. Die Galerie ist gerichtsbekannt seit 1970 in
Großbritannien als Unternehmerin tätig. Schließlich unterliegt der Erwerb des Buches
auch nach den (harmonisierten) Vorschriften der Erwerbsbesteuerung in
Großbritannien (Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i MwStSystRL, vor dem 1. Januar 2007:
Art. 28a Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 77/388/EWG). Hingegen ist nicht erforderlich,
dass der innergemeinschaftliche Erwerb tatsächlich besteuert worden ist (BFH-Urteil
vom 8. November 2007 V R 72/05, BFHE 219, 422, BStBl II 2009, 55, unter Hinweis
auf das EuGH-Urteil Teleos vom 27. September 2007 C-409/04 u.a., EU:C:2007:548,
Rz 69 ff.).
39 c) Der Unternehmer hat die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 UStG gemäß § 6a
Abs. 3 UStG i.V.m. §§ 17a ff. UStDV beleg- und buchmäßig nachzuweisen (BFH-
Urteil vom 19. März 2015 V R 14/14, BFHE 250, 248, BStBl II 2015, 912, sowie vom
14. November 2012 XI R 8/11, BFH/NV 2013, 596). Das FG ist in dem angegriffenen
Urteil davon ausgegangen, dass der Belegnachweis erbracht wurde, während
Feststellungen dazu fehlten, ob der Kläger die Voraussetzungen der Steuerbefreiung
einschließlich der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des Abnehmers
ordnungsgemäß i.S. von § 17c Abs. 2 UStDV aufgezeichnet habe, sodass offenbleibt,
ob auch der Buchnachweis erbracht wurde.
40 d) Der Senat sieht gleichwohl von einer Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung
an das FG zur Nachholung der fehlenden Feststellungen ab, weil das Vorliegen der
Voraussetzungen für die Steuerbefreiung (§ 6a Abs. 1 UStG) objektiv feststeht.
41 aa) Nach der Rechtsprechung des EuGH und der nunmehr ständigen
Rechtsprechung des BFH sind die Nachweispflichten keine materiellen
Voraussetzungen für die Befreiung als innergemeinschaftliche Lieferung. Trotz
Nichtvorliegens der formellen Nachweispflichten ist eine Lieferung steuerfrei, wenn die
Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung unbestreitbar feststehen
(EuGH-Urteil Collée vom 27. September 2007 C-146/05, EU:C:2007:549, Rz 31 und
33; BFH-Urteile in BFHE 250, 248, BStBl II 2015, 912; in BFHE 219, 422, BStBl II
2009, 55; vom 24. Juli 2014 V R 44/13, BFHE 246, 207, BStBl II 2014, 955; vom
21. Mai 2014 V R 34/13, BFHE 246, 232, BStBl II 2014, 914; vom 14. November 2012
XI R 17/12, BFHE 239, 516, BStBl II 2013, 407; vom 12. Mai 2011 V R 46/10, BFHE
234, 436, BStBl II 2011, 957).
42 bb) So liegen die Verhältnisse im Streitfall: Das Buch wurde ausweislich der
Exportbestätigung von JF von diesem im Handgepäck nach London gebracht, dort
von einem Papierexperten begutachtet, in der Galerie von Februar bis Mai 2010
ausgestellt und schließlich von dort aus an eine amerikanische Sammlung verkauft.
Dieser Ablauf wird auch vom FA nicht in Zweifel gezogen. Ausweislich des Protokolls
der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2014 hat es daher auf Nachfrage des
Gerichts erklärt, dass das direkte Verbringen des Buches von München nach London
nicht bestritten werde. Da auch die Unternehmereigenschaft der Galerie und die
Erwerbsbesteuerung in Großbritannien feststehen, liegen die Voraussetzungen des
§ 6a Abs. 1 UStG unstrittig vor.
43 4. Der Senat entscheidet durch Urteil, da die Beteiligten auf eine mündliche
Verhandlung verzichtet haben (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 90 Abs. 2 FGO).
44 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.