Urteil des BFH vom 02.12.2015

Organschaft mit Tochterpersonengesellschaft - teleologische Extension

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 2.12.2015, V R 25/13
Organschaft mit Tochterpersonengesellschaft - teleologische Extension
Leitsätze
Neben einer juristischen Person kann auch eine Personengesellschaft in das Unternehmen
des Organträgers eingegliedert sein, wenn Gesellschafter der Personengesellschaft neben
dem Organträger nur Personen sind, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG in das Unternehmen
des Organträgers finanziell eingegliedert sind (Änderung der Rechtsprechung).
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts München vom 13. März
2013 3 K 235/10 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht München zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
Tatbestand
1 I. Streitig ist, ob die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine
Aktiengesellschaft, als Organträger --ebenso wie eine andere Tochtergesellschaft--
nichtsteuerbare Leistungen an zwei Tochter-Kommanditgesellschaften (KGs) als
Organgesellschaften erbracht hat.
2 Die Klägerin war im Streitjahr 2001 Alleingesellschafterin der O-GmbH und der VuB-
GmbH, die ab 1. Februar 2001 als B-GmbH firmierte. Die O-GmbH erbrachte als
Servicegesellschaft Catering- und Reinigungsleistungen.
3 Geschäftsführer der O-GmbH war Herr K. K war zudem vertretungsbefugter
Generalbevollmächtigter der Klägerin. Geschäftsführer der B-GmbH war Herr S. S
war bei der Klägerin angestellt.
4 Die Klägerin war darüber hinaus Kommanditistin mit einem Kapitalanteil von 100 %
bei der Kb-KG und der Gf-KG. Komplementär ohne Geschäftsanteil war jeweils die B-
GmbH. Die Kb-KG war im Vorjahr aus einer formwechselnden Umwandlung der Kb-
GmbH entstanden. Ebenso war es bei der Gf-KG, die Rechtsnachfolgerin der Gf-
GmbH war.
5 Beide KGs betrieben Altenheime und erbrachten dabei Leistungen, die sie als
umsatzsteuerfrei ansahen. Die Klägerin und ihre Tochtergesellschaft O-GmbH
erbrachten Leistungen gegen Entgelt an beide KGs.
6 Durch Gesellschafterbeschlüsse vom 1. Februar 2001 brachte die Klägerin ihre
Anteile an beiden KGs in die B-GmbH ein, wodurch es zu einer sog. Anwachsung des
Gesellschaftsvermögens beider KGs bei der B-GmbH kam.
7 Im Anschluss an eine Außenprüfung ging der Beklagte und Revisionskläger (das
Finanzamt --FA--) davon aus, dass die Klägerin und die mit ihr organschaftlich nach
§ 2 Abs. 2 Nr. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) verbundene O-GmbH
umsatzsteuerpflichtige Leistungen an die beiden KGs erbracht haben. Aufgrund der
im Vorjahr erfolgten formwechselnden Umwandlungen seien die KGs --anders als die
jeweilige GmbH vor der Umwandlung-- nicht mehr als Organgesellschaften
anzusehen. Daher lägen umsatzsteuerpflichtige Leistungen der Klägerin und ihrer
Organgesellschaft, der O-GmbH, an die beiden KGs vor. Der Einspruch hatte keinen
Erfolg.
8 Demgegenüber gab das Finanzgericht (FG) in dem in Entscheidungen der
Finanzgerichte (EFG) 2013, 1434 veröffentlichten Urteil der Klage statt. In Bezug auf
die beiden KGs lägen die Eingliederungsvoraussetzungen in finanzieller,
wirtschaftlicher und organisatorischer Hinsicht vor. Dass die Organgesellschaft nach
§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG juristische Person sein müsse, sei unbeachtlich, da diese
Vorschrift unionsrechtskonform dahingehend zu erweitern sei, dass es sich bei der
Organgesellschaft auch um eine Personengesellschaft in der hier vorliegenden
Rechtsform der GmbH & Co. KG handeln könne. Es sei mit dem Grundsatz der
Rechtsformneutralität in seiner Ausprägung durch die Rechtsprechung des
Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) nicht vereinbar, die Wirkung der
Organschaft auf juristische Personen als Organgesellschaft zu beschränken. Eine
derartige Differenzierung sei auch nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten
Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie
77/388/EWG) unzulässig.
9 Hiergegen wendet sich das FA mit der Revision, die es auf die Verletzung materiellen
Rechts stützt. Nach nationalem Recht seien die Voraussetzungen einer Organschaft
nicht erfüllt. Die Einschränkung des Kreises der Organgesellschaften auf juristische
Personen sei auch nicht unionsrechtswidrig. Der nationale Gesetzgeber dürfe
Typisierungen vornehmen.
10 Der Senat hat mit Beschluss vom 23. April 2014 das Ruhen des Verfahrens bis zu
einer Entscheidung des EuGH in der verbundenen Rechtssache C-108/14 Larentia +
Minerva und C-109/14 Marenave Schiffahrt (Vorlagebeschlüsse des
Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 11. Dezember 2013 XI R 17/11, BFHE 244, 79, BStBl
II 2014, 417, und vom 11. Dezember 2013 XI R 38/12, BFHE 244, 94, BStBl II 2014,
428) angeordnet.
11 Mit Urteil vom 16. Juli 2015 (EU:C:2015:496) hat der EuGH in dieser verbundenen
Rechtssache wie folgt entschieden:
12 "2. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die
Richtlinie 2006/69 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer
nationalen Regelung entgegensteht, die die in dieser Bestimmung vorgesehene
Möglichkeit, eine Gruppe von Personen zu bilden, die als ein
Mehrwertsteuerpflichtiger behandelt werden können, allein den Einheiten
vorbehält, die juristische Personen sind und mit dem Organträger dieser Gruppe
durch ein Unterordnungsverhältnis verbunden sind, es sei denn, dass diese
beiden Anforderungen Maßnahmen darstellen, die für die Erreichung der Ziele
der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der
Vermeidung von Steuerhinterziehung oder -umgehung erforderlich und geeignet
sind, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
3. Bei Art. 4 Abs. 4 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie
2006/69 geänderten Fassung kann nicht davon ausgegangen werden, dass er
unmittelbare Wirkung hat, so dass Steuerpflichtige dessen Inanspruchnahme
gegenüber ihrem Mitgliedstaat geltend machen könnten, falls dessen
Rechtsvorschriften nicht mit dieser Bestimmung vereinbar wären und nicht in mit
ihr zu vereinbarender Weise ausgelegt werden könnten."
13 Das FA macht geltend, der Begriff der juristischen Person sei nicht auslegungsfähig.
Das FG habe sich nicht mit der Frage befasst, ob eine Gleichstellung mit einer
juristischen Person möglich sei, sondern sich damit begnügt, dass eine KG
eingliederungsfähig sei. Die Beschränkung auf juristische Personen diene der
Vermeidung der Steuerhinterziehung und der Steuerumgehung. Erforderlich seien
Durchgriffsmöglichkeiten. Die steuerlich für die Organschaft verantwortliche Person
müsse in der Lage sein, die Geschäfte der Gruppe zu steuern.
14 Das FA beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
15 Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
16 Die Einbeziehung der Tochterpersonenhandelsgesellschaft sei insbesondere aus
Gründen des Unionsrechts und unter Berücksichtigung des Neutralitätsgrundsatzes
geboten. Das nationale Recht sei richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass
eine Differenzierung zwischen juristischer Person und sonstigen Einheiten nicht
möglich sei. Maßgeblich seien die kapitalistische Struktur der GmbH & Co. KG und
deren Nähe zur juristischen Person. Der Wortlaut setze der richtlinienkonformen
Auslegung keine Grenzen. Dabei sei auch der Begriff des Zusammenschlusses in § 2
Abs. 2 Nr. 1 UStG zu berücksichtigen. Diese Vorschrift sei auf
Personengesellschaften anwendbar. Auf eine richtlinienkonforme Extension oder eine
Gesetzesanalogie komme es insoweit nicht an. Die GmbH & Co. KG sei im Rahmen
von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG einer juristischen Person gleichzusetzen. Der
Gesetzgeber habe das Ziel der Gleichbehandlung nicht aus dem Blick verloren.
Gleiches ergebe sich unter den Gesichtspunkten einer Rechtsfortbildung oder einer
Analogie. Vorzugswürdig sei eine Gesamtanalogie zu beiden Alternativen des § 2
Abs. 2 Nr. 2 UStG. Die hierfür erforderliche planwidrige Regelungslücke ergebe sich
aus der unzureichenden Umsetzung des Unionsrechts. Dem stehe das
Rechtsstaatsprinzip nicht entgegen, da es sich um eine den Steuerpflichtigen
begünstigende Regelung handele. Eine teleologische Extension spreche für ihre
Rechtsauffassung. Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erweitere denn
Begriff der juristischen Person. Die Beschränkung auf juristische Personen
verhindere weder missbräuchliche Praktiken noch Steuerhinterziehung oder
Steuerumgehung. Dass eine Unterordnung diesen Zielen diene, sei nicht ersichtlich.
Eine enge Verbundenheit reiche aus. Diese Verbundenheit liege vor. Sie sei einzige
Gesellschafterin bei allen Gesellschaften gewesen und habe sich bei diesen in den
Gesellschafterversammlungen jederzeit durchsetzen können.
Entscheidungsgründe
17 II. Die Revision des FA ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und die
Sache an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung
--FGO--). § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG beschränkt die Organschaft auf die Eingliederung
juristischer Personen. Dies ist wegen des bei Personengesellschaften grundsätzlich
bestehenden Einstimmigkeitsprinzips auch sachlich gerechtfertigt. Eine aus Gründen
der Rechtsformneutralität erforderliche Erweiterung von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG ist mit
Blick auf die mit dieser Vorschrift getroffene gesetzgeberische Grundentscheidung
nur in engem Umfang und deshalb lediglich bei den Personengesellschaften möglich,
bei denen Gesellschafter der Personengesellschaft neben dem Organträger nur
Personen sind, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG in das Unternehmen des
Organträgers finanziell eingegliedert sind. Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem
Unionsrecht. Im zweiten Rechtsgang sind weitere Feststellungen zum
Gesellschafterkreis der Personengesellschaften zu treffen.
18 1. Die Organschaft setzt nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG die Eingliederung einer
juristischen Person voraus und schließt damit die Personengesellschaft aus dem
Kreis der eingliederbaren Personen aus.
19 a) Nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG wird die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit
nicht selbständig ausgeübt, wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der
tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das
Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft).
20 Die Organschaft dient der Verwaltungsvereinfachung (BTDrucks V/48 § 2;
BTDrucks IV/1590, S. 36; zum gesetzlichen Festhalten an der vorkonstitutionellen
Organschaft des UStG 1934, RStBl 1934, 1549 ff.; zum Vereinfachungszweck vgl.
Stadie, in Rau/Dürrwächter, UStG, § 2 Rz 784, und zum Unionsrecht EuGH-Urteil
Larentia + Minerva (EU:C:2015:496, Rz 41). Da anhand der Organschaft über die
Person des Steuerschuldners zu entscheiden ist, müssen die Voraussetzungen
hierfür rechtssicher ausgestaltet sein (BFH-Urteil vom 22. April 2010 V R 9/09, BFHE
229, 433, BStBl II 2011, 597, unter II.3.b bb, und zum Unionsrecht EuGH-Urteil
Tomoiagă vom 9. Juli 2015, C-144/14, EU:C:2015:452, Rz 34 f.). Das verhindert
rechtliche Irrtümer und damit verbundene Steuerumgehungen (vgl. allgemein EuGH-
Urteil Larentia + Minerva, EU:C:2015:496, Rz 41).
21 b) § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG definiert den Begriff der juristischen Person nicht.
22 aa) Mangels eigenständiger steuerrechtlicher Begriffsbildung ist das zivil- und
gesellschaftsrechtliche Verständnis der juristischen Person maßgeblich. § 2 Abs. 2
Nr. 2 UStG verwendet mit der "juristischen Person" eine im Zivilrecht geläufige
Terminologie und nimmt den darin ausgedrückten Tatbestand auf (vgl. BVerfG-
Beschluss vom 27. Dezember 1991 2 BvR 72/90, BStBl II 1992, 212, unter 1.a cc)).
Juristische Person ist daher eine Körperschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit, wie
etwa eine GmbH (vgl. § 13 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit
beschränkter Haftung --GmbHG--) oder eine Aktiengesellschaft (§ 1 Abs. 1 des
Aktiengesetzes --AktG--).
23 bb) Nicht zu den juristischen Personen gehören Personenhandelsgesellschaften wie
OHG oder KG. Diese können zwar unter ihrer Firma Rechte erwerben und
Verbindlichkeiten eingehen (§§ 124 Abs. 1, 161 Abs. 2 des Handelsgesetzbuchs --
HGB--), begründen diese aber nicht aufgrund einer eigenen Rechtspersönlichkeit (vgl.
§ 1 Abs. 1 AktG).
24 Hieran hat sich durch das gewandelte Verständnis zur Rechtsfähigkeit der
Personengesellschaft nichts geändert. Zwar hat der Bundesgerichtshof (BGH) seine
frühere Rechtsprechung aufgegeben, nach der die Personenhandelsgesellschaft kein
gegenüber ihren Gesellschaftern verschiedenes Rechtssubjekt war, so dass "Träger
der im Namen der Gesellschaft begründeten Rechte und Pflichten" die
"gesamthänderisch verbundenen Gesellschafter" waren (so z.B. noch BGH-Urteil
vom 24. Januar 1990 IV ZR 270/88, BGHZ 110, 127). Demgegenüber erkennt der
BGH nunmehr die Rechtsfähigkeit der (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts an,
soweit sie durch Teilnahme am Rechtsverkehr eigene Rechte und Pflichten
begründet (BGH-Urteil vom 29. Januar 2001 II ZR 331/00, BGHZ 146, 341, Leitsatz;
vgl. zur Personenhandelsgesellschaft BGH-Urteil vom 5. März 2008 IV ZR 89/07,
BGHZ 175, 374, unter II.2.a(3)). Wie der BGH aber zugleich ausdrücklich klargestellt
hat, wird die Personengesellschaft durch die Anerkennung dieser Rechtsfähigkeit
nicht zur juristischen Person (BGH-Urteil in BGHZ 146, 341, unter A.I.4., Rz 13; vgl.
auch EuGH-Urteil Larentia + Minerva, EU:C:2015:496, Rz 37).
25 c) Die Eingliederung einer Personengesellschaft kommt nicht entsprechend früherer
BFH-Rechtsprechung aufgrund eines organschaftsähnlichen Verhältnisses in
Betracht.
26 aa) Der BFH ist in seiner Rechtsprechung zunächst davon ausgegangen, dass
zwischen einem Gesellschafter und seiner Personenhandelsgesellschaft ein sog.
organschaftsähnliches Verhältnis bestehen könne. Die sich hieraus ergebende
Unselbständigkeit beruhte auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 UStG, wobei sich der BFH für die
Bestimmung der Unselbständigkeit an § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG und damit an den
Voraussetzungen der finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen
Eingliederung orientierte (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 19. November 1964 V 245/61 S,
BFHE 81, 506, BStBl III 1965, 182).
27 bb) Diese Rechtsprechung hat der erkennende Senat später aufgegeben und
entschieden, dass eine Personengesellschaft des Handelsrechts nicht i.S. von § 2
Abs. 2 UStG unselbständig sein kann (BFH-Urteil vom 8. Februar 1979 V R 101/78,
BFHE 127, 267, BStBl II 1979, 362). Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die
Erwägungsgründe des historischen Gesetzgebers, nach denen der "Begriff der
Organschaft ... nur noch bei juristischen Personen anwendbar" ist, entschied der
Senat, dass eine Ausdehnung des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG auf "nichtrechtsfähige
Personenvereinigungen" dem Wortlaut des Gesetzes und dem Willen des
Gesetzgebers widerspricht.
28 cc) Der erkennende Senat hält an seinem Urteil in BFHE 127, 267, BStBl II 1979, 362
im Interesse einer einfachen und rechtssicheren Bestimmung des Steuerschuldners
für den Organträger im Grundsatz weiter fest (vgl. auch zu § 13b UStG BFH-Urteil
vom 22. August 2013 V R 37/10, BFHE 243, 20, BStBl II 2014, 128, unter II.3.a):
29 (1) Einfach und rechtssicher kann über die finanzielle Eingliederung als
Voraussetzung für die Organschaft entschieden werden, wenn der Organträger in der
Weise an der Organgesellschaft beteiligt ist, dass er seinen Willen durch
Mehrheitsbeschluss in der Gesellschafterversammlung durchsetzen kann (ständige
Rechtsprechung, vgl. z.B. zuletzt BFH-Urteil vom 8. August 2013 V R 18/13, BFHE
242, 433, unter II.2.a, m.w.N. zur BFH-Rechtsprechung). Maßgeblich ist im Regelfall
die einfache Stimmenmehrheit bei der Beschlussfassung der Gesellschafter, so dass
eine Beteiligung von mehr als 50 v.H. der Stimmrechte in der Organgesellschaft
ausreicht, sofern keine höhere qualifizierte Mehrheit für die allgemeine
Beschlussfassung in der Organgesellschaft erforderlich ist (BFH-Urteil in BFHE 229,
433, BStBl II 2011, 597, unter II.2., m.w.N. zur BFH-Rechtsprechung). Weicht die
kapitalmäßige Beteiligung von den Stimmrechten ab (z.B. aufgrund "stimmrechtsloser
Geschäftsanteile" bei der GmbH oder aufgrund von "Vorzugsaktien" ohne Stimmrecht
bei der Aktiengesellschaft), ist auf das Verhältnis der gesellschaftsrechtlichen
Stimmrechte abzustellen. Im Interesse der Rechtsklarheit sind
Stimmbindungsvereinbarungen oder Stimmrechtsvollmachten dabei grundsätzlich
ohne Bedeutung. Dementsprechend hat der BFH eine finanzielle Eingliederung auf der
Grundlage derartiger Rechtsgeschäfte in der Vergangenheit nicht bejaht (vgl. BFH-
Urteile vom 22. November 2001 V R 50/00, BFHE 197, 319, BStBl II 2002, 167, unter
II.1.b, und vom 30. April 2009 V R 3/08, BFHE 226, 144, BStBl II 2013, 873, unter
II.2.b cc). "Stimmbindungsvereinbarungen" und "Stimmrechtsvollmachten" können bei
der Prüfung der finanziellen Eingliederung somit nur zu berücksichtigen sein, wenn sie
sich ausschließlich aus Regelungen der Satzung wie etwa bei einer Einräumung von
Mehrfachstimmrechten ("Geschäftsanteil mit Mehrstimmrecht") ergeben.
30 (2) Während über die finanzielle Eingliederung einer juristischen Person rechtssicher,
einfach und ohne Nachweisschwierigkeiten entschieden werden kann, trifft dies auf
die Personengesellschaft nicht zu:
31 (a) Das gesellschaftsrechtliche Stimmrecht beruht bei juristischen Personen auf den
Regelungen der notariell zu beurkundenden Satzung (vgl. zur GmbH § 2 Abs. 1 und
§ 3 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG und zur Aktiengesellschaft § 23 und §§ 8 ff., insbesondere
§ 12 AktG). Die den Gesellschaftern obliegenden Entscheidungen sind bei den
juristischen Personen nach dem Mehrheitsprinzip zu treffen (§ 47 Abs. 1 GmbHG und
§ 133 Abs. 1 AktG). Daher ist es dem Gesellschafter, der über die Mehrheit der
Stimmrechte verfügt, möglich, seinen Willen in der Gesellschaft durchzusetzen.
32 Die Übertragung von Geschäftsanteil und Aktie und des mit ihnen verbundenen
Stimmrechts ist zudem rechtssicher nachvollziehbar (vgl. bei der GmbH § 15 Abs. 3
GmbHG und bei der Aktiengesellschaft § 67 AktG und die Inhaberschaft am
Wertpapier). Zudem bestehen für Mehrheitsbeteiligungen Meldepflichten (vgl. § 20
Abs. 4 AktG).
33 (b) Demgegenüber gilt bei den Personengesellschaften das Einstimmigkeitsprinzip
(vgl. § 709 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs --BGB-- zur GbR, § 119 Abs. 1
HGB zur OHG und § 161 Abs. 2 HGB zur KG). Ein hiervon abweichendes
Mehrheitsprinzip steht einer Mehrheitsentscheidung durch nur einen Gesellschafter
entgegen, da dann im Zweifel nach der Zahl der Gesellschafter zu entscheiden sein
soll (vgl. § 709 Abs. 2 BGB, § 119 Abs. 2 HGB). Selbst wenn aufgrund darüber hinaus
abweichender Regelungen ein Gesellschafter Mehrheitsentscheidungen durchsetzen
kann, bestehen zumindest Nachweisschwierigkeiten. Denn abgesehen von
Sonderfällen wie etwa der Einbringung von Grundstücken in eine Gesamthand (vgl.
§ 311b BGB) besteht für den Abschluss und die Änderung von
Gesellschaftsverträgen bei Personengesellschaften keinerlei Formzwang.
Gesellschaftsvertragliche Stimmrechtsvereinbarungen, die von den §§ 709 BGB und
119 HGB abweichen, können daher auch mündlich getroffen und geändert werden
(zur formlosen Änderung trotz Schriftformklausel vgl. z.B. BFH-Urteil vom 24. Juli
1996 I R 115/95, BFHE 181, 281, BStBl II 1997, 138, Leitsätze 1 und 2).
34 Im Kontext des nationalen Rechts, in dem über die Organschaft ohne besonderes
Feststellungsverfahren mit Rückwirkung für alle unter Vorbehalt der Nachprüfung
(§ 164 der Abgabenordnung) stehenden Besteuerungszeiträume der Vergangenheit in
jedem Stadium des Besteuerungs- oder Rechtsbehelfsverfahrens neu entschieden
werden kann, besteht damit bei Personengesellschaften im Allgemeinen keine
hinreichende Grundlage, um die Person des Steuerschuldners einfach und
rechtssicher bestimmen zu können (vgl. auch die Grundsatzentscheidung des
Senats vom 2. Dezember 2015 V R 15/14, von der ein anonymisierter Abdruck
beiliegt). Über die Organschaft und die mit ihr --wie im Streitfall-- erstrebten günstigen
Rechtsfolgen kann auch aus Gründen der allgemeinen Missbrauchsprävention nicht
mit Wirkung für die Vergangenheit nach Maßgabe von Vereinbarungen entschieden
werden, die nahestehende Personen z.B. mündlich getroffen haben (wollen).
Unbeschadet ihrer zivilrechtlichen Wirksamkeit folgt daraus nicht, dass sie auch
Grundlage für die Besteuerung sein müssen.
35 Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass an die --aufgrund der Organschaft vom
Zivilrecht abweichende-- Feststellung des Steuerschuldners höhere Anforderungen zu
stellen sind, als bei der bloßen Prüfung, ob z.B. Leistungen gegen Entgelt i.S. von § 1
Abs. 1 Nr. 1 UStG ausgeführt werden. Denn das nationale Recht (§ 2 Abs. 2 Nr. 2
UStG) und das Unionsrecht (Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG;
Art. 11 MwStSystRL) behandeln die verbundenen Personen zusammen als einen
Steuerpflichtigen, wobei § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG die Steuerpflicht ausschließlich auf
den Organträger verlagert, indem die juristische Person gegenüber dem Organträger
als unselbständig angesehen wird.
36 2. Trotz des vom nationalen Gesetzgeber grundsätzlich vorgesehenen Ausschlusses
der Personengesellschaft aus dem Kreis der eingliederungsfähigen Personen, kann
die Personengesellschaft ausnahmsweise auf der Grundlage einer teleologischen
Erweiterung von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG wie eine juristische Person als eingegliedert
angesehen werden. Erforderlich ist, dass die finanzielle Eingliederung wie bei einer
juristischen Person zu bejahen ist. Dies setzt voraus, dass Gesellschafter der
Personengesellschaft neben dem Organträger nur Personen sind, die nach § 2 Abs. 2
Nr. 2 UStG in das Unternehmen des Organträgers finanziell eingegliedert sind, so
dass die erforderliche Durchgriffsmöglichkeit selbst bei --der stets möglichen--
Anwendung des Einstimmigkeitsprinzips gewährleistet ist.
37 a) "Teleologische Extension" (BFH-Urteil vom 11. Februar 2010 V R 38/08, BFHE
229, 385, BStBl II 2010, 873, unter II.) setzt eine Regelungslücke voraus. Die Norm
muss gemessen an ihrem Zweck unvollständig, d.h. ergänzungsbedürftig sein. Ihre
Ergänzung darf nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf
bestimmte Tatbestände widersprechen. Dass eine gesetzliche Regelung
rechtspolitisch als verbesserungsbedürftig anzusehen ist ("rechtspolitische Fehler"),
reicht nicht aus. Ihre Unvollständigkeit erschließt sich vielmehr aus dem
gesetzesimmanenten Zweck und kann auch bei einem eindeutigen Wortlaut vorliegen
(vgl. BFH-Urteil in BFHE 229, 385, BStBl II 2010, 873, unter II.5.a, und vom
21. Februar 2013 V R 27/11, BFHE 240, 487, BStBl II 2013, 529, unter II.4.b bb,
m.w.N. zur BFH-Rechtsprechung). Die Gesetzeslücke ist in einer dem
Gesetzeszweck, der Entstehungsgeschichte und der Gesetzessystematik
entsprechenden Weise durch Analogie, teleologische Extension oder Reduktion zu
schließen (BFH-Urteil in BFHE 229, 385, BStBl II 2010, 873, unter II.5.a). Dies ist
Aufgabe der Fachgerichte (vgl. z.B. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
3. April 1990 1 BvR 1186/89, BVerfGE 82, 6, Neue Juristische Wochenschrift 1990,
1593, unter C.I.1.).
38 b) Die teleologische Extension einer umsatzsteuerrechtlichen Norm kann auch aus
Gründen des Verfassungsrechts notwendig sein.
39 aa) Nach der Rechtsprechung des BVerfG wie auch des erkennenden Senats ist die
Bindung an die Grundrechte des Grundgesetzes (GG) auch im Bereich der
unionsrechtlich harmonisierten Umsatzbesteuerung zu beachten, soweit das
Unionsrecht "den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum einräumt" (BVerfG-
Beschluss vom 20. März 2013 1 BvR 3063/10, Umsatzsteuer-Rundschau --UR--
2013, 468, unter III.1.; BFH-Urteil vom 22. Juli 2010 V R 4/09, BFHE 231, 260, BStBl
II 2013, 590, unter II.4.e).
40 Daher sind im Bereich der Organschaft auch verfassungsrechtliche Vorgaben zu
beachten. Zwar beruht die Organschaft unionsrechtlich auf Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2
der Richtlinie 77/388/EWG. Danach steht es jedem Mitgliedstaat frei, im Inland
ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige
finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander
verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln. Nach der
Rechtsprechung des EuGH bedarf die sich aus der Richtlinie ergebende
Voraussetzung der engen Verbindungen aber einer Präzisierung auf nationaler Ebene
durch nationale Rechtsvorschriften, die den konkreten Umfang solcher Verbindungen
bestimmen (EuGH-Urteil Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt,
EU:C:2015:496, Rz 50).
41 Übt der nationale Gesetzgeber daher die sich aus Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der
Richtlinie 77/388/EWG ergebende Regelungsermächtigung aus, hat er somit im
Rahmen der zu seinen Gunsten bestehenden Regelungs- und
Präzisierungsbefugnisse die allgemeinen verfassungsrechtlichen Bindungen zu
beachten.
42 bb) Zielt der "umsatzsteuerrechtliche Belastungsgrund ... auf die umsatzsteuerliche
Erfassung jedes Unternehmers, mag dieser in der Rechtsform einer juristischen
Person, in der Rechtsform einer gewerblichen Personengesellschaft oder als
freiberuflich Tätiger Umsätze erbringen (...)" (BVerfG-Beschluss in UR 2013, 468,
unter III.2.a aa), so ist es gleichwohl mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, wenn z.B. nur
Freiberufler-Personenunternehmen, die weder buchführungspflichtig sind noch
freiwillig Bücher führen, nicht aber auch buchführungspflichtige Freiberufler-
Kapitalgesellschaften die Vorteile der Ist-Besteuerung in Anspruch nehmen können.
Denn deren Anwendungsbereich beruht nicht auf "einer allein rechtsformbezogenen
Differenzierung", sondern hängt nach § 20 Satz 1 UStG maßgebend davon ab, ob die
Unternehmen Bücher führen (BVerfG-Beschluss in UR 2013, 468, unter III.3. zum
Senatsurteil in BFHE 231, 260, BStBl II 2013, 590, unter II.3.b cc 4., in Abgrenzung
zum BFH-Urteil vom 22. Juli 1999 V R 51/98, BFHE 189, 211, BStBl II 1999, 630).
43 So wie das Gebot einer rechtsformneutralen Besteuerung unter gleichzeitiger
Berücksichtigung des Gesetzeszwecks den Anwendungsbereich einer gesetzlichen
Vorschrift einzuschränken vermag (vgl. das Senatsurteil in BFHE 231, 260, BStBl II
2013, 590, unter II.3.b cc (4), zur Einschränkung von § 20 Abs. 1 Nr. 3 UStG a.F. auf
die Unternehmer, die auch freiwillig keine Bücher führen), kann es --umgekehrt-- den
Regelungsbereich einer nach ihrem Gesetzeswortlaut zu eng gefassten Norm
erweitern.
44 c) Danach ist § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG teleologisch erweiternd auszulegen:
45 aa) § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG stellt mit dem Erfordernis der Eingliederung einer
juristischen Person nur vordergründig auf ein rechtsformbezogenes Merkmal ab, das
aber nach dem Normzweck dieser Regelung dazu dient, die Voraussetzungen der
Organschaft leicht und einfach festzustellen und damit zu der mit der Organschaft
angestrebten Verwaltungsvereinfachung und Missbrauchsvermeidung (s. oben unter
II.1.c cc (2) (b)) beiträgt. Dementsprechend trifft das Gesetz in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG
grundsätzlich eine sachlich vertretbare Unterscheidung danach, ob die
einzugliedernde Gesellschaft eine juristische Person ist und verstößt deshalb nicht
gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
46 Erlauben die mit § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG verfolgten Regelungsziele unter
Berücksichtigung der Besonderheiten des nationalen Gesellschaftsrechts im
Allgemeinen die Begrenzung auf eingegliederte juristische Personen und damit einen
Ausschluss der Personengesellschaft (s. oben II.1.c cc (2) (b)), rechtfertigt dies nicht
den Ausschluss der Personengesellschaften, bei denen das dort grundsätzlich
bestehende Einstimmungsprinzip (s. oben II.1.c cc (2) (b)) von vornherein ohne
Bedeutung ist und daher bereits abstrakt einer finanziellen Eingliederung nicht
entgegenstehen kann. Ein Ausschluss auch derartiger Personengesellschaften ist mit
dem --auf die Beschränkung juristischer Personen verfolgten-- Regelungsziel des § 2
Abs. 2 Nr. 2 UStG nicht zu vereinbaren. Damit liegt eine Regelungslücke vor, da ein
bestimmter Sachbereich zwar gesetzlich geregelt ist, aber keine Vorschrift für die
Fälle enthält, die nach dem Grundgedanken und dem System des Gesetzes hätten
mitgeregelt werden müssen. Es handelt sich daher um eine Regelung, die gemessen
an ihrem Zweck unvollständig und ergänzungsbedürftig ist.
47 bb) Die bei § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG bestehende Gesetzeslücke ist entsprechend dem
Gesetzeszweck in der Weise zu schließen, dass § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG erweiternd
auch auf die Personengesellschaft anzuwenden ist, bei der neben dem Organträger
Gesellschafter nur Personen sind, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG in das
Unternehmen des Organträgers finanziell eingegliedert sind (Änderung der
Rechtsprechung). Trifft dies auf alle Gesellschafter der Personengesellschaft zu,
kann der Organträger seinen Willen durchsetzen, so dass dem allgemeinen
Einstimmigkeitsprinzip bei der Personengesellschaft (s. oben II.1.c cc (2) (b)) von
vornherein keine Bedeutung zukommt. Denn sind die Mitgesellschafter bei der
Personengesellschaft finanziell in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert,
ist das bei der Personengesellschaft grundsätzlich bestehende
Einstimmigkeitserfordernis allgemein ungeeignet, einer Willensdurchsetzung des
Organträgers bei der Organgesellschaft entgegenzustehen. Ist neben dem
Organträger z.B. eine Personengesellschaft Mitgesellschafter, kommt es
dementsprechend darauf an, dass auch in Bezug auf deren Gesellschafter eine
finanzielle Eingliederung ausnahmslos --in einer bis zum Organträger reichenden
Organkette-- zu bejahen ist.
48 Dies steht nicht im Widerspruch zu der vom Gesetzgeber beabsichtigten
Beschränkung der Organschaft auf bestimmte Tatbestände, sondern erweitert den
Anwendungsbereich des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG nur unter strikter Beachtung der
dieser Vorschrift zugrunde liegenden Wertungen der Rechtssicherheit,
Verwaltungsvereinfachung und Missbrauchsvermeidung.
49 cc) Der erkennende Senat weicht damit nicht von der Rechtsprechung des XI. Senats
des BFH ab. Soweit dieser in seinen Vorlagebeschlüssen in BFHE 244, 79, BStBl II
2014, 417, und in BFHE 244, 94, BStBl II 2014, 428 davon ausgegangen ist, dass eine
Personengesellschaft nicht Organgesellschaft sein kann, haben diese
Entscheidungen, denen kein abschließender Charakter zukommt, keine
Bindungswirkung (vgl. z.B. Sunder-Plassmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler,
Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 11 FGO Rz 28a; Brandis in Tipke/Kruse,
Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 11 FGO Rz 4). Dies gilt jedenfalls dann,
wenn es um die Beurteilung im Anschluss an das auf die BFH-Vorlage ergangene
EuGH-Urteil geht.
50 3. Eine weitergehende Organschaft, die allgemein eine Eingliederung von
Personengesellschaften ermöglichen würde, ergibt sich auch nicht aus dem
Unionsrecht.
51 a) Nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG steht es jedem
Mitgliedstaat frei, im Inland ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber
durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng
miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln.
Diese Regelung dient der "Verwaltungsvereinfachung" und der "Verhinderung
bestimmter Missbräuche" (EuGH-Urteil Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt,
EU:C:2015:496, Rz 40).
52 b) Der Steuerpflichtige kann sich gegenüber dem nationalen Recht nicht auf Art. 4
Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG berufen.
53 aa) Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG erfüllt "nicht die
Voraussetzungen, um unmittelbare Wirkung zu entfalten", sondern hat nur "bedingten
Charakter". Dies beruht darauf, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene enge
Verbindung in finanzieller, wirtschaftlicher und organisatorischer Hinsicht einer
"Präzisierung auf nationaler Ebene" bedarf und die "Anwendung nationaler
Rechtsvorschriften voraussetzt, die den konkreten Umfang dieser Verbindungen
bestimmen" (EuGH-Urteil Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt,
EU:C:2015:496, Rz 50 f.).
54 bb) Entscheiden sich Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2
der Richtlinie 77/388/EWG dafür, Regelungen zur Zusammenfassung zu einem
Steuerpflichtigen zu schaffen, haben sie bei der Ausübung der ihnen zustehenden
Präzisierungsbefugnis die hierfür unionsrechtlich bestehenden Anforderungen zu
berücksichtigen.
55 (1) Die Mitgliedstaaten haben zu beachten, dass sie die nach Art. 4 Abs. 4
Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG mögliche Zusammenfassung zu einem
Steuerpflichten nicht von weiteren als den in dieser Bestimmung genannten
Bedingungen abhängig machen dürfen (EuGH-Urteil Larentia + Minerva und
Marenave Schiffahrt, EU:C:2015:496, Rz 38) und dass das Unionsrecht die Regelung
zur Mehrwertsteuergruppe nicht allein den Einheiten vorbehält, die juristische Person
sind (EuGH-Urteil Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, EU:C:2015:496,
Leitsatz 2). Auf eine Unterordnung darf nur ausnahmsweise abgestellt werden, etwa
wenn dies zur z.B. "Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen"
erforderlich und geeignet ist (EuGH-Urteil Larentia + Minerva und Marenave
Schiffahrt, EU:C:2015:496, Rz 39 ff.). Hierüber hat das nationale Gericht zu
entscheiden (EuGH-Urteil Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt,
EU:C:2015:496, Rz 43).
56 (2) Die auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG
getroffenen Regelungen haben --wie stets-- den Grundsatz der Rechtssicherheit zu
beachten. Danach müssen "die Vorschriften des Unionsrechts eindeutig sein" und
ihre Anwendung muss für die Betroffenen vorhersehbar sein, "wobei dieses Gebot der
Rechtssicherheit in besonderem Maß gilt, wenn es sich um Vorschriften handelt, die
finanzielle Konsequenzen haben können, denn die Betroffenen müssen in der Lage
sein, den Umfang der ihnen durch diese Vorschriften auferlegten Verpflichtungen
genau zu erkennen". Zudem "müssen die Rechtsnormen der Mitgliedstaaten auf den
vom Unionsrecht erfassten Gebieten eindeutig formuliert sein, so dass den
betroffenen Personen die klare und genaue Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten
ermöglicht wird, und die innerstaatlichen Gerichte in die Lage versetzt werden, deren
Einhaltung sicherzustellen" (EuGH-Urteil Tomoiagă, EU:C:2015:452, Rz 35, m.w.N.
zur EuGH-Rechtsprechung). Bei der Regelung zur Organschaft als
Zusammenfassung zu einem Steuerpflichtigen handelt es sich aufgrund der damit
verbundenen Verlagerung der Steuerschuld von der Organgesellschaft auf den
Organträger "um Vorschriften ..., die finanzielle Konsequenzen haben können".
57 c) Unter Berücksichtigung dieser Erfordernisse besteht für den nationalen
Gesetzgeber eine hinreichende unionsrechtliche Grundlage, die Regelung zur
Organschaft im Grundsatz auf die Eingliederung juristischer Personen zu
beschränken.
58 aa) Die Einschränkung der Organschaft auf die Eingliederung juristischer Personen
dient nicht dazu, die Umsatzbesteuerung rechtsformabhängig auszugestalten,
sondern soll den unionsrechtlich auch vom EuGH anerkannten
Präzisierungsvorbehalt rechtssicher ausfüllen (s. oben unter II.1.c cc).
59 bb) Kann aufgrund der Besonderheiten des nationalen Gesellschaftsrechts im
Regelfall nur bei juristischen Personen mit der erforderlichen Klarheit und damit
rechtssicher über die Eingliederungsvoraussetzungen entschieden werden (s. oben
II.1.c cc), rechtfertigt dies die grundsätzliche Einschränkung auf eine Eingliederung
juristischer Personen. Zudem trägt der erkennende Senat den Erfordernissen des
Unionsrechts, insbesondere dem Ziel einer im Grundsatz rechtsformneutralen
Besteuerung (s. oben II.2.c), dadurch Rechnung, dass er in Sonderfällen, in denen die
Eingliederungsvoraussetzungen auch in Bezug auf Tochterpersonengesellschaften
zweifelsfrei vorliegen, § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG teleologisch erweiternd auslegt (s. oben
II.2.c).
60 4. Danach hat das FG im Streitfall die Eingliederung der beiden KGs zu Unrecht
aufgrund einer allgemeinen Gleichstellung von juristischen Personen und
Personengesellschaften bejaht. Beide KGs sind indes nur dann Organgesellschaften
der Klägerin, wenn z.B. neben der Klägerin als mögliche Organträgerin nur die B-
GmbH als Gesellschafterin an den beiden KGs beteiligt gewesen wäre und in Bezug
auf die B-GmbH eine finanzielle Eingliederung in das Unternehmen der Klägerin
besteht. Zwar erscheint dies nach Aktenlage möglich, jedoch bestehen noch
Unklarheiten in Bezug auf die zahlreichen Umwandlungsvorgänge. Daher sind
ausdrückliche Feststellungen zum Gesellschafterkreis der beiden KGs und der
finanziellen Eingliederung dieser Gesellschafter in das Unternehmen der Klägerin
nachzuholen.
61 5. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.