Urteil des BFH vom 18.08.2015

Verspätungszuschlag

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 18.8.2015, V R 2/15
Verspätungszuschlag
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 9.
Dezember 2014 8 K 8083/12 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
Tatbestand
1 I. Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Verspätungszuschlages zur Umsatzsteuer
2010 in Höhe von 1.500 EUR bei geringfügiger Nachzahlung.
2 Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine Steuerberatungsgesellschaft in
der Rechtsform einer GmbH. Nachdem sie die Umsatzsteuererklärung 2007 mit
dreieinhalbmonatiger Verspätung und die Erklärung für 2009 mit 7 Tagen Verspätung
eingereicht hatte, forderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--)
die Umsatzsteuererklärung 2010 vorzeitig zum 30. September 2011 an. Nachdem
auch diese Erklärung nicht fristgerecht eingegangen war, erließ das FA am
20. Oktober 2011 einen Schätzungsbescheid, verbunden mit der Festsetzung eines
Verspätungszuschlages von 480 EUR, gegen die die Klägerin Einspruch erhob. Nach
Eingang der Steuererklärung am 17. November 2011 setzte das FA den
Schätzungsbescheid auf 156.196 EUR herab, sodass eine Nachzahlung von noch
200,46 EUR verblieb. Den Verspätungszuschlag minderte es von 480 EUR auf
100 EUR.
3 Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein mit der Begründung, sie habe die
Anforderung der Steuererklärung übersehen und sei nicht an die vorzeitige Abgabe
erinnert worden. Mit Schreiben vom 27. Januar 2012 wies das FA darauf hin, dass es
beabsichtige, in Bezug auf den Verspätungszuschlag zu verbösern, da auch in den
Vorjahren die Steuererklärungen verspätet abgegeben worden seien (2006: 7 Tage,
2007: 3,5 Monate, 2010: 1,5 Monate). Im Hinblick auf die nur geringfügige
Nachzahlung von 200,46 EUR in 2010 halte das FA einen Verspätungszuschlag von
0,967 % der festgesetzten Steuer (= 1.500 EUR) für ermessensgerecht.
4 Nachdem die Klägerin den Einspruch nicht zurückgenommen hatte, erließ das FA am
29. März 2012 eine Einspruchsentscheidung, in der sie den Verspätungszuschlag --
wie angekündigt-- auf 1.500 EUR erhöhte. Die Finanzbehörde habe gemäß § 367
Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) die Sache in vollem Umfang neu zu prüfen. Die
Klägerin habe den Ablauf der Veranlagungstätigkeit erheblich gestört, weil sie die
vorzeitig angeforderte Steuererklärung erst nach Schätzung der
Besteuerungsgrundlagen eingereicht habe. Angesichts der Dauer der Überschreitung
von 6 Wochen und dem verzögerten Abgabeverhalten in den Vorjahren sowie der
geringen Nachzahlung im Verhältnis zur festgesetzten Umsatzsteuer halte es
"betragsmäßig als auch prozentual" den Verspätungszuschlag von 1.500 EUR für
angemessen.
5 Hiergegen erhob die Klägerin Klage vor dem Finanzgericht (FG) mit der Begründung,
das FA dürfe sein Ermessen nur einmal ausüben. Eine Verböserung im
Einspruchsverfahren setze voraus, dass sich der zugrunde gelegte Sachverhalt im
Verlauf des Einspruchsverfahrens wesentlich geändert habe, woran es fehle. Die
Verböserung dokumentiere eine unsachliche Entscheidung zu Lasten eines wegen
zahlreicher Streitigkeiten "offenkundig nicht geliebten" Steuerpflichtigen.
6 Das FG wies die Klage ab. Das FA habe auch im Hinblick auf die Verböserung
ermessensfehlerfrei entschieden. Das FG folge nicht der Entscheidung des FG
Rheinland-Pfalz vom 20. März 1998 3 K 2262/96 (juris), wonach eine Verböserung
im Einspruchsverfahren nur bei Änderung der Ermessenskriterien zulässig sei.
Angesichts des bisherigen Abgabeverhaltens seien sachfremde Erwägungen wie ein
Verstoß gegen das Übermaßverbot nicht zu erkennen. Aus den Ausführungen des
FA ergebe sich, dass nach dessen Auffassung der ursprünglich festgesetzte
Zuschlag von nur 100 EUR nicht im angemessenen Verhältnis zur festgesetzten
Steuer stehe.
7 Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Revision. Eine Verböserung im
Einspruchsverfahren sei bei Ermessensentscheidungen nur bei gravierender
Veränderung der Situation, des Verhaltens, der Beträge oder sonstiger Kriterien die zu
neuen Ergebnissen führen möglich.
8 Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des FG sowie den Änderungsbescheid über den Verspätungszuschlag
aufzuheben und der Klage stattzugeben.
9 Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
10 Das FA habe auch bei einer Ermessensentscheidung im Einspruchsverfahren die
Sache in vollem Umfang zu überprüfen und ggf. eine erneute
Ermessensentscheidung zu treffen.
Entscheidungsgründe
11 II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung und Zurückverweisung an das
FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FA war zwar zur
Festsetzung eines Verspätungszuschlages berechtigt und hat auch die
Voraussetzungen für eine Verböserung im Rahmen einer Einspruchsentscheidung
beachtet. Ein Verspätungszuschlag in der Höhe von 1.500 EUR bei geringfügiger
Abschlusszahlung ist jedoch ermessensfehlerhaft (§ 102 FGO).
12 1. Nach § 152 AO kann das FA gegen denjenigen, der seiner Verpflichtung zur
Abgabe einer Steuererklärung nicht oder nicht fristgerecht nachkommt, einen
Verspätungszuschlag festsetzen, wenn das Versäumnis nicht entschuldbar
erscheint. Die Höhe des Verspätungszuschlages darf 10 % der festgesetzten Steuer
und den Betrag von 25.000 EUR nicht überschreiten. Der Sinn und Zweck des
Verspätungszuschlages besteht als Druckmittel eigener Art in einem zugleich
repressiven und präventiven (erzieherischen) Charakter (BFH-Urteil vom
18. November 1986 VIII R 183/84, BFH/NV 1987, 416, Rz 16). Es soll die Störung der
Veranlagungsarbeit durch den verzögerten oder unterbliebenen Eingang der
Steuererklärung sanktioniert werden und der Steuerpflichtige für die Zukunft zur
pünktlichen Abgabe der Steuererklärung angehalten werden. Diesem Zweck
entsprechend sind bei der Bemessung der Höhe des Verspätungszuschlages neben
seinem Zweck, den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Erklärungsabgabe zu
veranlassen, die Dauer der Fristüberschreitung, die Höhe des sich aus der
Steuerfestsetzung ergebenden Zahlungsanspruchs, die aus der verspäteten Abgabe
gezogenen Vorteile sowie das Verschulden und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
zu berücksichtigen. Bei der Gewichtung dieser Kriterien handelt es sich um eine
Ermessensentscheidung des FA, die gemäß § 102 FGO gerichtlich lediglich auf
Ermessensfehler zu überprüfen ist (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom
29. März 2007 IX R 9/05, BFH/NV 2007, 1617).
13 2. Nach diesen Maßstäben ist die Festsetzung eines Verspätungszuschlages zwar
dem Grunde nach --auch im Rahmen einer Verböserung (s. unten 3.)-- gerechtfertigt,
weil die Klägerin die Umsatzsteuererklärung 2010 trotz vorzeitiger Anforderung
schuldhaft erst mit einer Verspätung von 6 Wochen eingereicht hatte, in ihrer Höhe
aber ermessensfehlerhaft (s. unter 4.).
14 3. Die Verböserung des zunächst auf nur 100 EUR festgesetzten
Verspätungszuschlages im Einspruchsverfahren ist grundsätzlich zulässig.
15 a) Gemäß § 367 Abs. 2 AO hat die Finanzbehörde im Einspruchsverfahren den
Verwaltungsakt "in vollem Umfang erneut" zu prüfen. Sie kann den Verwaltungsakt
auch zum Nachteil des Einspruchsführers ändern, wenn der Einspruchsführer zuvor
auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen
hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich zu äußern. Für
Einspruchsentscheidungen hinsichtlich einer Ermessensentscheidung gilt nichts
anderes: Die Rechtsbehelfsstelle hat eine eigenständige Ermessensentscheidung
nach der sich im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung
bestehenden Sach- und Rechtslage zu treffen (BFH-Beschluss vom 19. November
2007 VIII B 30/07, BFH/NV 2008, 335; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler,
§ 365 AO Rz 114; a.A. FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20. März 1998 3 K 2262/96,
juris). Dies ergibt sich aus dem unterschiedlichen Prüfungsmaßstab einer
Ermessensentscheidung für Gerichte in § 102 FGO (eingeschränkte Prüfung nur auf
Ermessensfehler) und der Rechtsbehelfsstelle des FA im Einspruchsverfahren nach
§ 367 Abs. 2 AO (Überprüfung "im vollen Umfang").
16 b) Der Kläger beruft sich zu Unrecht auf den BFH-Beschluss in BFH/NV 2008, 335,
der im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde zur Ablehnung einer Divergenz zu
den Rechtsausführungen der Vorinstanz ausgeführt hat, dass im dortigen Streitfall
nach der erstmaligen Festsetzung des Verspätungszuschlages in der weiterhin nicht
erfolgten Abgabe der Steuererklärung eine Intensivierung des Verspätungszeitraums
gelegen habe, die auch nach den Maßstäben der Vorinstanz zu einer Änderung der
Sachlage führen würde. Die Rechtsauffassung des BFH, wonach auch bei
Ermessensentscheidungen eine Prüfung in vollem Umfang erfolgen muss, ergibt sich
aus Leitsatz 1 der Entscheidung.
17 c) Entgegen der Darstellung der Klägerin hat das FA auch die weitere Voraussetzung
erfüllt, wonach gemäß § 367 Abs. 2 AO der Rechtsbehelfsführer vor der Verböserung
unter Angabe von Gründen hierauf hingewiesen wurde. Wie das FG zutreffend
ausführt, hat das FA in seinem Hinweis im Schreiben vom 27. Januar 2012 die
Verböserung des Verspätungszuschlages von 100 EUR damit begründet, dass das
FA nunmehr auch die Verspätungen in den Vorjahren mit einbezogen habe. Eine
mehrfache Verspätung in den Vorjahren kann auch dann zu Lasten des
Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, wenn in den Vorjahren noch kein
Verspätungszuschlag festgesetzt worden sein sollte (BFH-Urteil in BFH/NV 2007,
1617).
18 4. Das FG hat jedoch nicht berücksichtigt, dass nach der Rechtsprechung des BFH
neben der Anzahl und Dauer der Verspätung der Höhe der Abschlusszahlung ein
erhebliches Gewicht beizumessen ist. Nach den BFH-Urteilen vom 15. März 2007
VI R 29/05 (BFH/NV 2007, 1076) und vom 8. Dezember 1988 V R 169/83 (BFHE 155,
46, BStBl II 1989, 231) stellt die Höhe der Abschlusszahlung die Richtschnur für die
Bemessung der Höhe des Zuschlages dar. Zwar kann ein Verspätungszuschlag aus
erzieherischen Gründen auch dann festgesetzt werden, wenn die geschuldete Steuer
--wie im Streitfall-- aufgrund der Voranmeldungen fast oder insgesamt bereits gezahlt
worden war (hier 200,46 EUR Nachzahlung von im Verhältnis zur Steuer von
156.196 EUR). In diesen Fällen ist unter den Gesichtspunkten der Vorteilsziehung
und des Verschuldens nachvollziehbar abzuwägen, welches Gewicht der verspäteten
Abgabe der Steuererklärung noch zukommt, nachdem die geschuldete Steuer fast
vollständig entrichtet worden ist. Zuschläge, die den Charakter steuerlicher
Sanktionen haben, dürfen nicht außer Verhältnis zur Schwere des Verstoßes des
Steuerpflichtigen gegen seine Pflichten stehen (Urteil des Gerichtshofs der
Europäischen Union Salomie und Oltean vom 9. Juli 2015 C-183/14, EU:C:2015:454,
Rz 51). Demgemäß kann nach der Rechtsprechung des Senats ein die
Abschlusszahlung übersteigender Verspätungszuschlag nur bei besonderer Schwere
der Umstände des Einzelfalls festgesetzt werden (BFH-Beschluss vom 14. April 2011
V B 100/10, BFH/NV 2011, 1288).
19 5. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG wird in einem erneuten Verfahren unter
Berücksichtigung dieser Ermessensrichtlinien erneut über die Höhe des
Verspätungszuschlages entscheiden und hierbei dem FA gemäß § 102 Satz 2 FGO
Gelegenheit geben, ggf. seine Ermessenserwägungen zu ergänzen.
20 6. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.