Urteil des BFH vom 18.08.2015

Umsatzsteuerfreie Pflegeleistungen

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 18.8.2015, V R 13/14
Umsatzsteuerfreie Pflegeleistungen
Leitsätze
Pflegeleistungen sind unter Berufung auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL steuerfrei,
wenn die Pflegekraft die Möglichkeit hat, Verträge nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI mit
Pflegekassen abzuschließen.
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 14. Januar
2014 15 K 4674/10 U wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) war in den Streitjahren 2007 und 2008
Mitglied des eingetragenen Vereins B. Sie erbrachte für den Verein im Rahmen des "B-
Modells" Pflegeleistungen. Die Klägerin war dabei als Pflegehelferin tätig, ohne über
eine Ausbildung als Kranken- oder Altenpflegerin zu verfügen. Im Rahmen des "B-
Modells" schloss der Verein Verträge mit pflegebedürftigen Personen und
Pflegekassen. Pflegehelfer wie die Klägerin schlossen mit dem Verein
Qualitätsvereinbarungen ab und wurden so zu sog. aktiven Vereinsmitgliedern. Für den
Verein war die Klägerin in zwei "Teams" tätig. Weitere Tätigkeiten erbrachte sie für den
Verein K. Nach Aufstellungen des Vereins B wurden die Kosten der Leistungen des
"Teams II" in 2007 zu 96 % und in 2008 zu 82 % von den Pflegekassen getragen.
2 Im Anschluss an eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung ging der Beklagte und
Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) davon aus, dass die Klägerin gegenüber den
Vereinen umsatzsteuerpflichtige Leistungen erbracht habe und erließ am 21. Januar
2010 erstmalige Umsatzsteuerbescheide für beide Streitjahre, in denen es auch einen
sich aus der Steuerpflicht ergebenden Vorsteuerabzug sowie eine private Wertabgabe
berücksichtigte. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
3 Demgegenüber gab das Finanzgericht (FG) mit seinem in Entscheidungen der
Finanzgerichte (EFG) 2014, 868 veröffentlichten Urteil der Klage statt. Danach war die
Klägerin zwar als Unternehmerin tätig, da sie über ihren Tätigkeitsumfang frei
entscheiden konnte und keinen bezahlten Urlaub sowie keine Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall erhielt. Ihre Leistungen seien auch nach nationalem Recht steuerpflichtig.
Die Klägerin könne sich aber auf das für sie günstigere Unionsrecht, insbesondere auf
die Bestimmungen der Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 über das
gemeinsame Mehrwertsteuersystem 2006/112/EG (MwStSystRL) und auf die zur
Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG
(Richtlinie 77/388/EWG) ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der
Europäischen Union (EuGH) berufen. Für die Steuerfreiheit nach dem Unionsrecht
reiche es aus, dass die Kosten für Pflegeleistungen von den Trägern der sozialen
Sicherheit übernehmbar seien. Fehlende unmittelbare Leistungsbeziehungen zu den
hilfebedürftigen Personen oder den Pflegekassen seien unerheblich.
4 Hiergegen wendet sich das FA mit seiner Revision, für die es die Verletzung
materiellen Rechts anführt. Für eine Berufung auf die Richtlinie fehle es der Klägerin an
der erforderlichen Anerkennung. Hierfür sei auf eine unmittelbare Kostentragung durch
die Pflegekassen abzustellen. Die Stellung als Subunternehmer für einen Verein, der
Leistungen an die Pflegekassen erbringe, reiche nicht aus. Dies ergebe sich auch aus
der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH). Vertragsschlüsse durch
Pflegekassen mit Einzelpersonen lägen kaum bis nicht vor. Die Klägerin sei nicht
hinreichend geeignet, da sie keine Pflegefachkraft sei. § 77 Abs. 1 Satz 1 des Elften
Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) komme nur lückenschließende Funktion zu.
5 Das FA beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie hilfsweise das
Verfahren auszusetzen, um ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 des
Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zur Klärung der
Fragen, ob für die Auslegung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL die konkrete
Anerkennung der Pflegekraft erforderlich ist und
ob die Pflegekasse nicht einen Vertrag i.S. des § 77 Abs. 1 SGB XI beweisbar hätte
abschließen können oder wollen,
äußerst hilfsweise wird beantragt, die Verhandlung entsprechend § 74 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen wegen der Vorlage an den EuGH zur
Vermeidung einer anerkannten Einrichtung mit sozialem Charakter bei
Subunternehmern (BFH-Beschluss vom 12. Dezember 2013 XI B 88/13, BFH/NV
2014, 550).
6 Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
7 Maßgeblich sei die Kostentragung durch die Pflegekassen. Dabei sei eine unmittelbare
Kostentragung nicht erforderlich. Die Klägerin sei auch kein Subunternehmer, sondern
Vereinsmitglied bei ihrem Auftraggeber. Zahlungen der Sozialkassen würden durch den
Verein nur durchgeleitet. Die Möglichkeit eines Vertragsschlusses mit den
Pflegekassen reiche aus. Der Pflegekasse sei bekannt gewesen, dass der Verein
durch selbständig tätige Pflegekräfte gehandelt habe. Das für eine Anerkennung
erforderliche Gemeinwohlinteresse an der Leistungserbringung liege vor. Andere
Steuerpflichtige seien anerkannt, so dass eine Steuerpflicht der Klägerin gegen den
Grundsatz der Neutralität verstoße. Ein Abstellen auf konkrete Vertragsschlüsse
gefährde die erforderliche Rechtssicherheit. Eine Übernehmbarkeit der Kosten reiche
aus.
Entscheidungsgründe
8 II. Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2
FGO). Das FG hat die Leistungen der Klägerin zu Recht unter Berufung auf das
Unionsrecht als steuerfrei angesehen.
9 1. Die Pflegeleistungen der Klägerin sind --wovon auch die Beteiligten
übereinstimmend und zutreffend ausgehen-- nicht nach § 4 Nr. 16 Buchst. d und e
des Umsatzsteuergesetzes in seiner in den Streitjahren geltenden Fassung (UStG)
steuerfrei. Da es sich bei diesen Vorschriften um abschließend spezielle
Steuerbefreiungen für Pflegeleistungen handelt, kommt eine ergänzende Anwendung
von § 4 Nr. 18 UStG nicht in Betracht (vgl. BFH-Urteil vom 8. August 2013 V R 13/12,
BFHE 242, 557, Leitsatz 1).
10 2. Für eine Steuerfreiheit ihrer Leistungen kann sich die Klägerin aber auf Art. 132
Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL berufen.
11 a) Nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL befreien die Mitgliedstaaten eng mit
der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und
Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch Altenheime,
Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden
Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen
bewirkt werden.
12 In Bezug auf Pflegeleistungen durch andere Unternehmer als Einrichtungen des
öffentlichen Rechts knüpft diese Bestimmung an leistungs- wie auch an
personenbezogene Voraussetzungen an: Es muss sich um eng mit der
Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen handeln, der
leistende Unternehmer muss als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt sein.
13 b) Die von der Klägerin erbrachten Pflegeleistungen sind insgesamt eng mit der
Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden (vgl. z.B. BFH-Urteil vom
24. Januar 2008 V R 54/06, BFHE 221, 391, BStBl II 2008, 643, unter II.2.a aa), wie
das FG zutreffend unter Berücksichtigung der von ihm herangezogenen Grundsätze
zu Haupt- und Nebenleistung entschieden hat, und wie zwischen den Beteiligten unter
Berücksichtigung der in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat abgegebenen
Erklärungen im Revisionsverfahren nunmehr auch unstreitig ist. Die Klägerin war
auch als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt.
14 aa) Nach dem zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG
ergangenen EuGH-Urteil Zimmermann vom 15. November 2012 C-174/11
(EU:C:2012:716, Rz 26) legt die Richtlinie die Voraussetzungen und Modalitäten der
Anerkennung nicht fest. Vielmehr ist es Sache des innerstaatlichen Rechts jedes
Mitgliedstaats, die Regeln aufzustellen, nach denen Einrichtungen die erforderliche
Anerkennung gewährt werden kann. Dabei haben die nationalen Behörden im
Einklang mit dem Unionsrecht und unter der Kontrolle der nationalen Gerichte die für
die Anerkennung maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Zu diesen
gehören das Bestehen spezifischer Vorschriften, bei denen es sich um nationale oder
regionale Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften
im Bereich der sozialen Sicherheit handeln kann, das mit den Tätigkeiten des
betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse, die Tatsache, dass
andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer
ähnlichen Anerkennung kommen, und die Übernahme der Kosten der fraglichen
Leistungen zum großen Teil durch Krankenkassen oder durch andere Einrichtungen
der sozialen Sicherheit (EuGH-Urteil Zimmermann, EU:C:2012:716, Rz 31).
15 Der Steuerpflichtige kann sich auf die in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie
77/388/EWG vorgesehene Steuerfreiheit berufen, um sich einer Regelung zu
widersetzen, die mit dieser Bestimmung unvereinbar ist. Es ist Sache der nationalen
Gerichte, anhand aller maßgeblichen Umstände zu bestimmen, ob der
Steuerpflichtige eine als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung
im Sinne dieser Bestimmung ist. Dabei haben die nationalen Gerichte zu prüfen, ob
die zuständigen Behörden die Grenzen des ihnen eingeräumten Ermessens unter
Beachtung der Grundsätze des Unionsrechts eingehalten haben, zu denen
insbesondere der Grundsatz der Gleichbehandlung gehört, der im
Mehrwertsteuerbereich im Grundsatz der steuerlichen Neutralität zum Ausdruck
kommt (EuGH-Urteil Zimmermann, EU:C:2012:716, Rz 32 f.). Dies gilt auch für
Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL. Der erkennende Senat folgt dieser
Rechtsprechung (BFH-Urteil vom 25. April 2013 V R 7/11, BFHE 241, 475, BStBl II
2013, 976, Rz 19 ff.).
16 bb) Im Streitfall hat das FG die Anerkennung zu Recht bejaht. Sie folgt aus § 77
Abs. 1 Satz 1 SGB XI.
17 (1) Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in seiner bis zum 30. Juni 2008 geltenden
Fassung konnten die Pflegekassen zur "Sicherstellung der häuslichen Pflege und
hauswirtschaftlichen Versorgung ... einen Vertrag mit einzelnen geeigneten
Pflegekräften schließen, soweit und solange eine Versorgung nicht durch einen
zugelassenen Pflegedienst gewährleistet werden kann; Verträge mit Verwandten oder
Verschwägerten des Pflegebedürftigen bis zum dritten Grad sowie mit Personen, die
mit dem Pflegebedürftigen in häuslicher Gemeinschaft leben, sind unzulässig".
18 § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in seiner ab 1. Juli 2008 geltenden Fassung durch Art. 1
Nr. 44 Buchst. a des Gesetzes vom 28. Mai 2008 (BGBl I 2008, 874) hatte folgenden
Wortlaut:
19 "Zur Sicherstellung der häuslichen Pflege und Betreuung sowie der
hauswirtschaftlichen Versorgung kann die zuständige Pflegekasse Verträge
mit einzelnen geeigneten Pflegekräften schließen, soweit
1. die pflegerische Versorgung ohne den Einsatz von Einzelpersonen im
Einzelfall nicht ermöglicht werden kann,
2. die pflegerische Versorgung durch den Einsatz von Einzelpersonen
besonders wirksam und wirtschaftlich ist (§ 29),
3. dies den Pflegebedürftigen in besonderem Maße hilft, ein möglichst
selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen (§ 2 Abs. 1), oder
4. dies dem besonderen Wunsch der Pflegebedürftigen zur Gestaltung der
Hilfe entspricht (§ 2 Abs. 2);
Verträge mit Verwandten oder Verschwägerten des Pflegebedürftigen bis zum
dritten Grad sowie mit Personen, die mit dem Pflegebedürftigen in häuslicher
Gemeinschaft leben, sind unzulässig."
20 (2) Zu § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI hat das FG in revisionsrechtlich nicht zu
beanstandender Weise entschieden, dass die Möglichkeit, Verträge mit Pflegekassen
abzuschließen, für die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter genügt.
Entsprechend dem FG-Urteil reicht es dabei aus, dass die Klägerin als geeignete
Pflegekraft i.S. von § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI anzusehen war, da sie mit dem Verein
Qualitätsvereinbarungen abschloss und "Nachweise über Fortbildungen" vorgelegt
hat. Auf einen Berufsabschluss in einem Pflegeberuf kommt es nicht an. Somit liegen
die personenbezogenen Voraussetzungen des § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in seiner
jeweiligen Fassung vor, ohne dass es auf die weiteren Bedingungen dieser Vorschrift
ankommt.
21 Unerheblich ist, ob vertragliche Vereinbarungen mit Pflegekassen bestehen. Ohne
Widerspruch zum Senatsurteil vom 8. November 2007 V R 2/06 (BFHE 219, 428,
BStBl II 2008, 634) konnte das FG auch berücksichtigen, dass die Klägerin Mitglied in
einem "anerkannten" Verein zur Erbringung von Pflegeleistungen war, dessen Kosten
weitgehend von den Pflegekassen getragen worden sind. Insoweit besteht eine über
den Verein durchgeleitete Kostentragung. Der Senat berücksichtigt dabei auch den
gerichtsbekannten Pflegenotstand und das sich hieraus ergebende hohe
Gemeinwohlinteresse, das an der Erbringung steuerfreier Pflegeleistungen besteht.
22 3. Für die vom FA angeregte Einholung eines Vorabentscheidungsersuchens nach
Art. 267 AEUV besteht keine Veranlassung (vgl. zu den Voraussetzungen EuGH-
Urteile Cilfit u.a. vom 6. Oktober 1982 283/81, EU:C:1982:335, Rz 21, Slg. 1982,
3415; Gaston Schul vom 6. Dezember 2005 C-461/03, Eu:C:2005:742, Slg. 2005, I-
10513; Intermodal Transports vom 15. September 2005 C-495/03, EU:C:2005:552,
Slg. 2005, I-8151). Für den Senat bestehen keine Zweifel an der zutreffenden
Auslegung von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL, da zu berücksichtigen ist,
dass diese Bestimmung die dort bezeichneten Dienstleistungen, die eng mit der
Sozialfürsorge und der sozialen Gerechtigkeit verbunden sind, "einschließlich"
derjenigen die "durch Altenheime ... oder andere ... anerkannte Einrichtungen bewirkt
werden" befreit. Danach kommt der Anerkennung keine zwingende Bedeutung zu.
23 4. Auf die vom FA in Bezug genommene Beurteilung durch den BFH im
summarischen Verfahren (BFH-Beschluss in BFH/NV 2014, 550) kommt es für die
Entscheidung im hier vorliegenden Hauptsacheverfahren nicht an.
24 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.