Urteil des BFH vom 10.02.2015

Verfahrensfehler durch Nichtberücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens; Schätzung der Besteuerungsgrundlagen; Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung kein Rügeverzicht

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 10.2.2015, V B 87/14
Verfahrensfehler durch Nichtberücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens;
Schätzung der Besteuerungsgrundlagen; Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung kein
Rügeverzicht
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des
Niedersächsischen Finanzgerichts vom 5. Juni 2014 5 K 330/13 aufgehoben.
Die Sache wird an das Niedersächsische Finanzgericht zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist eine am 11. Juli 2008 gegründete
Kapitalgesellschaft britischen Rechts in der Rechtsform einer Private Company Limited by
Shares (C-Ltd.). Für das Streitjahr 2008 gab sie trotz Aufforderung weder Umsatzsteuer-
Voranmeldungen noch eine Jahressteuererklärung ab.
2 Hierauf schätzte das Finanzamt durch den Umsatzsteuerbescheid 2008 vom 8. November
2012 die Besteuerungsgrundlagen und gab diesen Herrn X als Direktor der C-Ltd. bekannt.
Ihren dagegen eingelegten Einspruch begründete die Klägerin damit, dass sie in 2008
keine Niederlassung in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) unterhalten und
dort auch keine Geschäftstätigkeit entfaltet habe. Außerdem sei der Bescheid an die
Privatanschrift des Herrn X adressiert worden. Dieser sei jedoch schon lange nicht mehr
Direktor der Gesellschaft. Den Einspruch wies der Beklagte und Beschwerdegegner (das
Finanzamt --FA--) am 3. Juli 2013 als unbegründet zurück. Im Klageverfahren trug die
Klägerin vor, dass sie im Jahr 2008 keine Niederlassung und keine Geschäftstätigkeit in
Deutschland gehabt habe. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage durch Urteil vom 5. Juni
2014 als unbegründet zurück. Dabei ging es von einer wirksamen Bekanntgabe des
angefochtenen Umsatzsteuerbescheids aus, da sich aus einem von Herrn X beim
Amtsgericht B am 29. Juli 2011 abgegebenen Vermögensverzeichnis ergebe, dass dieser
Geschäftsführer der Klägerin sei. Zweifel an der fortbestehenden Geschäftsführerstellung
ergäben sich nicht, da die Klägerin es unterlassen habe vorzutragen, wann Herr X als
Geschäftsführer abgelöst wurde und wer sein Nachfolger sei; die Gesellschaft sei nach den
Eintragungen im Companies Haus noch immer aktiv. Da die Klägerin keine
Umsatzsteuererklärung und keinen Jahresabschluss für das Streitjahr abgegeben habe,
sei das FA auch zur Schätzung befugt gewesen. Die Schätzung sei in Anlehnung an die
Besteuerungsgrundlagen in der Jahresumsatzsteuererklärung 2009 erfolgt und daher nicht
zu beanstanden.
3 Mit ihrer Beschwerde macht die Klägerin Verfahrensfehler geltend: Das FG habe ihren
Vortrag zur fehlenden Niederlassung und Geschäftstätigkeit im Streitjahr 2008 übergangen.
Das Urteil sei insoweit nicht mit Gründen versehen und stelle eine unzulässige
Überraschungsentscheidung dar. Darüber hinaus liege ein Verstoß gegen die richterliche
Hinweispflicht vor. Im Hinblick auf die vom FG als wirksam angesehene Bekanntgabe des
angefochtenen Umsatzsteuerbescheids an Herrn X sei das FG verpflichtet gewesen, die
Klägerin auf das Erfordernis weiteren Vortrags hinzuweisen.
Entscheidungsgründe
4 II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Sie führt zur
Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG
zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--).
5 1. Es liegt ein von der Klägerin in der erforderlichen Form (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO)
dargelegter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des FG beruhen kann
(§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
6 a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das FG seiner Überzeugungsbildung das
Gesamtergebnis des Verfahrens, also den gesamten konkretisierten Prozessstoff zu
Grunde zu legen. Insbesondere sind der Inhalt der vorgelegten Akten und das Vorbringen
der Prozessbeteiligten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen. Ein Verstoß gegen
§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO ist ein Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO
(Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25. November 2008 X B 214/07, juris,
und vom 25. September 2007 IX B 199/06, BFH/NV 2008, 26).
7 b) Die Klägerin hat nicht nur im Einspruchsverfahren, sondern auch im finanzgerichtlichen
Verfahren vorgebracht, sie habe in 2008 weder eine Niederlassung unterhalten noch eine
Geschäftstätigkeit im Inland entfaltet; dies ergebe sich nicht zuletzt aus dem vorgelegten
Jahresabschluss 2009. Die Berücksichtigung dieses übergangengen Sachvortrags führt --
auch nach der materiell-rechtlichen Auffassung des FG-- zu einer anderen, der Klägerin
günstigen Entscheidung.
8 Das Urteil des FG enthält keinerlei Ausführungen zu diesem Vorbringen, sodass offen
bleibt, aufgrund welcher Tatsachen es davon ausgeht, dass die Klägerin im Streitjahr
2008 tatsächlich eine Geschäftstätigkeit im Inland ausgeübt und hieraus
umsatzsteuerpflichtige Umsätze erzielt hat.
9 aa) Die C-Ltd. wurde zwar unstrittig am 11. Juli 2008 gegründet, hieraus folgt aber nicht
zwangsläufig, dass sie ihre Geschäftstätigkeit bereits im Juli 2008 aufgenommen und
Umsätze erzielt hat. Dies gilt umso mehr, als der bei der Gründung eingetragene Direktor
der C-Ltd. (Herr X) vor deren Gründung bereits eine A-Ltd. gegründet und betrieben hatte.
Da diese für das Jahr 2008 eine Umsatzsteuer-Jahreserklärung abgegeben hat, ist es
selbst nach Ansicht des FA möglich, dass die erzielten Umsätze dort erklärt und
versteuert wurden.
10 bb) Die Zweifel am Vorliegen einer Geschäftstätigkeit der Klägerin mit steuerpflichtigen
Ausgangsumsätzen können nicht im Wege einer Schätzung (§ 162 der Abgabenordnung -
-AO--) behoben werden.
11 Bei einer Schätzung wird von der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes
ausgegangen. Nur hinsichtlich einzelner Besteuerungsgrundlagen liegen
Ungewissheiten spezifischer Art (wie z.B. die Höhe der Umsätze) vor, die einer
Beseitigung durch Schätzung zugänglich sind (BFH-Urteile vom 3. November 2010
I R 4/10, BFH/NV 2011, 800, unter II.2.b cc bbb; vom 19. Oktober 1978, V R 39/75, BFHE
127, 71, BStBl II 1979, 345, unter II.1., sowie vom 10. Juni 1999 V R 82/98, BFHE 188,
460; BFH-Beschluss vom 20. Juli 2010 X B 70/10, BFH/NV 2010, 2007, unter II.2.c bb).
Voraussetzung einer Schätzung ist somit die Gewissheit, dass überhaupt ein steuerlich
bedeutsamer Sachverhalt vorliegt (Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 162 AO
Rz 15; Buciek in Beermann/Gosch, AO § 162 Rz 22, Frotscher in Schwarz, AO, § 162
Rz 8). Hieran fehlt es im Streitfall, da keinerlei Tatsachen für das Vorliegen
steuerpflichtiger Ausgangsumsätze der Klägerin im Streitjahr ersichtlich sind.
12 cc) Auf den Nachweis des Vorliegens eines umsatzsteuerlich bedeutsamen Sachverhalts
kann auch dann nicht verzichtet werden, wenn der Steuerpflichtige trotz Aufforderung
keine Steuererklärung abgibt. Nach § 162 Abs. 2 Satz 1 AO ist zwar insbesondere dann
zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichenden
Aufklärungen zu geben vermag oder weitere Auskunft oder eine Versicherung an Eides
statt verweigert. Abgesehen davon, dass dieses Schätzungsgebot nach den
Ausführungen unter II.1.b bb nicht qualitative, sondern nur quantitative
Besteuerungsmerkmale betrifft, hat die Klägerin dahingehend Angaben gemacht, dass sie
im Streitjahr noch keine Geschäftstätigkeit entfaltet habe; zu weiteren Auskünften hierüber
ist sie nicht aufgefordert worden.
13 2. Der Senat kann offen lassen, ob es sich bei dem Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1
FGO überhaupt um eine Verfahrensvorschrift handelt, auf die gemäß § 155 FGO i.V.m.
§ 295 der Zivilprozessordnung verzichtet werden kann. Jedenfalls liegt in der bloßen
Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung kein Verzicht auf die Einhaltung von
Verfahrensvorschriften (BFH-Beschluss vom 28. Juli 1998 VI B 76/98, BFH/NV 1999,
200). Auch wenn die Klägerin ihre besondere Prozessverantwortung wahrgenommen und
an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hätte (vgl. dazu BFH-Beschluss vom
12. August 2008 X S 35/08 (PKH), BFH/NV 2008, 2030, m.w.N.), hätte sie erst aus dem
Urteil erfahren, dass sich das FG mit ihrem Vorbringen nicht auseinandergesetzt hat.
14 3. Da das Urteil bereits aufgrund des Verfahrensfehlers keinen Bestand haben kann,
bedarf es keines Eingehens auf das weitere Vorbringen der Klägerin. Von einer weiteren
Begründung wird nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO, der auch für den Beschluss nach § 116
Abs. 6 FGO gilt, abgesehen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 25. Oktober 2012 X B 22/12,
BFH/NV 2013, 226; vom 23. September 2002 IV B 156/00, BFH/NV 2003, 191).
15 4. Der Senat hält es für sachgerecht, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, da im Streitfall
von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl.
BFH-Beschlüsse vom 17. September 2003 I B 18/03, BFH/NV 2004, 207; vom 29. Januar
2010 II B 107/09, BFH/NV 2010, 938). Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben
und der Rechtsstreit insoweit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
zurückzuverweisen.
16 5. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.