Urteil des BFH vom 11.03.2015

Zur schuldhaften Beweisvereitelung

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 11.3.2015, V B 83/14
Zur schuldhaften Beweisvereitelung
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des
Sächsischen Finanzgerichts vom 2. Juni 2014 6 K 1308/13 (Kg) aufgehoben.
Die Sache wird an das Sächsische Finanzgericht zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) erhielt Kindergeld für ihre Tochter T. Mit
Bescheid vom 23. April 2013 hob die Beklagte und Beschwerdegegnerin (die
Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung auf. Ob die Klägerin hiergegen mit Schreiben
vom 3. Mai 2013 Einspruch eingelegt hat, ist streitig. Dokumentiert ist in der von der
Familienkasse vorgelegten Aktenkopie nur der Eingang eines auf den 6. Juni 2013
datierten Schreibens der Klägerin am 11. Juni 2013.
2 Das Finanzgericht (FG) forderte die Kindergeldkasse am 16. September 2013 zur Vorlage
der Akten auf. Die Familienkasse hat daraufhin die in Papierform geführten Akten gescannt
und diese "E-Akte" dem FG zugeleitet. Das FG hat der Familienkasse am 17. November
2013 mitgeteilt, es stehe nicht fest, dass das übermittelte Material eine Überzeugung
zugunsten der Familienkasse ermögliche. Gleichwohl hat die Familienkasse die
Originalakte vernichtet. Die "E-Akte" wies diverse Mängel auf und bildete nur einen Teil
des Verfahrens ab.
3 Mit der Klagebegründung vom 17. Oktober 2013 bot die Klägerin Beweis für den rechtzeitig
eingelegten Einspruch u.a. durch "Schreiben der Klägerin vom 03.05.2013 (Anlage
K 1
an.
4 Das FG wies die Klage ab, weil die Klägerin die fristgerechte Einlegung des Einspruchs
nicht bewiesen habe. Aufgrund der Mängel des Verwaltungsverfahrens und der
Vernichtung der Originalakten sei zwar eine Beweislastumkehr zugunsten der Klägerin in
Betracht zu ziehen. Diese greife im Ergebnis aber nicht durch, weil die Klägerin das
Schreiben vom 3. Mai 2013 nicht vorgelegt und die angekündigte eidesstattliche
Versicherung nicht abgegeben habe.
Entscheidungsgründe
5 II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des
angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
6 Der von der Klägerin ordnungsgemäß (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) geltend gemachte
Verfahrensmangel liegt vor. Das FG hat das Recht der Klägerin auf Gewährung
rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) verletzt, indem
es versäumt hat, die Klägerin darauf hinzuweisen, dass das von ihr als "K 1" bezeichnete
Schriftstück nicht zur FG-Akte gelangt ist. Auf diesem Fehler kann das FG-Urteil beruhen.
7 1. Nach § 96 Abs. 2 FGO, der im finanzgerichtlichen Verfahren der Verwirklichung des
verfassungsrechtlich garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör dient, darf das Urteil
nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich
äußern konnten. Aus dieser Vorschrift folgt u.a. das Verbot von
Überraschungsentscheidungen. Danach darf ein bisher nicht erörterter Gesichtspunkt, der
dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der ein gewissenhafter und kundiger Beteiligter
nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht hat rechnen müssen, nicht zur
Grundlage der Entscheidung gemacht werden (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom
21. August 2007 VII R 37/04, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2008, 254,
unter II.; BFH-Beschlüsse vom 22. Juli 2014 XI B 103/13, BFH/NV 2014, 1761, unter II.2.a
und b; vom 1. Februar 2012 VI B 71/11, BFH/NV 2012, 767, unter Gründe 2.d).
8 2. Eine derartige Überraschungsentscheidung liegt hier vor, weil das FG sein Urteil u.a.
darauf gestützt hat, dass die Klägerin das streitige Schreiben vom 3. Mai 2013 dem FG
nicht vorgelegt habe. Die Klägerin hat mit der Klagebegründung vom 17. Oktober 2013
Beweis angeboten durch Vorlage des Schreibens vom 3. Mai 2013 und mit dem Hinweis
"Anlage K 1" zum Ausdruck gebracht, dass diese Anlage dem Schriftsatz beigefügt sei.
Für das FG war erkennbar, dass die Klägerin von der --unzutreffenden-- Annahme
ausging, dass das Schreiben dem FG damit vorliege. Unter diesen Umständen durfte das
FG sein Urteil nicht (auch) auf die Nichtvorlage des Schreibens vom 3. Mai 2013 stützen,
ohne die Klägerin zuvor darüber in Kenntnis zu setzen, dass das Schreiben tatsächlich
nicht vorlag.
9 3. Auf diesem Verfahrensmangel kann die Entscheidung des FG beruhen.
10 a) Das FG hat sein Urteil darauf gestützt, dass der Einspruch verfristet war. Die
Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) ist nur gewahrt, wenn
der Einspruch der Behörde (§ 357 Abs. 2 AO) rechtzeitig zugegangen ist. Dafür trägt der
Einspruchsführer die Feststellungslast (vgl. BFH-Beschlüsse vom 24. Juli 2008
VII B 41/08, juris, unter II.1.; vom 21. September 2007 IX B 79/07, BFH/NV 2008, 22).
11 b) Die Klägerin hat den Beweis des rechtzeitigen Zugangs des Schreibens vom 3. Mai
2013 zwar nicht geführt. Das FG ist aber zutreffend davon ausgegangen, dass eine
schuldhafte Beweisvereitelung, die anzunehmen ist, wenn ein Prozessbeteiligter einen
Gegenstand vernichtet oder vernichten lässt, obwohl für ihn erkennbar ist, dass jenem
eine Beweisfunktion zukommen kann, oder er dem Gegner auf sonstige Weise die
Beweisführung schuldhaft unmöglich macht, zu Beweiserleichterungen bis hin zur
Umkehr der Beweislast führen kann (BFH-Urteil vom 3. März 2004 X R 17/98, BFH/NV
2004, 1237, unter II.4.; BFH-Beschluss vom 7. April 2003 V B 28/02, BFH/NV 2003, 1195,
unter II.2.; vgl. auch Urteile des Bundesgerichtshofs vom 24. Januar 2012 II ZR 119/10,
Der Betrieb 2012, 794, unter II.2.a; vom 12. März 2007 II ZR 315/05, Neue Juristische
Wochenschrift --NJW-- 2007, 3130, unter II.2.a bb; vom 1. Februar 1994 VI ZR 65/93, NJW
1994, 1594, 1595; vom 15. November 1984 IX ZR 157/83, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
1985, 312, 314, unter II.2.e). Nach den Feststellungen des FG hatte die Familienkasse die
Nachvollziehbarkeit des genauen Ablaufs des Verwaltungsverfahrens anhand des
Aktenbestandes schuldhaft vereitelt. Das FG hat deshalb zwar eine Umkehr der
Beweislast in Betracht gezogen, im Ergebnis aber deshalb nicht angenommen, weil die
Klägerin das Schreiben vom 3. Mai 2013 nicht vorgelegt und die angekündigte
eidesstattliche Versicherung nicht abgegeben habe. Die Entscheidung des FG wäre
deshalb möglicherweise anders ausgefallen, wenn die Klägerin Kenntnis davon erhalten
hätte, dass das Schreiben vom 3. Mai 2013 dem FG tatsächlich nicht vorlag und es dem
FG noch rechtzeitig vorgelegt hätte.
12 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.