Urteil des BFH vom 01.04.2015

Wechsel der Richterbank nach Zeugenvernehmung - Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme - Grundsatz der Abschnittsbesteuerung

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 1.4.2015, V B 63/14
Wechsel der Richterbank nach Zeugenvernehmung - Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme -
Grundsatz der Abschnittsbesteuerung
Tenor
Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des
Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts vom 5. Februar 2014 4 K 200/11 aufgehoben.
Die Sache wird an das Schleswig-Holsteinische Finanzgericht zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
1 I. Das Finanzgericht (FG) hat bei einem Nachtclubbesitzer, dessen Erben Kläger und
Beschwerdeführer (Kläger) sind, eine Umsatzzuschätzung vorgenommen, weil es davon
ausging, nicht nur Getränke- und Vermietungsumsätze, sondern die gesamten Umsätze
aus der Tätigkeit der Prostituierten seien dem Inhaber zuzurechnen. Die Zuschätzung
verstoße nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, obschon bei vier
vorangegangenen Außenprüfungen die steuerliche Behandlung als Zimmervermietung
nicht beanstandet wurde.
2 Das FG habe sein Urteil vom 5. Dezember 2014 in der geschäftsplanmäßigen Besetzung
Vorsitzender Richter am FG A, RiFG B und RiFG C getroffen. Unschädlich sei, dass der in
der letzten Sitzung für den erkrankten RiFG D aufgetretene geschäftsplanmäßige Vertreter
RiFG B nicht an den vorangegangenen Sitzungsterminen, an denen Beweisaufnahmen
stattgefunden hatten, teilgenommen habe, weil es sich wegen des großen zeitlichen
Abstandes nicht um einen Fortsetzungstermin (Unterbrechung), sondern um einen neuen
Verhandlungstermin (Vertagung) gehandelt habe. Die Vernehmungsprotokolle der
vorangegangenen Beweisaufnahmen wurden in der letzten Sitzung nicht verlesen.
Entscheidungsgründe
3 II. Die auf Verfahrensrügen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) und
auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) gestützte
Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet.
4 1. Die Revision ist nicht bereits wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsfrage
zuzulassen, ob die während eines Zeitraums von 41 Jahren bei vier Außenprüfungen
sowie einer entsprechenden Auskunft an die Ortspolizei aus dem Jahr 1984
unbeanstandet gebliebene Rechtsauffassung der Kläger, nach der einem
Nachtclubbesitzer die Umsätze der bei ihm tätigen Prostituierten nicht in vollem Umfang,
sondern lediglich zu 1/3 als Umsatz aus Zimmervermietung zugerechnet werden, im
Streitjahr 2005 geändert werden durfte.
5 Denn die Rechtsfrage der Bindung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --
FA--) an seine früheren steuerlichen Beurteilungen für die Zukunft ist bereits geklärt. Aus
§ 204 der Abgabenordnung (AO) ergibt sich, dass das FA im Anschluss an eine
Außenprüfung eine verbindliche Auskunft erteilen soll über die zukünftige Behandlung
eines für die Vergangenheit geprüften und im Prüfungsbericht dargestellten
Sachverhaltes. Diese Zusage ist dann gemäß § 206 AO für den im Antrag des
Steuerpflichtigen genannten Zeitraums verbindlich. Hat der Steuerpflichtige eine derartige
verbindliche Zusage nach § 206 oder nach § 89 Abs. 2 AO oder der vorangegangenen
Verwaltungsregelung jedoch nicht beantragt, hat das FA grundsätzlich das Recht und die
Pflicht, aufgrund des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der
Besteuerung, aus dem der Grundsatz der Abschnittsbesteuerung folgt, eine als
unzutreffend erkannte Rechtsauffassung frühestmöglich zu ändern (BFH-Urteile vom
25. Mai 1977 I R 93/75, BFHE 122, 296, BStBl II 1977, 660; vom 13. Februar 2008
I R 63/06, BFHE 220, 415, BStBl II 2009, 414). Darüber hinaus ist geklärt, dass ein Verbot
der Rückkehr des FA zur als richtig erkannten Besteuerung nach den Grundsätzen von
Treu und Glauben oder der Verwirkung nur dann ausnahmsweise angenommen werden
kann, wenn eindeutig erkennbar ist, dass das FA mit einer bestimmten Sachbehandlung
auch eine Festlegung für die Zukunft treffen wollte (BFH-Urteile vom 5. November 2009
IV R 13/07, BFH/NV 2010, 652, Rz 26; vom 13. Februar 2008 I R 63/06, BFHE 220, 415,
BStBl II 2009, 414, Rz 34-36; vom 25. Mai 1977 I R 93/75, BFHE 122, 296, BStBl II 1977,
660). Ohne eine solche verbindliche Zusage nach § 204 AO oder ihr gleichkommende
zukunftsgerichtete Erklärung des FA ist das Vertrauen auf Fortsetzung einer für den
Steuerpflichtigen günstigen Behandlung auf unabsehbare Zeit nicht geschützt.
6 2. Die Beschwerde führt aber zur Aufhebung des FG-Urteils und Zurückverweisung zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung, weil das Urteil nicht auf einer
verfahrensfehlerfreien Grundlage beruht.
7 a) Eine "Entziehung des gesetzlichen Richters" und ein "Verstoß gegen die
Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme" liegt zwar nicht deshalb vor, weil innerhalb der drei
Sitzungstage jeweils mit Beweisaufnahme (am 12. Dezember 2012, 7. Februar 2013 und
5. Februar 2014) die Richterbank gewechselt hat, nämlich wegen Erkrankung des RiFG D
dessen Vertreter RiFG B teilgenommen hat sowie die beiden ehrenamtlichen Richter
gewechselt haben. Denn ein Urteil kann zwar gemäß § 103 FGO nur von denjenigen
Richtern gefällt werden, die an der mündlichen Verhandlung teilgenommen haben.
Hiermit ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) jedoch nur das
Gericht gemeint, das in der letzten mündlichen Verhandlung auch das Urteil gesprochen
hat. Daraus ergibt sich weiter, dass auch nach --wie vorliegend-- der Vertagung und nicht
nur einer Unterbrechung einer mündlichen Verhandlung mit Beweisaufnahme, bei der
sich ein und dieselbe mündliche Verhandlung über mehrere Verhandlungstage
(Sitzungstage) hinzieht, ein Wechsel auf der Richterbank grundsätzlich zulässig ist (BFH-
Urteil vom 26. März 1991 VII R 72/90, BFH/NV 1992, 115; Beschluss vom 22. Oktober
2003 I B 39/03, BFH/NV 2004, 350).
8 Dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 81 FGO) wäre allerdings am
besten genügt, wenn nur diejenigen Richter das Urteil sprechen, die an allen
Beweisaufnahmen zugegen waren. Jedoch führt das Gesetz diesen Grundsatz aus
prozessökonomischen Gründen nicht streng durch, denn es sieht in § 81 Abs. 2 und § 79
Abs. 3 FGO auch die Möglichkeit der Übertragung einer Beweisaufnahme auf einzelne
Mitglieder des Gerichts oder durch ein anderes Gericht vor, was zur Folge hat, dass in
diesen Fällen Richter zur Entscheidung mit berufen sind, die an der Beweisaufnahme
selbst nicht teilgenommen haben. Eine Wiederholung der Beweisaufnahme ist nur dann
erforderlich, wenn es auf den persönlichen Eindruck des Zeugen zur Beurteilung seiner
Glaubwürdigkeit ankommt.
9 b) Im Hinblick auf die Einschränkung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der
Beweisaufnahme bei Richterwechsel nach vorangegangener Beweisaufnahme ist aber
als Ausgleich zwingend erforderlich, dass sich die neu hinzugetretenen Richter
zuverlässig Kenntnis vom Inhalt der Zeugenaussagen verschaffen. Das setzt nicht nur
voraus, dass die Zeugenvernehmung protokolliert wurde, sondern dass zudem die
Protokolle wie nach Vernehmung durch einen beauftragten Richter im Wege des
Urkundenbeweises durch Verlesung in das Verfahren eingeführt werden (BFH-
Beschlüsse vom 7. Februar 2007 X B 105/06, BFH/NV 2007, 962; vom 3. August 2006
V B 27/06, juris; vom 30. April 2003 I B 120/02, BFH/NV 2003, 1587; vom 26. März 1991
VII R 72/90, BFH/NV 1992, 115; Urteil des Bundesgerichtshofs vom 30. Januar 1990
XI ZR 162/89 unter I.2.b, Neue Juristische Wochenschrift 1991, 1302; vom 12. Juni 2012
X ZR 131/09, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 2012, 895, Rz 31).
10 Die Einführung der Protokolle über die vorangegangenen Zeugenvernehmungen durch
Verlesung ist vorliegend jedoch dem Sitzungsprotokoll nicht zu entnehmen.
11 c) Entgegen der Rechtsauffassung des FA ist der Verstoß gegen den Grundsatz der
Unmittelbarkeit vorliegend auch nicht durch Verzicht oder rügeloser Einlassung geheilt
worden (vgl. dazu BFH-Beschluss in BFH/NV 1992, 115). Denn die Kläger haben den
Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit laut Sitzungsprotokoll ausdrücklich
gerügt.
12 Die Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit wegen Wechsel der
Richterbank nach vorangegangener Beweisaufnahme mit der Begründung, nicht die
gesamte Richterbank besitze einen hinreichenden Eindruck vom Inhalt der
Zeugenaussagen, umfasst auch die Rüge der Nichteinführung der Protokolle im Wege
des Urkundenbeweises, da die Rüge auf dasselbe Ziel gerichtet ist, das Fehlen der
zuverlässigen Kenntnis der Richter vom Inhalt der Zeugenaussagen zu beanstanden.
13 3. Die weiter gerügten Verfahrensfehler liegen nicht vor. Von einer Begründung wird
gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO abgesehen.
14 4. Der Senat hält es daher für sachgerecht, das angefochtene Urteil aufzuheben und den
Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, damit
die Protokolle der Zeugeneinvernahmen ordnungsgemäß im Wege des
Urkundenbeweises in das Verfahren eingeführt werden.
15 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.