Urteil des BFH vom 19.08.2015

"Offenbare Unrichtigkeit" i.S. des § 107 FGO setzt Versehen voraus - Berichtigung des Tenors bei erkennbarem Widerspruch der Urteilsformel zum Erklärungswillen des FG - Unterscheidung zwischen Klagebegehren und Klageantrag

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 19.8.2015, V B 26/15
"Offenbare Unrichtigkeit" i.S. des § 107 FGO setzt Versehen voraus - Berichtigung des
Tenors bei erkennbarem Widerspruch der Urteilsformel zum Erklärungswillen des FG -
Unterscheidung zwischen Klagebegehren und Klageantrag
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Thüringer Finanzgerichts vom 20.
Februar 2015 3 K 1025/11 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
1 I. Die Beteiligten streiten darüber, ob ein Urteil des Finanzgerichts (FG) nach § 107
Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) berichtigt werden durfte.
2 Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) reichte im Jahr 2009 eine Umsatzsteuer-
Jahreserklärung für das Streitjahr 2007 beim Beklagten und Beschwerdegegner
(Finanzamt --FA--) ein, aus der sich eine Steuer von 0 EUR ergab. Abweichend davon
setzte das FA im geänderten Umsatzsteuerbescheid für 2007 vom 26. Oktober 2009
Umsatzsteuer in Höhe von 1.486,92 EUR fest. Dieser Festsetzung lagen --geschätzte-
- (Honorar-)Umsätze von 6.768 EUR (Umsatzsteuer 1.285,92 EUR) und ein
Vorsteuerberichtigungsbetrag nach § 15a des Umsatzsteuergesetzes (UStG) von
201 EUR zu Grunde. In der Einspruchsentscheidung vom 15. November 2011 erhöhte
das FA den Vorsteuerberichtigungsbetrag auf 403 EUR.
3 Mit der dagegen erhobenen Klage beantragte der Kläger u.a. "[den]
Umsatzsteuerbescheid vom 26.10.2009 für [das] Jahr 2007 [...] in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 15.11.2011 aufzuheben." Im Klageschriftsatz --vom
9. Januar 2011, Seite 2-- führte er u.a. aus, es sei unstreitig, dass er u.a. im Streitjahr
unternehmerisch tätig gewesen sei und er (Honorar-)Umsätze getätigt habe, die den
Vorsteuerabzug nicht ausschließen. Im Weiteren wendete er sich ausschließlich gegen
die Vorsteuerberichtigung.
4 Das FG gab der Klage --ausweislich der Urteilsformel im Urteil vom 12. Februar 2014--
in vollem Umfang statt und tenorierte entsprechend des klägerischen Antrags: "[Der]
Umsatzsteuerbescheid vom 26.10.2009 für [das] Jahr 2007 [...] in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 15.11.2011 [wird] aufgehoben." In den
Entscheidungsgründen setzte sich das FG ausschließlich mit der Möglichkeit einer
Vorsteuerberichtigung nach § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG auseinander. Zu der --nicht
streitigen-- Hinzuschätzung der nicht erklärten Honorarumsätze verhält sich das Urteil
nicht.
5 Auf einen entsprechenden Antrag des FA vom 6. August 2014 berichtigte das FG den
Tenor seines Urteils mit Beschluss vom 20. Februar 2015 wie folgt: "Der
Umsatzsteuerbescheid vom 26.10.2009 für das Jahr 2007 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 15.11.2011 wird dahingehend geändert, dass die
Umsatzsteuer auf 1.285,92 EUR festgesetzt wird." Zur Begründung führte es
insbesondere aus, ihm sei eine offenbare Unrichtigkeit i.S. des § 107 Abs. 1 FGO
unterlaufen, indem es den Umsatzsteuerbescheid für 2007 insgesamt aufgehoben
habe, obwohl weder die Unternehmereigenschaft des Klägers noch die
Steuerpflichtigkeit der (Honorar-)Umsätze von 6.768 EUR --sondern ausschließlich die
Vorsteuerberichtigung nach § 15a UStG-- in Streit standen. Über die Honorarumsätze,
die weder Gegenstand der Schriftsätze noch der mündlichen Verhandlung gewesen
seien, habe es nicht entscheiden wollen.
6 Hiergegen richtet sich die --vom FG nicht abgeholfene-- fristgerecht eingelegte
Beschwerde des Klägers. Er macht geltend, der ursprüngliche Tenor --Aufhebung der
Umsatzsteuerfestsetzung für 2007-- habe seinem Antrag entsprochen, mit dem er --
entsprechend der abgegebenen Umsatzsteuer-Jahreserklärung-- eine
Umsatzsteuerfestsetzung von 0 EUR begehrte. Das FG habe von Amts wegen, ohne
dass dies einer Begründung in den Klageschriftsätzen bedurft hätte, erkennen müssen,
dass die getätigten Honorarumsätze umsatzsteuerfrei seien. Durch die ursprüngliche
Tenorierung sei die Steuerfestsetzung, die sich aus der abgegebenen nicht
zustimmungsbedürftigen Umsatzsteuer-Jahreserklärung für 2007 über 0 EUR ergab,
richtigerweise wieder hergestellt worden. Infolgedessen komme eine Tenorberichtigung
wegen einer vermeintlich offenbaren Unrichtigkeit nicht in Betracht.
7 Der Kläger beantragt,
den Berichtigungsbeschluss vom 20. Februar 2015 aufzuheben.
8 Das FA beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
9 Es schließt sich den Ausführungen des FG an.
Entscheidungsgründe
10 II. Die nach § 128 Abs. 1 FGO zulässige Beschwerde ist unbegründet und daher
durch Beschluss zurückzuweisen (§ 132 FGO).
11 Das FG hat die Urteilsformel des Klageverfahrens 3 K 1025/11 wegen einer ähnlichen
offenbaren Unrichtigkeit zu Recht berichtigt.
12 1. Nach § 107 Abs. 1 FGO sind Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare
Unrichtigkeiten im Urteil jederzeit zu berichtigen. Die zu berichtigende Unrichtigkeit
kann alle Bestandteile des Urteils i.S. des § 105 Abs. 2 FGO betreffen, so auch --wie
im Streitfall-- die Urteilsformel (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom
15. Mai 2006 VII B 70/06, BFH/NV 2006, 1678, Rz 7, und vom 9. Juli 1997 V B 6/97,
BFH/NV 1998, 46, Rz 8, m.w.N.).
13 Die Berichtigung darf nur dazu dienen, das vom Gericht erkennbar Gewollte zu
verwirklichen, nicht aber, die gewollte Entscheidung inhaltlich zu korrigieren. Eine
ähnliche offenbare Unrichtigkeit i.S. von § 107 Abs. 1 FGO ist nur dann gegeben,
wenn es sich um ein "mechanisches" Versehen handelt, aufgrund dessen --wie bei
einem Schreib- oder Rechenfehler-- das wirklich Gewollte nicht zum Ausdruck
gelangt. Bereits die Möglichkeit eines Rechtsirrtums, Denkfehlers oder
unvollständiger Sachverhaltsermittlung schließt die Berichtigung wegen offenbarer
Unrichtigkeit aus (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 31. August
2012 IX B 86/12, BFH/NV 2012, 1994, Rz 3, m.w.N., und vom 28. November 2011
III B 96/09, BFH/NV 2012, 742, Rz 6, m.w.N.). Solche Unrichtigkeiten eines
finanzgerichtlichen Urteils können nicht durch Beschwerde, sondern nur durch
Revision gegen das Urteil geltend gemacht werden.
14 2. Nach diesen Maßstäben hat das FG die Urteilsformel zu Recht berichtigt.
15 a) Im Streitfall steht die Urteilsformel im Widerspruch zu den Entscheidungsgründen.
Die Entscheidungsgründe enthalten ausschließlich Erwägungen zur
Vorsteuerberichtigung und stimmen insoweit mit dem Sachvortrag des Klägers in
dessen Schriftsätzen überein. Darüber hinaus geht das FG im unstreitigen
Tatbestand --wie auch im Klageschriftsatz vorgetragen-- davon aus, dass der Kläger
u.a. im Streitjahr umsatzsteuerpflichtige Umsätze getätigt habe und führt insoweit aus:
"Der Kläger erzielt u.a. in den Jahren 2002, 2006 und 2007 aus der Tätigkeit als Maler
sowie als Honorardozent umsatzsteuerpflichtige Einkünfte aus selbständiger Arbeit."
Tatbestand und Entscheidungsgründe bringen hinreichend zum Ausdruck, dass für
das Streitjahr Umsatzsteuer festgesetzt werden sollte. Die Urteilsformel weicht
hiervon ab und steht damit erkennbar im Widerspruch zum Erklärungswillen des FG.
Die von ihm vorgenommene Berichtigung führt zu einer Übereinstimmung des
erkennbar gewollten Tenors mit den abgefassten Urteilsgründen.
16 b) Ob die unrichtige Urteilsformel darauf zurückzuführen ist, dass der Kläger im Wege
der objektiven Klagehäufung --neben der Umsatzsteuerfestsetzung für das Streitjahr--
auch die Umsatzsteuerfestsetzungen für 2003 bis 2006 mit dem Antrag, diese
insgesamt aufzuheben, angegriffen hat und das FG diesen Anträgen umfassend
nachgekommen ist, bedarf indes keiner Aufklärung.
17 3. Das Klagebegehren --das im Streitfall nicht mit dem Antrag des Klägers
übereingestimmt hat-- ist allein auf Beseitigung der Vorsteuerberichtigung gerichtet
gewesen. Deshalb hat das FG die Klage im Berichtigungsbeschluss zu Recht nicht
teilweise ("im Übrigen") abgewiesen und auch die Kostengrundentscheidung
unverändert gelassen.
18 a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht
hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Wie sich der
Vorschrift entnehmen lässt, ist zwischen Klagebegehren und Klageantrag zu
unterscheiden. Das Gericht hat das wirkliche Klagebegehren anhand des gesamten
Beteiligtenvorbringens einschließlich des Klageantrags zu ermitteln (BFH-Urteil vom
4. September 2008 IV R 1/07, BFHE 222, 220, BStBl II 2009, 335, unter II.3.a), denn
maßgebend ist das materielle Ziel der Klage und nicht dessen Formalisierung durch
einen Antrag (BFH-Beschluss vom 7. November 2007 I B 104/07, BFH/NV 2008, 799,
unter II.1.a). Das Gericht verstößt gegen § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO, wenn es die
wörtliche Fassung des Klageantrags als maßgeblich ansieht, obwohl diese dem
erkennbaren Klageziel nicht entspricht (BFH-Beschluss vom 8. Juni 2006 IX B 30/06,
BFH/NV 2006, 1689).
19 b) Danach hat das FG die Klage im Berichtigungsbeschluss zu Recht nicht teilweise
abgewiesen. Das Klagebegehren war auf eine betragsmäßige Änderung der
Umsatzsteuerfestsetzung für 2007 gerichtet. Zwar trifft es zu, dass der Kläger --
ausdrücklich-- die Aufhebung des Umsatzsteuerbescheids für 2007 beantragt hat.
Darauf kommt es jedoch dann nicht an, wenn die Klagebegründung --wie im Streitfall--
dazu im Widerspruch steht und der erkennbare Wille des Klägers --hier:
ausschließlich Einwand gegen die Vorsteuerberichtigung-- aus dieser Begründung
hervorgeht. Das FG konnte und musste daher --auch noch im
Berichtigungsverfahren-- die gewollte Prozesserklärung und das wahre
Klagebegehren durch Auslegung unter Berücksichtigung des Inhalts der Schriftsätze
ermitteln. Die Ausführungen des Klägers im Einspruchs- und Klageverfahren richteten
sich ausschließlich gegen die Vorsteuerberichtigung. Unter Berücksichtigung des
klägerischen Vortrags im Streitjahr steuerpflichtige Umsätze getätigt zu haben,
können seine Ausführungen nur dahingehend verstanden werden, dass er eine
Änderung --nicht aber die Aufhebung-- der Umsatzsteuerfestsetzung begehrt hat.
Andernfalls hätte das FG die Klage kostenpflichtig "im Übrigen abweisen" müssen.
20 Ohne Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass das FA Aussetzung der
Vollziehung für die gesamte Umsatzsteuerfestsetzung für 2007 gewährt haben soll.
Zur Bestimmung des Klagebegehrens sind insbesondere der angefochtene
Verwaltungsakt, der Antrag sowie der gesamte Inhalt der Klageschriftsätze
heranzuziehen (Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 96 Rz 5),
nicht hingegen Handlungen des FA in anderen Verfahren.
21 c) Nachdem die Klage --aufgrund der Auslegung der Prozesserklärung-- nicht
teilweise abzuweisen war, bedurfte es auch keiner Berichtigung der
Kostengrundentscheidung.
22 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1 i.V.m. § 135 Abs. 2 FGO. Anders
als für das zur jeweiligen Instanz gehörende Berichtigungsverfahren selbst besteht für
das Beschwerdeverfahren keine Kostenfreiheit (z.B. BFH-Beschluss vom 11. Mai
2010 IX B 209/09, BFH/NV 2010, 1478, Rz 6, m.w.N.).