Urteil des BFH vom 19.01.2012

Fehlerhafte Handhabung einer Bekanntgabenorm als Verfahrensmangel

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 19.1.2012, IV B 9/11
Fehlerhafte Handhabung einer Bekanntgabenorm als Verfahrensmangel
Gründe
1 Die Beschwerde ist unbegründet und durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz
1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Revision ist nicht wegen des Vorliegens von
Verfahrensfehlern (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) zuzulassen. Soweit die Beschwerde überhaupt
den Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügt, liegen die
behaupteten Verfahrensfehler jedenfalls nicht vor.
2 1. Bereits unzulässig ist die Rüge der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), das
Finanzgericht (FG) habe gegen das Recht auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, §
96 Abs. 2 FGO) und gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) verstoßen.
Insoweit fehlt es für die Darlegung eines Gehörsverstoßes schon an Ausführungen dazu,
welches konkrete, aus der insoweit maßgeblichen Sicht des FG entscheidungserhebliche
Vorbringen der Klägerin das Gericht übergangen haben soll (z.B. Beschluss des
Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 12. November 2008 X B 112/08, BFH/NV 2009, 161). Die
ordnungsgemäße Darlegung eines Verstoßes gegen die Sachaufklärungspflicht hätte --
woran es fehlt-- Ausführungen dazu erfordert, welche Tatfragen aufklärungsbedürftig
waren, welche Beweise zu welchem Beweisthema das FG nicht erhoben hat, inwiefern das
angefochtene Urteil unter Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des
Gerichts auf der unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann und dass entweder die
Nichterhebung angebotener Beweise von der --anwaltlich vertretenen-- Klägerin in der
mündlichen Verhandlung gerügt worden ist oder aber warum die Rüge nicht rechtzeitig
erhoben werden konnte (z.B. BFH-Beschluss vom 20. April 2011 IV B 32/10, BFH/NV
2011, 1884).
3 2. Jedenfalls unbegründet ist die Rüge, das FG habe gegen das Gebot verstoßen, seiner
Entscheidung das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde zu legen (§ 96 Abs. 1 Satz 1
FGO). Die Entscheidung des FG, nach der aus dem Akteninhalt und dem Verlauf der
mündlichen Verhandlung gewonnenen Überzeugung sei ohne Weiteres davon
auszugehen, dass die Einspruchsentscheidung am 12. Februar 2010 zur Post gelangt sei,
lässt insbesondere nicht den Schluss zu, das Gericht habe bei seiner Entscheidung "die
Frage des fehlenden Ausgangsvermerks in der Poststelle" nicht berücksichtigt, zumal es
keines Absendevermerks der Poststelle bedarf, um den Tag der Aufgabe eines
Verwaltungsakts zur Post feststellen zu können (z.B. BFH-Urteil vom 9. Dezember 2009 II
R 52/07, BFH/NV 2010, 824). Dass das FG den Sachverhalt anders gewürdigt hat als von
der Klägerin begehrt, stellt keinen Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO dar. Selbst
(vermeintlich) fehlerhafte Sachverhaltswürdigungen sind materiell-rechtliche Fehler und
keine Verfahrensfehler (z.B. BFH-Beschluss vom 12. Mai 2010 IV B 137/08, BFH/NV 2010,
1850).
4 3. Eine fehlerhafte Handhabung der für den Lauf der Klagefrist maßgeblichen
Bekanntgabenorm führt zwar grundsätzlich zu einem Verfahrensmangel (z.B. BFH-
Beschluss vom 30. November 2006 XI B 13/06, BFH/NV 2007, 389). Die Beschwerde ist
jedoch insoweit nicht begründet, weil das FG § 122 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) nicht
fehlerhaft angewendet hat.
5 a) Diese Vorschrift fingiert den Zugang eines mit der Post übermittelten Verwaltungsakts
am dritten Tag nach dessen Aufgabe zur Post. Zu einer weiteren Aufklärung des
Sachverhalts und ggf. zu einer Entscheidung nach den Grundsätzen der Beweislast kommt
es nur, wenn Zweifel am Zugang des Verwaltungsakts innerhalb der Frist des § 122 Abs. 2
AO begründet sind. Dies ist der Fall, wenn der Empfänger des Verwaltungsakts
substantiiert und schlüssig Tatsachen vorträgt, die auf einen späteren Zugang des
Bescheids hindeuten (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss in BFH/NV 2007,
389). Nach den Feststellungen des FG fehlt es im Streitfall jedoch an einem solchen
substantiierten Vortrag der Klägerin.
6 b) Dass das FG diese Feststellungen unter Verstoß gegen verfahrensrechtliche
Bestimmungen getroffen hat, hat die Klägerin nicht substantiiert dargelegt. Mit ihrem
diesbezüglichen Vorbringen wendet sie sich vielmehr gegen die Sachverhalts- und
Beweiswürdigung des FG. Diese ist auf der Grundlage der Feststellungen des FG jedoch
vertretbar und daher für das Revisionsgericht in einem etwaigen Revisionsverfahren
bindend. Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, dass das FG bei seiner Würdigung
zum Nachteil der Klägerin berücksichtigt hat, dass sie den behaupteten einwöchigen
Postlauf anhand des Poststempels oder anhand des Bescheiddatums erkennen konnte
und es gleichwohl unterlassen hat, diesen Umstand umgehend dem Beklagten und
Beschwerdegegner (Finanzamt) anzuzeigen oder zumindest den mit dem Poststempel
versehenen Briefumschlag aufzubewahren (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 1. Dezember
2010 VIII B 123/10, BFH/NV 2010, 410, m.w.N.). Soweit die Klägerin vorträgt, es bleibe
offen, welche Beweiskraft dem Briefumschlag angesichts des mit einem Eingangsstempel
vom 19. Februar 2010 versehenen Schreibens vom 12. Februar 2010 zukommen könne,
übersieht sie, dass gerade bei Streit über den Zugangszeitpunkt eines Schreibens der
Poststempel auf dem Umschlag höhere Gewähr für die Richtigkeit des gestempelten
Datums bietet als ein --ggf. erst nachträglich aufgebrachter-- Eingangsstempel des
Empfängers auf dem empfangenen Schriftstück. Abgesehen davon lässt sich weder dem
Urteil des FG noch dem Protokoll über die mündliche Verhandlung entnehmen, dass sich
auf dem im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegten Schreiben vom 12. Februar
2010 ein auf den 19. Februar 2010 lautender Posteingangsstempel befunden hat.