Urteil des BFH vom 15.06.2016

Kindergeld: Keine Übertragung des Kinderfreibetrags sowie des Freibetrags für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf eines minderjährigen Kindes

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 15.6.2016, III R 18/15
Kindergeld: Keine Übertragung des Kinderfreibetrags sowie des Freibetrags für den Betreuungs- und Erziehungs- oder
Ausbildungsbedarf eines minderjährigen Kindes
Leitsätze
Allein der Umstand, dass ein sorgeberechtigter Elternteil, der sein minderjähriges Kind in seinen Haushalt aufgenommen
hat, für sich und sein Kind Leistungen nach dem SGB II bezieht, rechtfertigt nicht die Übertragung des diesem für sein Kind
zustehenden Kinderfreibetrags und des Freibetrags für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf auf den
anderen Elternteil, der den Barunterhalt für das gemeinsame Kind leistet.
Tenor
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. Juli 2015 4 K 4233/14 wird als
unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens haben die Kläger zu tragen.
Tatbestand
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I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Ehegatten, die im Streitjahr (2013) zusammen zur Einkommensteuer
veranlagt wurden. Die Klägerin ist die leibliche Mutter der im September 1996 geborenen Tochter J. Für diese leistete
sie im Streitjahr Barunterhalt. Die ledige J lebte im Streitjahr im Haushalt des sorgeberechtigten Vaters S; sie war
dort polizeilich gemeldet. S bezog für sich und J Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
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Mit ihrer für das Streitjahr abgegebenen gemeinsamen Einkommensteuererklärung beantragten die Kläger für J den
Abzug des doppelten Freibetrags für das sächliche Existenzminimum des Kindes (Kinderfreibetrag) und des
doppelten Freibetrags für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes (BEA-Freibetrag) i.S.
des § 32 Abs. 6 Sätze 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG).
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) lehnte in dem Einkommensteuerbescheid für 2013 die
beantragte Übertragung der Freibeträge des S ab.
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Den hiergegen eingelegten Einspruch wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 22. September 2014 als
unbegründet zurück. S sei seiner Verpflichtung zum Unterhalt nachgekommen, weil er J in seinen Haushalt
aufgenommen und dadurch Betreuungsunterhalt geleistet habe, der dem von der Klägerin geleisteten Barunterhalt
gleichwertig gegenüberstehe.
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Mit der dagegen beim Finanzgericht (FG) erhobenen Klage begehrten die Kläger die Berücksichtigung weiterer
Freibeträge für J in Höhe von insgesamt 3.504 EUR. Das FG wies die Klage mit dem in Entscheidungen der
Finanzgerichte (EFG) 2015, 1814 veröffentlichten Urteil ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, eine
Übertragung des Kinderfreibetrags scheitere daran, dass S unstreitig seiner Verpflichtung zur Leistung von
Betreuungsunterhalt nachgekommen sei; eine Verletzung der Unterhaltspflicht liege nicht vor. Deshalb scheide auch
die Übertragung des Kinderfreibetrags wegen fehlender Leistungsfähigkeit aus. Eine Übertragung des
Betreuungsfreibetrags komme nicht in Betracht, weil J nicht in der Wohnung der Klägerin gemeldet gewesen sei;
zudem habe S die Tochter J im Streitjahr nicht nur unerheblich betreut.
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Die Kläger rügen mit ihrer Revision eine Verletzung materiellen Rechts.
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Sie beantragen sinngemäß,
das Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 14. Juli 2015 4 K 4233/14 und die Einspruchsentscheidung vom
22. September 2014 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid 2013 vom 7. August 2014 dahingehend
abzuändern, dass der weitere auf den anderen Elternteil entfallende Kinder- und BEA-Freibetrag für die Tochter J in
Höhe von insgesamt 3.504 EUR berücksichtigt wird und die Einkommensteuer entsprechend herabzusetzen.
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Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das
FG hat zutreffend entschieden, dass die Voraussetzungen für die Übertragung des Kinderfreibetrags nach § 32
Abs. 6 Satz 1 Alternative 1, Satz 6 EStG (dazu unter 1.) sowie des BEA-Freibetrags nach § 32 Abs. 6 Satz 1
Alternative 2, Satz 8 EStG (dazu unter 2.) auf die Kläger nicht vorliegen.
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1. Nach § 32 Abs. 6 Satz 6 EStG wird bei einem unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Elternpaar, bei dem die
Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG nicht vorliegen, auf Antrag eines Elternteils der dem anderen
Elternteil zustehende Kinderfreibetrag auf ihn übertragen, wenn er, nicht jedoch der andere Elternteil, seiner
Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind für das Kalenderjahr im Wesentlichen nachkommt oder der andere Elternteil
mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist.
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a) Die Unterhaltspflicht i.S. dieser Vorschrift bestimmt sich nach bürgerlichem Recht. Für den Unterhalt, der den
gesamten Lebensbedarf umfasst (§ 1610 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs --BGB--), haften Eltern als gleich
nahe Verwandte ihren Kindern anteilig nach ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen (§ 1606 Abs. 3 Satz 1
BGB; z.B. Senatsurteil vom 24. März 2006 III R 57/00, BFH/NV 2006, 1815, unter II.1., zu § 32 Abs. 6 Satz 4 EStG
in der für das Jahr 1987 gültigen Fassung). Nach § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB erfüllt der Elternteil, der ein
minderjähriges unverheiratetes Kind betreut, seine Verpflichtung, zum Unterhalt des Kindes beizutragen, in der
Regel durch dessen Pflege und Erziehung. Der andere, nicht betreuende Elternteil hat den Unterhalt durch
Entrichtung einer Geldrente zu gewähren (§ 1612 Abs. 1 Satz 1 BGB). Die gesetzliche Regelung geht mithin davon
aus, dass ein Elternteil das minderjährige Kind betreut und versorgt und der andere Elternteil die hierfür
erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen hat (Beschluss des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 12. März 2014
XII ZB 234/13, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2014, 1958, unter B.II.2.a). Liegt das deutliche
Schwergewicht der Betreuung bei einem Elternteil und trägt dieser die Hauptverantwortung für das Kind, so erfüllt
dieser Elternteil durch die Pflege und Erziehung des Kindes seine Unterhaltspflicht i.S. des § 1606 Abs. 3 Satz 2
BGB (vgl. BGH-Urteil vom 28. Februar 2007 XII ZR 161/04, NJW 2007, 1882, unter 2.b).
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b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das FG zu Recht entschieden, dass der Kinderfreibetrag des S
nicht nach § 32 Abs. 6 Satz 6 Alternative 1 EStG auf die Kläger zu übertragen ist, da S seine Unterhaltspflicht im
Streitjahr durch die Leistung von Betreuungsunterhalt erfüllt hat.
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Aus dem Umstand, dass ein Elternteil keinen Barunterhalt --sondern Betreuungsunterhalt-- leistet, ergibt sich kein
Anspruch auf Übertragung des Kinderfreibetrags. Wird nur Betreuungsunterhalt geschuldet (vgl. § 1606 Abs. 3
Satz 2 BGB), ist die Erfüllung dieser Pflicht entscheidend, da der Gesetzgeber von der Gleichwertigkeit der
Unterhaltsleistung durch Zahlung von Geldbeträgen und durch persönliche Betreuung ausging. Dies hat der Senat
bereits zu § 32 Abs. 6 Satz 7 Halbsatz 1 EStG in der für das Jahr 2001 geltenden Fassung (ab dem
Veranlagungszeitraum 2002: Satz 6) entschieden (Senatsurteil vom 27. September 2007 III R 71/06,
Entscheidungssammlung zum Familienrecht --EzFamR--, EStG §§ 33, 33a, 33b, 33c Nr. 43, unter II.3., m.w.N.).
Hieran hält der Senat auch für § 32 Abs. 6 Satz 6 Alternative 1 EStG fest. Nach den nicht mit Verfahrensrügen
angegriffenen und daher für den Senat nach § 118 Abs. 2 FGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG ist
der Kindsvater S, der J im Streitjahr in seinen Haushalt aufgenommen hatte, seiner Verpflichtung zur Leistung von
Betreuungsunterhalt nachgekommen. Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig.
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c) Zutreffend ist das FG auch davon ausgegangen, dass die Übertragung des Kinderfreibetrags auf die Kläger nach
§ 32 Abs. 6 Satz 6 Alternative 2 EStG aus den unter II.1.b dargestellten Gründen ebenfalls ausscheidet.
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Mit der Änderung von § 32 Abs. 6 Satz 6 EStG durch das Steuervereinfachungsgesetz 2011 vom 1. November
2011 (BGBl I 2011, 2131) trägt der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung, dass nach damaliger Rechtslage eine
Übertragung des Kinderfreibetrags des einen Elternteils nicht in Betracht kam, wenn dieser Elternteil mangels
Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig gegenüber dem Kind war (vgl. BTDrucks 17/6146, S. 14; zu der
diesbezüglichen Rechtsprechung, vgl. z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25. Juli 1997 VI R 107/96,
BFHE 184, 60, BStBl II 1998, 329; vom 27. Oktober 2004 VIII R 11/04, BFH/NV 2005, 343, unter II.1.a, m.w.N.,
und Senatsbeschluss vom 8. Dezember 2009 III B 227/08, BFH/NV 2010, 639, Rz 6, m.w.N.). Die Neufassung des
Satzes 6 soll in diesen Fällen die Übertragung des Kinderfreibetrags ermöglichen, um den Elternteil, der
gezwungenermaßen allein für den Unterhalt des Kindes aufkommt, auch allein zu entlasten (BTDrucks 17/6146,
S. 14).
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Der sorgeberechtigte Kindsvater S schuldete im Streitjahr jedoch Unterhalt; er erfüllte seine Unterhaltspflicht auch
unstreitig durch die Leistung von Betreuungsunterhalt. Die Kläger sind somit nicht allein für den Unterhalt des
Kindes J aufgekommen. Damit ergibt sich im Streitfall --anders als die Kläger meinen-- allein aus dem Umstand, dass
S für sich und J Leistungen nach dem SGB II bezog, kein Anspruch auf Übertragung des Kinderfreibetrags.
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2. Bei minderjährigen Kindern wird nach § 32 Abs. 6 Satz 8 EStG der dem Elternteil, in dessen Wohnung das Kind
nicht gemeldet ist, zustehende BEA-Freibetrag auf Antrag des anderen Elternteils auf diesen übertragen, wenn bei
dem Elternpaar die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG nicht vorliegen.
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Das FG hat das Vorliegen dieser Voraussetzungen für die Übertragung des BEA-Freibetrags auf die Kläger im
Streitfall zutreffend verneint. Denn ausweislich der bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG war J im
Streitjahr nicht bei den Klägern gemeldet, sondern unter der Adresse des S. Die Kläger waren somit schon nicht
antragsberechtigt i.S. des § 32 Abs. 6 Satz 8 EStG.
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3. Dieses Ergebnis ist auch nicht verfassungsrechtlich zu beanstanden.
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Insbesondere ist --entgegen der Ansicht der Kläger-- eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung von Elternpaaren,
die nicht die Voraussetzungen der Ehegattenveranlagung erfüllen, gegenüber zusammenveranlagten Ehegatten
nicht zu erkennen. Denn zusammenveranlagte Ehegatten erhalten keinen höheren Kinderfreibetrag oder BEA-
Freibetrag als die Elternpaare, welche die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG nicht erfüllen.
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Nach der Rechtsprechung des BFH besteht zudem kein verfassungsrechtlicher Anspruch darauf, dass nicht
zusammenlebende Elternteile im Rahmen ihrer Veranlagung zur Einkommensteuer bei der steuerlichen Entlastung
wegen eines unterhaltberechtigten Kindes in der Summe betragsmäßig genauso oder etwa gar besser gestellt
werden, als würden sie zusammen mit dem anderen Elternteil zur Einkommensteuer veranlagt werden (BFH-Urteil
vom 26. Februar 2002 VIII R 90/98, BFH/NV 2002, 1137, unter 3.b). Den verfassungsrechtlichen Vorgaben ist
genügt, wenn sichergestellt ist, dass jeder Elternteil im Rahmen seiner Veranlagung zur Einkommensteuer die ihm
unter Berücksichtigung der Höhe seines Einkommens verfassungsrechtlich zustehende Entlastung wegen des für
sein Kind geleisteten Unterhalts erhält (BFH-Urteil in BFH/NV 2002, 1137, unter 3.b, und Senatsurteil in EzFamR,
EStG §§ 33, 33a, 33b, 33c Nr. 43, unter II.3.).
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.