Urteil des BFH vom 12.08.2011

Rechtmäßigkeit des (weiteren) Vollzugs eines bestandskräftigen, erst im Nachhinein durch eine von der Rechtsprechung des BFH abweichenden Gesetzesauslegung durch das BVerfG rechtswidrig gewordenen Verwaltungsakts - Keine Begründung der Wiedereinsetzung du

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 12.8.2011, III B 57/11
Rechtmäßigkeit des (weiteren) Vollzugs eines bestandskräftigen, erst im Nachhinein durch eine
von der Rechtsprechung des BFH abweichenden Gesetzesauslegung durch das BVerfG
rechtswidrig gewordenen Verwaltungsakts - Keine Begründung der Wiedereinsetzung durch
andauernden Vollzug eines rechtswidrig gewordenen Verwaltungsaktes
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erhielt für seinen Sohn (S) während des
gesamten Jahres 2003 Kindergeld. Mit Bescheid vom 27. Juli 2004 setzte die
Familienkasse der Stadt P das Kindergeld für S für 2003 unter Verweis auf den nach § 32
Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) überschrittenen Grenzbetrag auf 0
EUR fest. Im selben Bescheid erklärte die Familienkasse die Aufrechnung des
Erstattungsbetrags (§ 37 Abs. 2 der Abgabenordnung --AO--) in monatlichen Raten von 200
EUR mit dem Anspruch des Klägers auf Besoldung, Vergütung bzw. Lohn. Der Bescheid
wurde bestandskräftig.
2 Im Mai 2005 wandte sich der Kläger an die Familienkasse der Stadt P und bat unter
Verweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar
2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) um Prüfung, ob das
Verfahren rückwirkend wieder aufgenommen werden könne. Ende Juni 2005 legte der nun
anwaltlich vertretene Kläger "Widerspruch gegen die Rückforderung des bereits
ausbezahlten Kindergelds" ein und beantragte zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand. Die zwischenzeitlich sachlich zuständig gewordene Beklagte und
Beschwerdegegnerin (Familienkasse) verwarf den Einspruch wegen Verfristung als
unzulässig und lehnte auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab. Mit seiner
Klage begehrte der Kläger die Aufhebung des Änderungsbescheides vom 27. Juli 2004
und der Einspruchsentscheidung vom 10. August 2009. Das Finanzgericht (FG) wies die
Klage unter Verweis auf die Bestandskraft der Nullfestsetzung und fehlenden
Änderungsmöglichkeiten mit Urteil vom 24. Februar 2011 13 K 3760/09 ab. Auch eine
Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist komme nicht in Betracht. Der
Familienkasse sei es zudem nicht nach dem Grundsatz von Treu und Glauben verwehrt,
sich auf die Bestandskraft des Nullfestsetzungsbescheides zu berufen.
3 Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, die Revision sei wegen
grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--) und zur Rechtsfortbildung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO)
zuzulassen.
Entscheidungsgründe
4 II. Die Beschwerde ist unzulässig und daher zu verwerfen. Der Kläger hat die von ihm
geltend gemachten Revisionszulassungsgründe nicht in einer den Anforderungen des §
116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechenden Weise dargelegt. Sie liegen im Übrigen auch
nicht vor.
5 1. Eine Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115
Abs. 2 Nr. 1 FGO) kommt nicht in Betracht. Der Kläger hat zwar konkrete Rechtsfragen
formuliert, er hat allerdings weder zu deren Bedeutung für die Allgemeinheit noch zu
deren Klärungsbedürftigkeit substantiiert Stellung genommen. Die von dem Kläger
aufgeworfenen Rechtsfragen sind auch nicht grundsätzlich bedeutsam.
6 a) Die vom Kläger für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Rechtsfrage, ob der (weitere)
Vollzug eines Bescheides, der zum Zeitpunkt seines Ergehens der Auslegung des § 32
Abs. 4 Satz 2 EStG durch den Bundesfinanzhof (BFH) entsprach und erst durch eine
andere Auslegung durch das BVerfG rechtswidrig geworden ist, in Kenntnis dieser
Rechtswidrigkeit rechtmäßig sei, ist nicht klärungsbedürftig, da sie sich eindeutig aus dem
Gesetz sowie der Rechtsprechung ergibt.
7 In § 124 Abs. 1 und Abs. 2 AO ist festgelegt, dass ein Verwaltungsakt mit dem
bekanntgegebenen Inhalt wirksam wird und dies auch bleibt, solange und soweit er nicht
aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Dies gilt
grundsätzlich auch für rechtswidrige bzw. fehlerhafte Verwaltungsakte mit Ausnahme des
nichtigen Verwaltungsakts (§ 124 Abs. 3 AO). Dem Betroffenen wird also zugemutet, sich
zur Wehr zu setzen, wenn er einen Verwaltungsakt für fehlerhaft hält (Güroff in
Beermann/Gosch, AO § 124 Rz 12). Der wirksame und erst recht der bestandskräftige
Verwaltungsakt binden die Behörde und den Betroffenen. Im Streitfall wurde die
Bestandskraft des Bescheides vom 27. Juli 2004 auch nicht durch den Beschluss des
BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 berührt (vgl. Senatsurteil vom
28. Juni 2006 III R 13/06, BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714). Die Bindungswirkung des
bestandskräftigen Verwaltungsakts geht der materiellen Gerechtigkeit dabei vor (vgl. z.B.
BFH-Beschluss vom 29. November 2005 IX B 161/05, BFH/NV 2006, 897). Unerheblich
ist insoweit, ob der Verwaltungsakt in dem Zeitpunkt, in dem seine Rechtswidrigkeit
bemerkt wird, bereits vollständig vollzogen ist oder die Vollziehung --wie im Streitfall
aufgrund der ratenweisen Aufrechnung-- noch fortdauert.
8 Sodann ergibt sich aus § 361 AO und § 69 FGO, dass im Abgabenrecht, zu dem auch das
Kindergeld als Steuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG) zählt, (selbst) durch die Einlegung
eines außergerichtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfs die Vollziehung --d.h. die
zwangsweise oder auch freiwillige Verwirklichung-- des angefochtenen Verwaltungsakts
regelmäßig nicht gehemmt, insbesondere die Erhebung der Abgabe --im Streitfall des
Rückforderungsanspruchs-- nicht aufgehalten wird (z.B. Gosch in Beermann/Gosch, AO §
361 Rz 2, FGO § 69 Rz 7). Danach bedarf es einer besonderen Entscheidung, um die
Vollziehbarkeit eines Steuerverwaltungsakts auszusetzen.
9 Schließlich ist bereits geklärt, dass es für die Frage, ob Kindergeld behalten werden darf
oder zurückzuzahlen ist, auf das Vorliegen von Kindergeldfestsetzungs- oder
Aufhebungsbescheiden --mithin auf die formelle Bescheidlage-- ankommt und nicht auf
den abstrakten materiell-rechtlichen Kindergeldanspruch (vgl. Senatsurteil vom 15. Juli
2010 III R 32/08, BFH/NV 2010, 2237). Mit der Aufhebung des Festsetzungsbescheides --
bzw. einer insoweit vergleichbaren Nullfestsetzung-- entfällt der Rechtsgrund für das
Behaltendürfen des Kindergelds, so dass dieses nach § 37 Abs. 2 Satz 1 AO
zurückzuzahlen ist.
10 b) Soweit der Kläger weiter geklärt wissen möchte, ob einem Wiedereinsetzungsantrag
vor dem Hintergrund stattzugeben sei, dass ein rechtswidrig gewordener Verwaltungsakt
wegen seiner Bestandskraft vollzogen wird, wird ebenfalls keine klärungsbedürftige
Rechtsfrage aufgeworfen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO
setzt voraus, dass der Betreffende --in diesem Fall der Kindergeldberechtigte-- schuldlos
daran gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Ob der rechtswidrig gewordene
Verwaltungsakt von der Behörde (weiter) vollzogen wird, ist für die Frage der schuldlosen
Fristversäumnis nicht relevant. Denn hieraus ergibt sich kein Grund, der den Kläger an
der unterbliebenen rechtzeitigen Einspruchseinlegung gehindert haben könnte. Eine
Wiedereinsetzung kann mit dem (andauernden) Vollzug eines rechtswidrig gewordenen
Verwaltungsakts folglich nicht begründet werden.
11 c) Soweit der Kläger schließlich die Frage geklärt wissen möchte, ob ein öffentlich-
rechtlicher Arbeitgeber, der aufgrund seiner besonderen Stellung erleichterten Zugriff auf
das Einkommen des Steuerpflichtigen habe, aufgrund der besonderen Rechtsstellung des
öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses gesondert verpflichtet sei, auf anhängige
Verfahren hinzuweisen, fehlt es bereits an der Darlegung der Klärungsbedürftigkeit. Der
bloße Hinweis, diese Frage sei höchstrichterlich noch nicht entschieden, genügt insoweit
nicht (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 5. Dezember 2007 VIII B 79/07, BFH/NV 2008, 732),
da sich daraus die Klärungsbedürftigkeit der zu entscheidenden Rechtsfrage nicht ergibt.
12 Es ist auch weder dargelegt noch erkennbar, dass die Frage in einem Revisionsverfahren
klärungsfähig wäre. So war die hier beklagte Familienkasse bereits nicht Arbeitgeberin
des Klägers, kann also selbst keine ihr aus dieser Stellung etwaig obliegenden Pflichten
verletzt haben. Arbeitgeberin war ursprünglich vielmehr die Stadt P als Betreiberin des
Städtischen Klinikums, in dem der Kläger beschäftigt war. Erst infolge der Veräußerung
des Klinikums an einen privaten Träger wurde die beklagte Familienkasse nach den
Feststellungen des FG ab dem 1. April 2005 zuständig. Auch ansonsten ist nicht
ersichtlich, inwiefern die Beantwortung der Frage für das finanzgerichtliche Verfahren
relevant wäre. So ist auch die vormals zuständige Stadt P im Rahmen des
Kindergeldverfahrens nicht in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeberin, sondern als
Familienkasse tätig geworden (vgl. § 72 Abs. 1 Satz 2 EStG). Damit war sie
Finanzbehörde (§ 6 Abs. 2 Nr. 6 AO) und unterlag dem Anwendungsbereich der AO
(Wendl in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 72 EStG Rz 17). Mit der Vorschrift des § 89 AO
sowie der dazu ergangenen Rechtsprechung und Literatur (z.B. Michaelis,
Kindergeldverfahren im öffentlichen Dienst ab 1996, S. 57 f.) hat sich der Kläger nicht
auseinandergesetzt.
13 2. Der vom Kläger geltend gemachte Zulassungsgrund der Erforderlichkeit einer
Entscheidung des BFH zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO) ist ein
Unterfall der grundsätzlichen Bedeutung. In beiden Fällen muss es sich um eine
klärungsbedürftige und klärbare Rechtsfrage handeln (z.B. Senatsbeschluss vom 8.
Februar 2007 III B 136/06, BFH/NV 2007, 902). Aus den vorstehenden Ausführungen
ergibt sich indes, dass diese Voraussetzungen hier nicht erfüllt sind.