Urteil des BFH vom 06.08.2015

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; Anforderungen an die Sorgfaltspflichten des Prozessbevollmächtigten

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 6.8.2015, III B 46/15
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; Anforderungen an die Sorgfaltspflichten des
Prozessbevollmächtigten
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des
Hessischen Finanzgerichts vom 19. Februar 2015 3 K 2310/13 wird als unzulässig
verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist die Mutter ihrer im Mai 1990
geborenen Tochter. Mangels Nachweises der Anspruchsvoraussetzungen hob die
Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) mit Bescheid vom 31. Mai 2012
die Kindergeldfestsetzung ab September 2009 auf und forderte das für die Monate
September 2009 bis Dezember 2009, Januar 2010 bis Januar 2011 sowie April 2011
bis März 2012 bereits ausbezahlte Kindergeld von der Klägerin zurück. Mangels
Rückzahlung leitete die Familienkasse Vollstreckungsmaßnahmen ein. Am 4. Juni
2013 teilte die Familienkasse dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit, dass die
Forderung aufgrund der Angabe der Klägerin, den Bescheid vom 31. Mai 2012 nicht
erhalten zu haben, storniert worden und die Vollstreckungsmaßnahmen aufgehoben
worden seien.
2 Mit Bescheid vom 9. September 2013 hob die Familienkasse die
Kindergeldfestsetzung erneut für die Monate September 2009 bis Januar 2011 und ab
April 2011 auf und forderte das überzahlte Kindergeld zurück. Den hiergegen
gerichteten Einspruch wies sie mit Einspruchsentscheidung vom 7. Oktober 2013 als
unbegründet zurück.
3 Die dagegen gerichtete Klage blieb ohne Erfolg. Das Urteil wurde dem
Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 17. März 2015 zugestellt.
4 Mit beim Bundesfinanzhof (BFH) am 20. April 2015 eingegangenem Telefax vom
selben Tag legte der Prozessbevollmächtigte Beschwerde wegen Nichtzulassung der
Revision ein und beantragte Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdefrist. Zur
Begründung des Wiedereinsetzungsantrags führte er aus, dass er am 17. April 2015
wegen der Vorbereitung auf eine für diesen Tag anberaumte Veranstaltung einer
Juristischen Vereinigung die Nichtzulassungsbeschwerde nicht habe vorbereiten
können. Auf der Veranstaltung, die für 16:30 Uhr bis 18:30 Uhr angesetzt gewesen sei,
habe er sich zunehmend gesundheitlich unwohl gefühlt. Sein Blutdruck sei gesunken
und es habe sich eine allgemeine Übelkeit eingestellt (Kopfschmerzen, Anzeichen von
Erbrechen/Würgereiz u.Ä.). Er habe dann bis ca. kurz nach 19 Uhr auf der
Veranstaltung ausgeharrt und sei dann nicht --wie geplant-- zurück in die Kanzlei,
sondern nach Hause gefahren. Wegen der plötzlichen und unvorhergesehen
Erkrankung, die noch am 18. April 2015 angedauert habe, habe er weder jemand
kurzfristig mit der Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde betrauen noch die Frist
für die Einlegung der Beschwerde einhalten können. Seine Angaben versicherte der
Prozessbevollmächtigte anwaltlich und an Eides Statt. Ferner legte er die
eidesstattliche Versicherung eines Berufskollegen vor, in dessen Kanzlei die
Veranstaltung stattgefunden hatte. Dieser bestätigte, dass die Veranstaltung bis ca.
19 Uhr gedauert und ihm der Prozessbevollmächtigte mitgeteilt habe, dass ihm sehr
übel sei und er direkt nach Hause fahre.
5 Zur Begründung ihrer Beschwerde beruft sich die Klägerin auf die grundsätzliche
Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--)
und eine Erforderlichkeit der Rechtsfortbildung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO).
Entscheidungsgründe
6 II. Die Beschwerde ist unzulässig und durch Beschluss zu verwerfen (§ 116 Abs. 5
Satz 1 FGO).
7 1. Die Beschwerdefrist wurde versäumt. Wiedereinsetzung in die versäumte
Beschwerdefrist ist nicht zu gewähren.
8 a) Nach § 116 Abs. 1 FGO kann die Nichtzulassung der Revision durch Beschwerde
angefochten werden. Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des
vollständigen Urteils beim BFH einzulegen (§ 116 Abs. 2 Satz 1 FGO). Hierauf wurde
die Klägerin durch die der angefochtenen Vorentscheidung beigefügte
Rechtsmittelbelehrung hingewiesen. Das Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten
der Klägerin am 17. März 2015 zugestellt. Die einmonatige Beschwerdefrist endete
daher gemäß § 54 FGO i.V.m. § 222 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) sowie
§§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs mit Ablauf des 17. April
2015 (Freitag). Die erst am 20. April 2015 beim BFH eingegangene Beschwerde war
somit verspätet.
9 b) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 Abs. 1 FGO) ist nicht zu gewähren,
da der Prozessbevollmächtigte, dessen Verhalten sich die Klägerin zurechnen lassen
muss (§ 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO), nicht ohne Verschulden gehindert war,
die Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde einzuhalten.
10 aa) Ein Verschulden i.S. des § 56 FGO ist, jedenfalls wenn es sich um die
Fristversäumnis eines Steuerberaters oder Rechtsanwalts handelt, nur dann zu
verneinen, wenn dieser die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und
vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt angewendet hat (vgl. Senatsbeschluss vom
7. Februar 2002 III R 12/01, BFH/NV 2002, 794, m.w.N.; BFH-Beschluss vom
16. März 2005 X R 8/04, BFH/NV 2005, 1341). Der Prozessbevollmächtigte einer
Partei muss daher alles ihm Zumutbare tun, damit die Frist zur Einlegung oder
Begründung eines Rechtsmittels gewahrt wird. Dementsprechend hat er die nach den
jeweiligen Umständen gebotene Vorsorge für den Fall zu treffen, dass er
unvorhergesehen an der Wahrnehmung seiner Aufgaben, insbesondere an der
Wahrung gesetzlicher Pflichten, gehindert wird. Daraus folgt, dass auch ein allein und
ohne Personal tätiger Prozessbevollmächtigter sicherstellen muss, dass im
Krankheitsfall ein Vertreter für ihn vorhanden ist oder dass zumindest eine
Vertrauensperson sich an einen solchen wenden kann (Senatsbeschluss in BFH/NV
2002, 794, m.w.N.; BFH-Beschluss in BFH/NV 2005, 1341, m.w.N.).
11 bb) Demgemäß ist es für die schlüssige Begründung eines
Wiedereinsetzungsantrags nicht ausreichend, allein den Umstand der Erkrankung
darzulegen; erforderlich sind vielmehr substantiierte Ausführungen dazu, welche
Vorkehrungen (Büroorganisation, Bestellung eines Vertreters) der
Prozessbevollmächtigte getroffen hat, um eine Fristversäumnis zu vermeiden, oder
aus welchen Gründen (z.B. plötzlicher Ausbruch der Krankheit) der Prozessvertreter
Maßnahmen dieser Art nicht hat ergreifen können (Senatsbeschluss vom 30. August
2005 III R 15/05, BFH/NV 2006, 89; BFH-Beschluss in BFH/NV 2005, 1341, m.w.N.).
12 cc) Das Fehlen einer geeigneten Vorsorgemaßnahme wirkt sich auf die Versäumung
der Rechtsmittelfrist nur dann nicht aus, wenn der Prozessbevollmächtigte plötzlich in
einer Weise erkrankt, die es ihm --auch wenn er sich allgemein um einen Vertreter
gekümmert hat-- unverschuldet unmöglich gemacht hätte, diesen Vertreter rechtzeitig
ausreichend zu informieren (Senatsbeschluss in BFH/NV 2002, 794, m.w.N.; BFH-
Beschluss in BFH/NV 2005, 1341, m.w.N.).
13 dd) Im Streitfall hat der Prozessbevollmächtigte zwar die näheren Umstände seiner
Erkrankung erläutert. Er hat indessen nicht hinreichend dargelegt, dass er alles ihm
Zumutbare getan hat, um die Frist für die Beschwerdeeinlegung zu wahren.
Insbesondere kann dem Vortrag des Prozessbevollmächtigten nicht entnommen
werden, dass er die nach den jeweiligen Umständen gebotenen Vorsorgemaßnahmen
getroffen hat, um im Fall einer unvorhergesehenen Erkrankung eine rechtzeitige
Bearbeitung von Fristsachen zu gewährleisten.
14 Der Prozessbevollmächtigte trägt zu seinen Vorsorgemaßnahmen vor, er arbeite in
Bürogemeinschaft mit mehreren anderen Rechtsanwälten, die sich im Notfall alle
kollegialitär hülfen; freitags sei aber ab 18 Uhr niemand mehr im Büro anwesend.
Hieraus ergeben sich keine den jeweiligen Umständen angepassten
Vorsorgemaßnahmen. Denn die individuelle Arbeitsweise des
Prozessbevollmächtigten, Fristsachen erst am letzten Tag der Frist nach 19 Uhr zu
bearbeiten, hätte verlangt, dass er auch an Freitagen nach 18 Uhr für eine geeignete
Vertretungsmöglichkeit sorgt. Es läge in einem solchen Fall beispielsweise nicht
außerhalb des Bereichs des Zumutbaren, die Erreichbarkeit eines für die Vertretung in
Betracht kommenden Kollegen nicht nur über die Telefonverbindung im Büro, sondern
auch über eine mobile Rufnummer sicherzustellen. Überdies wäre unter den
gegebenen Umständen zumindest darauf einzugehen gewesen, warum der
Prozessbevollmächtigte nicht dem Berufskollegen, mit dem die Veranstaltung der
Juristischen Vereinigung durchgeführt wurde, Untervollmacht erteilt hat. Dies hätte
nahegelegen, nachdem mit dem Berufskollegen ohnehin die Erkrankung besprochen
wurde und dieser sich noch in seiner Kanzlei befand. Anders als der
Prozessbevollmächtigte meint, lässt sich eine Unzumutbarkeit der kurzfristigen
Einschaltung eines Vertreters auch nicht daraus ableiten, dass niemand mehr sich
kurzfristig in die Akten hätte einarbeiten und die Begründung kurzfristig binnen
weniger Stunden hätte einreichen können. Denn nach eigenem Vortrag des
Prozessbevollmächtigten hatte dieser bereits am Vormittag des 17. April 2015 nach
Rücksprache mit der Mandantschaft entschieden, dass Nichtzulassungsbeschwerde
eingelegt wird. Diese Information hätte einem Vertreter für eine fristwahrende
Beschwerdeeinlegung genügt. Eine weitergehende Einarbeitung in den Prozessstoff
zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde war zu diesem Zeitpunkt noch nicht
erforderlich, da die Begründung erst innerhalb der Frist des § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO
hätte erfolgen müssen.
15 2. Im Übrigen ist die Beschwerde auch deswegen unzulässig, weil die Klägerin
Zulassungsgründe nicht in der durch § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO geforderten Weise
dargelegt hat.
16 a) Soweit die Klägerin eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung
der Rechtssache begehrt, fehlt es bereits an der Herausstellung einer bestimmten für
die Entscheidung des Streitfalls erheblichen abstrakten Rechtsfrage. Auch wird in der
Beschwerdebegründung nicht schlüssig und substantiiert unter Auseinandersetzung
mit den zur aufgeworfenen Rechtsfrage in Rechtsprechung und Schrifttum
vertretenen Auffassungen dargetan, weshalb die für bedeutsam gehaltene
Rechtsfrage im Allgemeininteresse klärungsbedürftig und im Streitfall klärbar ist. Die
Klägerin geht insbesondere auch nicht darauf ein, in welchem Umfang, von welcher
Seite und aus welchen Gründen die Beantwortung der Frage zweifelhaft und streitig
ist (vgl. zu den vorgenannten Darlegungserfordernissen z.B. Senatsbeschluss vom
2. Juni 2014 III B 101/13, BFH/NV 2014, 1374, m.w.N.). Ausführungen, aus denen
sich ergibt, der BFH habe über eine bestimmte, dem Streitfall entsprechende
Sachverhaltskonstellation noch nicht entschieden, genügen den Anforderungen an die
Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung ebenso wenig wie das Vorbringen, die
Vorentscheidung leide an einem materiell-rechtlichen Mangel.
17 b) Ebenso unzulässig ist die Beschwerde, soweit die Klägerin die Erforderlichkeit
einer Entscheidung des BFH zur Fortbildung des Rechts geltend macht. Dieser
Zulassungsgrund ist ein Unterfall des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen
Bedeutung (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 5. Mai 2014 III B 85/13, BFH/NV 2014,
1186), der hier --wie ausgeführt-- nicht in einer den Anforderungen nach § 116 Abs. 3
Satz 3 FGO genügenden Weise dargelegt wurde.
18 3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2
FGO).
19 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 2 FGO.