Urteil des BFH vom 03.09.2015

Verhältnis Anfechtungsklage - Nichtigkeitsfeststellungsklage Nichtzulassungsbeschwerde - Rechtschutzbedürfnis - Bindungswirkung rechtskräftiger Urteile

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 3.9.2015, III B 39/15
Verhältnis Anfechtungsklage - Nichtigkeitsfeststellungsklage Nichtzulassungsbeschwerde -
Rechtschutzbedürfnis - Bindungswirkung rechtskräftiger Urteile
Tenor
Die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des
Finanzgerichts Düsseldorf vom 4. Februar 2015 4 K 2807/14 AO wird als unzulässig
verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Kläger zu tragen.
Tatbestand
1 I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) werden zusammen zur
Einkommensteuer veranlagt. In ihrer Einkommensteuererklärung für das Jahr 2004
machten sie einen Verlust aus § 17 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe
von X EUR geltend. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--)
erkannte den Verlust im Einspruchsverfahren lediglich in Höhe von Y EUR an. Die
dagegen gerichtete Klage war teilweise erfolgreich. Mit Urteil vom 15. August 2013
12 K 4144/09 entschied das Finanzgericht Düsseldorf (FG) wie folgt: "Der
angefochtene Einkommensteuerbescheid 2004 in der Fassung der
Einspruchsentscheidung vom 26.10.2009 wird dahin geändert, dass ein Verlust gemäß
§ 17 EStG in Höhe von Z EUR anzusetzen ist. Die Steuerberechnung im Einzelnen
wird dem Beklagten auferlegt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen." Das FA änderte
entsprechend der finanzgerichtlichen Entscheidung den Einkommensteuerbescheid
2004 unter dem 1. Oktober 2013 und setzte den Verlust aus § 17 EStG mit Z EUR an.
Die gegen das Urteil des FG eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde verwarf der
Bundesfinanzhof (BFH) mit Beschluss vom 3. April 2014 IX B 131/13 als unzulässig.
2 Am 13. Mai 2014 begehrten die Kläger, die Nichtigkeit des
Einkommensteuerbescheids 2004 vom 1. Oktober 2013 festzustellen. Das FA lehnte
den Antrag ab und wies den hiergegen eingelegten Einspruch als unbegründet zurück.
3 Die anschließend erhobene Klage wies das FG durch (Sach-)Urteil vom 4. Februar
2015 4 K 2807/14 AO --als unbegründet-- ab. Zur Begründung führte es aus, dass
Nichtigkeitsgründe nicht ersichtlich seien.
4 Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrer Beschwerde. Die Zulassung der Revision
sei wegen Verfahrensmängeln nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --
FGO-- (fehlende Entscheidungsgründe und Verletzung des rechtlichen Gehörs) sowie
zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2
FGO (qualifizierter Rechtsanwendungsfehler und objektive Willkür) geboten.
Entscheidungsgründe
5 II. Die Beschwerde ist unzulässig, weil den Klägern das hierfür erforderliche
Rechtsschutzbedürfnis fehlt (vgl. Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--,
§ 116 FGO Rz 62). Ziel der Nichtzulassungsbeschwerde ist die Eröffnung eines
nachfolgenden Revisionsverfahrens, um in diesem die Nichtigkeit des
Einkommensteuerbescheids 2004 feststellen zu lassen. Einer nochmaligen
gerichtlichen Entscheidung hierüber steht jedoch die Rechtskraft des
finanzgerichtlichen Urteils vom 15. August 2013 12 K 4144/09 (Ersturteil) entgegen
(§ 110 Abs. 1 FGO).
6 1. Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten,
soweit über den Streitgegenstand entschieden wurde. Demgemäß sind auch die
Gerichte in einem späteren Klageverfahren an das rechtskräftige Urteil gebunden,
soweit die Entscheidungsgegenstände des alten und des neuen Klageverfahrens
identisch sind (Senatsbeschluss vom 30. Mai 2012 III B 239/11, BFH/NV 2012, 1470,
Rz 29).
7 Der Streitgegenstand wird durch den Klageanspruch und den Klagegrund bestimmt,
also durch den geltend gemachten materiell-rechtlichen Anspruch und durch den ihm
zugrunde liegenden Sachverhalt (BFH-Beschluss vom 25. Oktober 2012 XI B 48/12,
BFH/NV 2013, 230, Rz 11; Lange in HHSp, § 110 FGO Rz 48 und 35 f.). Für die
Bindungswirkung kommt es auf den vom Gericht seiner Entscheidung tatsächlich
zugrunde gelegten Sachverhalt und auf die hierzu angestellten rechtlichen
Erwägungen an (Entscheidungsgegenstand). Zwar wächst nur der Tenor der
gerichtlichen Entscheidung in Rechtskraft und erzeugt eine Bindungswirkung, die
Entscheidungsgründe geben aber Aufschluss darüber, wie weit die materielle
Rechtskraft reicht.
8 Weist das FG die Klage gegen einen Steuerbescheid ab, so umfasst die Rechtskraft
der Entscheidung die Feststellung, dass der Bescheid weder nichtig noch
rechtswidrig ist (BFH-Beschluss vom 27. August 2014 XI B 32/14, Rz 17 bis Rz 19,
m.w.N.; vgl. Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 7. Januar
2013 8 B 57/12, juris, Rz 5). Dies gilt nur dann nicht, wenn eine Anfechtungsklage
wegen Unzulässigkeit oder fehlender Rechtsverletzung des Klägers abgewiesen wird
(BVerwG-Urteil vom 7. August 2008 7 C 7/08, BVerwGE 131, 346, unter 1.). Die
Nichtigkeitsfeststellungsklage ist daher wegen Identität des Streitgegenstands
unzulässig, wenn der Kläger bereits eine Anfechtungsklage erhoben hat (Steinhauff in
HHSp, § 41 FGO Rz 219).
9 2. Im Streitfall bindet das rechtskräftige Ersturteil die Beteiligten mit der Folge, dass
sich jede neue Entscheidung über die bereits rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge
verbietet. Zwischen dem dem Ersturteil zugrunde liegenden
Entscheidungsgegenstand und dem hiesigen Streitgegenstand ist Identität gegeben.
10 a) Das Ersturteil befasste sich mit der Frage, ob die im Einkommensteuerbescheid
2004 festgesetzte Steuer rechtmäßig war. Insbesondere ging es um die Höhe eines
Verlustes nach § 17 EStG. Das FG hat einen Verlust nur in Höhe von Z EUR als
richtig angesehen und dieses im Tenor eindeutig festgestellt und die Klage im Übrigen
abgewiesen. Das Ersturteil ist durch den ablehnenden Beschluss des BFH vom
3. April 2014 IX B 131/13 (nicht veröffentlicht) über die Beschwerde wegen
Nichtzulassung der Revision rechtskräftig geworden (§ 116 Abs. 5 Satz 3 FGO). Das
FG hat in seinem Ersturteil mit der Entscheidung zur Sache konkludent auch über die
Wirksamkeit der Steuerfestsetzung im Übrigen entschieden, denn die Begrenzung
des § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO, wonach das Gericht nicht mehr zusprechen darf, als
der Kläger mit der Klage begehrt, gilt dann nicht, wenn der Bescheid insgesamt
unwirksam ist (BFH-Beschluss vom 19. Juni 2001 X B 18/01, BFH/NV 2001, 1582,
unter II.). Daran ändert auch der Umstand nichts, dass das FG in seinem Ersturteil
den angefochtenen Einkommensteuerbescheid 2004 nicht selbst geändert hat,
sondern lediglich nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO durch Angabe der zu Unrecht
berücksichtigten tatsächlichen Umstände bestimmt hat, wie die richtig zu ermittelnde
Steuer zu berechnen ist. Bestimmt ein Gericht in Anwendung dieser Vorschrift die
Änderung eines Geldleistungsverwaltungsaktes durch Angabe der zu Unrecht
berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnisse, so erwachsen auch die in den Entscheidungsgründen und im Tenor
enthaltenen Vorgaben ("Determinanten") für die Neuberechnung des Geldbetrages,
soweit sie nicht mit Rechtsmitteln angegriffen werden, in Rechtskraft (vgl. BVerwG-
Urteil vom 3. Juni 2010 9 C 4/09, BVerwGE 137, 105, Rz 16, zu § 113 Abs. 2 Satz 2
der Verwaltungsgerichtsordnung).
11 Die Neuberechnung hat das FA entsprechend der im Ersturteil bestimmten Faktoren
vorgenommen und den im vorliegenden Verfahren angefochtenen
Einkommensteuerbescheid 2004 vom 1. Oktober 2013 erlassen. Dieser wurde zwar
nicht entsprechend § 110 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 2 FGO nach Rechtskraft des
Ersturteils (Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde am 3. April 2014),
sondern schon am 1. Oktober 2013 erlassen. Dabei kann dahinstehen, ob dieser
unter Verletzung des § 100 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 2 FGO verfrüht erlassene
Einkommensteueränderungsbescheid entsprechend § 68 FGO i.V.m. § 127 FGO
Gegenstand des unzulässigen Beschwerdeverfahrens IX B 131/13 geworden ist (vgl.
BFH-Beschluss vom 29. Oktober 2004 XI B 213/02, BFH/NV 2005, 566, unter II.2.a).
Jedenfalls bedeutet die Rechtskraft des Ersturteils, dass dieser Bescheid nur insoweit
überprüft werden kann, als die Rechtskraft des vorangegangen Urteils einer solchen
Prüfung nicht entgegensteht (vgl. BFH-Urteil vom 4. Mai 2011 I R 67/10, BFH/NV
2012, 6, Rz 12). Die Überprüfung eines mit einem Rechtsbehelf angefochtenen
Bescheids i.S. des § 100 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 2 FGO ist daher angesichts des
vorangegangenen Urteils darauf beschränkt, ob das Finanzamt die in jenem Urteil
enthaltenen Vorgaben rechnerisch zutreffend umgesetzt hat oder ob seit Ergehen des
Urteils Umstände eingetreten sind, die nach den insoweit einschlägigen
Änderungsvorschriften der Abgabenordnung eine Änderung des Verwaltungsakts
gebieten (Lange in HHSp, § 100 FGO Rz 97).
12 b) Solche Umstände haben die Kläger aber weder im finanzgerichtlichen Verfahren
noch im Beschwerdeverfahren geltend gemacht. Gegenüber dem Ersturteil hat sich
nur die rechtliche Begründung des klägerischen Begehrens geändert, die nunmehr die
Aufhebung des Einkommensteuerbescheids aufgrund Nichtigkeit begehren. Daraus
resultiert aber kein --im Vergleich zum Ersturteil-- anderer Streitgegenstand. Im
Rahmen der nach Erlass des Ersturteils später erhobenen
Nichtigkeitsfeststellungsklage 4 K 2807/14 AO müsste das Gericht vielmehr
nochmals über die gleiche Frage, nämlich die Rechtmäßigkeit des
Einkommensteuerbescheids 2004 und damit auch über die Wirksamkeit der
Steuerfestsetzung, entscheiden.
13 Einer nochmaligen gerichtlichen Überprüfung des geänderten
Einkommensteuerbescheids 2004 steht daher die Rechtskraft des insoweit einen
identischen Entscheidungsgegenstand betreffenden Ersturteils nach § 110 Abs. 1
FGO entgegen (vgl. z.B. BFH-Beschluss in BFH/NV 2012, 1470, unter Rz 30,
m.w.N.).
14 c) Aus § 110 Abs. 2 FGO, wonach die Vorschriften der Abgabenordnung und anderer
Steuergesetze u.a. über die Änderung von Verwaltungsakten unberührt bleiben,
soweit sich aus § 110 Abs. 1 Satz 1 FGO nichts anderes ergibt, folgt nichts
Abweichendes. Denn § 110 Abs. 2 FGO ist im Sinne eines Vorrangs der Rechtskraft
gegenüber den Änderungsvorschriften auszulegen (BFH-Urteil vom 12. Januar 2012
IV R 3/11, BFH/NV 2012, 779, Rz 14). Der beantragten Änderung des
Einkommensteuerbescheids 2004 steht die Rechtskraftwirkung eines früheren Urteils
(Ersturteil) entgegen, wenn dieses --wie hier-- denselben Streitgegenstand betrifft.
15 3. Dass die Vorentscheidung letztlich auf einem Verfahrensmangel beruht, weil das
FG zu Unrecht durch Sachurteil statt durch Prozessurteil entschieden hat (vgl. BFH-
Beschlüsse vom 18. November 2014 V B 54/14, BFH/NV 2015, 223, Rz 9; vom
27. Juni 2014 IV B 12/14, BFH/NV 2014, 1507, Rz 2), ist im vorliegenden Fall ohne
Bedeutung. Denn das Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde ist bereits
unzulässig.
16 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.
17 5. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO abgesehen.