Urteil des BFH vom 16.12.2015

Grunderwerbsteuerbefreiung für Erwerb von Miteigentumsanteilen von Geschwistern aufgrund interpolierender Betrachtung von § 3 Nr. 6 und § 3 Nr. 2 Satz 1 GrEStG

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 16.12.2015, II R 49/14
Grunderwerbsteuerbefreiung für Erwerb von Miteigentumsanteilen von Geschwistern
aufgrund interpolierender Betrachtung von § 3 Nr. 6 und § 3 Nr. 2 Satz 1 GrEStG
Leitsätze
1. Überträgt ein Elternteil Miteigentumsanteile an einem Grundstück schwenkweise auf
Kinder und verpflichten sich diese dazu, anteilige Miteigentumsanteile auf später geborene
Geschwister zu übertragen, kann der Erwerb dieser Geschwister aufgrund interpolierender
Betrachtung nach § 3 Nr. 6 i.V.m. § 3 Nr. 2 Satz 1 GrEStG steuerbefreit sein.
2. Die interpolierende Betrachtung ist nicht durch § 42 AO ausgeschlossen, wenn die
Übertragung von Miteigentumsanteilen auf später geborene Geschwister auf der Intention
des schenkenden Elternteils beruht, den Kindern und künftigen Kindern im Rahmen der
vorweggenommenen Erbfolge ein Grundstück zu gleichen Teilen zu übertragen.
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 16. Juli
2014 7 K 1201/14 GE wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
1 I. Mit notariell beurkundetem Vertrag vom 21. März 1988 übertrug der Vater (V) des im
Oktober 1988 geborenen Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) dessen zwei
Schwestern im Wege der vorweggenommenen Erbfolge Miteigentumsanteile an einem
Grundstück zu gleichen Teilen. Die Schwestern verpflichteten sich in dem Vertrag, für
den Fall der Geburt weiterer, ehelicher Kinder des V ihre (künftigen) Geschwister so zu
stellen, als ob diese zu denselben Bedingungen einen Miteigentumsanteil erworben
hätten. V behielt sich ein Nießbrauchsrecht an dem übertragenen Grundstück vor.
2 Mit notariell beurkundetem Vertrag vom 27. Dezember 2012 übertrugen die beiden
Schwestern unter Bezugnahme auf ihre Verpflichtung aus dem Vertrag vom 21. März
1988 dem Kläger gegen teilweise Übernahme der Nießbrauchsverpflichtung jeweils ein
Sechstel des Grundstücks, so dass alle Geschwister Miteigentümer zu je einem Drittel
wurden.
3 Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) setzte gegen den Kläger für
den Erwerb der Miteigentumsanteile an dem Grundstück durch Bescheid vom
31. Januar 2013 Grunderwerbsteuer in Höhe von 5.958 EUR fest.
Bemessungsgrundlage war der anteilige Wert der vom Kläger übernommenen
Nießbrauchsverpflichtung in Höhe von 119.165 EUR.
4 Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gab das Finanzgericht
(FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2014, 2075 veröffentlichten
Urteil statt.
5 Mit der Revision rügt das FA die Verletzung von § 3 Nr. 6 i.V.m. § 3 Nr. 2 Satz 1 des
Grunderwerbsteuergesetzes (GrEStG).
6 Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
7 Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
8 II. Die Revision ist unbegründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Recht entschieden, dass der Erwerb
der Miteigentumsanteile von den Schwestern durch den Kläger aufgrund
interpolierender Betrachtung von § 3 Nr. 6 i.V.m. § 3 Nr. 2 Satz 1 GrEStG von der
Grunderwerbsteuer befreit ist.
9 1. Aus der Zusammenschau (Interpolation) zweier Befreiungsvorschriften kann sich
eine Steuerbefreiung ergeben, die im Wortlaut der Einzelvorschriften, je für sich allein
betrachtet, nicht zum Ausdruck kommt (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom
20. Dezember 2011 II R 42/10, BFH/NV 2012, 1177). Eine Steuerbefreiung aufgrund
interpolierender Betrachtung kann sich insbesondere ergeben, wenn sich der
tatsächlich verwirklichte Grundstückserwerb als abgekürzter Weg darstellt und die
unterbliebenen Zwischenerwerbe, wenn sie durchgeführt worden wären, ebenfalls
steuerfrei wären (BFH-Beschluss vom 11. August 2014 II B 131/13, BFH/NV 2015, 5,
Rz 16, m.w.N.). Der Interpolation als Auslegungsmethode sind jedoch Schranken
gesetzt. So darf diese immer nur an einen real verwirklichten, nicht aber an einen
fiktiven Sachverhalt anknüpfen. Des Weiteren darf kein Gestaltungsmissbrauch i.S.
des § 42 der Abgabenordnung (AO) vorliegen (Meßbacher-Hönsch in Boruttau,
Grunderwerbsteuergesetz, 17. Aufl., § 3 Rz 35 f.).
10 a) Eine Befreiung des Erwerbs der Miteigentumsanteile von den Schwestern nach
§ 3 Nr. 2 Satz 1 GrEStG scheidet aus. Nach dieser Vorschrift sind u.a.
Grundstücksschenkungen unter Lebenden i.S. des Erbschaftsteuer- und
Schenkungsteuergesetzes (ErbStG) von der Grunderwerbsteuer befreit. Dadurch soll
verhindert werden, dass ein Vorgang sowohl der Schenkungsteuer als auch der
Grunderwerbsteuer unterliegt (Meßbacher-Hönsch in Boruttau, a.a.O., § 3 Rz 98). § 3
Nr. 2 Satz 1 GrEStG setzt voraus, dass zivilrechtlich und schenkungsteuerrechtlich
Gegenstand der Schenkung ein Grundstück ist und sich der Grundstückserwerb
zwischen Schenker und Bedachtem vollzieht (BFH-Beschluss in BFH/NV 2015, 5,
Rz 12).
11 Im Streitfall sind diese Voraussetzungen für den Erwerb des Klägers nicht erfüllt. Eine
Schenkung der Schwestern an den Kläger liegt nicht vor. Die Übertragung der
Miteigentumsanteile durch die Schwestern erfolgte nicht freigebig, sondern zur
Erfüllung der Auflage aus dem notariellen Vertrag vom 21. März 1988.
Schenkungsteuerrechtlich ist V als Zuwendender i.S. des § 7 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG
anzusehen, weil die Schwestern ihm gegenüber zur Übertragung der
Miteigentumsanteile auf den Kläger verpflichtet waren (BFH-Beschluss in BFH/NV
2015, 5, Rz 13, m.w.N.). V hatte die Zuwendungen der hälftigen Miteigentumsanteile
an die Schwestern im Vertrag vom 21. März 1988 mit der aufschiebend bedingten
Verpflichtung verbunden, anteilige Miteigentumsanteile auf künftige Geschwister zu
übertragen. Schenker ist nicht der mit der Auflage Beschwerte, sondern derjenige, der
dem mit der Auflage Beschwerten die Zuwendung macht (vgl. BFH-Urteil vom
17. Februar 1993 II R 72/90, BFHE 171, 316, BStBl II 1993, 523).
12 Eine Befreiung des Erwerbs des Klägers nach § 3 Nr. 2 Satz 1 GrEStG kommt trotz
der schenkungsteuerrechtlich vorliegenden Zuwendung des V an den Kläger nicht in
Betracht. V hat nicht selbst die Miteigentumsanteile übertragen und war damit nicht an
dem der Grunderwerbsteuer unterliegenden Rechtsvorgang beteiligt. Der
Grundstückserwerb vollzog sich deshalb nicht zwischen dem Schenker und dem
Bedachten.
13 b) Eine Befreiung des Erwerbs der Miteigentumsanteile nach § 3 Nr. 6 Satz 1 GrEStG
scheidet ebenfalls aus. Der Kläger und seine Schwestern sind nicht Verwandte in
gerader Linie, sondern als Geschwister in der Seitenlinie verwandt (§ 1589 Satz 2 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs --BGB--).
14 c) Die Steuerbefreiung des Erwerbs ergibt sich aufgrund interpolierender Betrachtung
nach § 3 Nr. 6 und § 3 Nr. 2 Satz 1 GrEStG. Die Übertragung der von V
zugewendeten Miteigentumsanteile der Schwestern auf den Kläger stellt sich als
abgekürzter Weg einer freigebigen Zuwendung des V an den Kläger dar. Eine
Übertragung der Miteigentumsanteile von jeweils einem Sechstel von den
Schwestern auf V wäre nach § 3 Nr. 6 Satz 1 GrEStG --und gegebenenfalls auch
nach § 3 Nr. 2 Satz 1 GrEStG-- steuerfrei gewesen. Die anschließende Übertragung
dieser Miteigentumsanteile von V auf den Kläger wäre nach § 3 Nr. 2 Satz 1 GrEStG
von der Grunderwerbsteuer befreit gewesen. Diese interpolierende Betrachtung
knüpft an den real verwirklichten Sachverhalt der Übertragung der
Miteigentumsanteile von den Schwestern auf den Kläger an.
15 d) Die Anwendung der Steuerbefreiungen aufgrund interpolierender Betrachtung ist
nicht durch § 42 AO ausgeschlossen.
16 aa) Ein Gestaltungsmissbrauch i.S. des § 42 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AO kann
vorliegen, wenn bei einer beabsichtigten Grundstücksübertragung zwischen
Geschwistern die Grundstücke zunächst auf die Eltern übertragen werden, um eine
Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 6 GrEStG zu erreichen (vgl. BFH-Urteil vom
30. November 1960 II 154/59 U, BFHE 72, 54, BStBl III 1961, 21), und hierfür kein
außerhalb der Steuerersparnis liegender beachtlicher Grund vorhanden ist (vgl. BFH-
Urteil vom 18. Dezember 1963 II 198/61, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung
1964, 246; Pahlke, GrEStG, 5. Aufl., Vorb §§ 3 bis 7 Rz 11).
17 bb) Ein solcher Gestaltungsmissbrauch liegt im Streitfall jedoch nicht vor. Ein
außerhalb der Steuerersparnis liegender beachtlicher Grund für die gewählte
Gestaltung ergibt sich vorliegend daraus, dass der Kläger im Zeitpunkt des notariellen
Vertragsabschlusses am 21. März 1988 --anders als die Schwestern-- mangels
Rechtsfähigkeit nicht im Rahmen einer Schenkung berücksichtigt werden konnte.
Nach § 1923 Abs. 2 BGB gilt derjenige, der zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber
bereits gezeugt war, als vor dem Erbfall geboren (Erbfähigkeit des nasciturus, vgl.
Palandt/Weidlich, BGB, 75. Aufl., § 1923 Rz 6). Eine dem § 1923 Abs. 2 BGB
entsprechende Regelung für Schenkungen gibt es jedoch nicht. Daher konnte der
Kläger nur dadurch in die vertraglichen Regelungen einbezogen werden, dass V den
Schwestern das Grundstück mit der Auflage schenkte, dem Kläger nach dessen
Geburt einen entsprechenden Miteigentumsanteil zu übertragen. Nach dem Vertrag
vom 21. März 1988 war von Anfang an eine Grundstücksübertragung von V auf
dessen Kinder und künftige Kinder zu gleichen Teilen geplant. Der gewählten
Gestaltung lag damit die außersteuerliche Intention zugrunde, alle Kinder im Rahmen
der vorweggenommenen Erbfolge gleichmäßig zu berücksichtigen.
18 cc) Zudem ist von der Rechtsprechung anerkannt, dass sich im Rahmen der
Gestaltung einer vorweggenommenen Erbfolge ein beachtlicher Grund für die
gewählte Gestaltung aus dem Interesse eines Elternteils ergeben kann, gegenüber
einem begünstigten Kind selbst als Schenker aufzutreten (BFH-Urteil in BFHE 72, 54,
BStBl III 1961, 21; BFH-Beschluss in BFH/NV 2015, 5, Rz 18). So ist es hier, da es
sich bei dem Vertrag vom 21. März 1988 um eine Regelung zur Vorwegnahme der
Erbfolge handelt.
19 2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.