Urteil des BFH vom 28.07.2015

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Vermeidung von Fristversäumnissen im Rechtsanwaltsbüro - Anforderungen an die Büroorganisation

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 28.7.2015, II B 150/14
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Vermeidung von Fristversäumnissen im
Rechtsanwaltsbüro - Anforderungen an die Büroorganisation
Tenor
Die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision im Urteil des
Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 19. November 2014 3 K 3154/14 wird als
unzulässig verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
1 I. Das Finanzgericht (FG) wies die einen Grundsteuermessbescheid und einen
Einheitswertbescheid betreffende Klage des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger)
durch Urteil vom 19. November 2014 ab und ließ die Revision nicht zu. Das Urteil
wurde dem Kläger ausweislich der Zustellungsurkunde am 29. November 2014
zugestellt.
2 Der Kläger legte am 29. Dezember 2014 Nichtzulassungsbeschwerde ein, ohne diese
zunächst zu begründen.
3 Der Senatsvorsitzende wies den Kläger mit Schreiben vom 9. Februar 2015 darauf hin,
dass die Begründung der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision dem
Bundesfinanzhof (BFH) noch nicht vorliege. Daraufhin begründete der Kläger die
Nichtzulassungsbeschwerde mit Schreiben des Prozessbevollmächtigten, eines
Rechtsanwalts (P), vom 26. Februar 2015 und beantragte Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand wegen Versäumung der Begründungsfrist. Zur Begründung des
Wiedereinsetzungsantrags führte er aus, P habe die Beschwerdebegründung am
29. Januar 2015 unterzeichnet. Die mit der Übermittlung der Beschwerdebegründung
an den BFH per Telefax und mit der Post beauftragte Rechtsanwaltsfachangestellte
(R) habe die Beschwerdebegründung weisungswidrig nicht an den BFH übersandt,
sondern zur Akte genommen, ohne dass dies durch einen konkreten Umstand erklärt
werden könne. Die Beschwerdebegründung sei dort erst nach dem Hinweis des BFH
vom 9. Februar 2015 vorgefunden worden. Möglicherweise sei R momentan durch
andere Umstände abgelenkt gewesen. R habe das Versäumnis auch nicht bei der
abendlichen Kontrolle des Terminkalenders bemerkt. In der Kanzlei des P bestehe eine
ausdrückliche Anweisung gegenüber den Rechtsanwaltsfachangestellten, täglich
anhand des vorliegenden Fristenkalenders zu kontrollieren, ob alle dort eingetragenen
Fristen abgearbeitet sind, und die abgearbeiteten Fristsachen am selben Tag per Post
und ggf. vorab per Fax zu übermitteln. Dieser ausdrücklichen Arbeitsanweisung sei R
im vorliegenden Fall nicht nachgekommen. R sei eine ausgesprochen zuverlässige
Mitarbeiterin, deren Tätigkeit von P regelmäßig stichprobenartig kontrolliert werde und
in der Vergangenheit zu keinerlei Beanstandungen Anlass gegeben habe.
4 Zur Glaubhaftmachung dieses Vorbringens legte der Kläger Versicherungen an Eides
statt des P und der R vor. R führte darin u.a. aus, sie sei davon ausgegangen, dass sie
die ihr aufgetragene Übermittlung des Schriftsatzes an den BFH vorgenommen habe,
und habe daraufhin die Frist im Kalender gestrichen.
Entscheidungsgründe
5 II. Die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision ist unzulässig und war daher
durch Beschluss zu verwerfen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung --
FGO--). Der Kläger hat die in § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO für die Begründung der
Nichtzulassungsbeschwerde bestimmte Frist von zwei Monaten nach der Zustellung
des vollständigen Urteils des FG versäumt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
ist nicht zu gewähren.
6 1. Die Frist für die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde begann mit der
Zustellung der Vorentscheidung am 29. November 2014 und lief gemäß § 54 Abs. 2
FGO i.V.m. § 222 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO), § 187 Abs. 1 und § 188
Abs. 2 Alternative 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs am 29. Januar 2015 ab. Die
Beschwerdebegründung ging erst am 27. Februar 2015 beim BFH ein.
7 2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist
kann nicht gewährt werden.
8 a) Nach § 56 Abs. 1 FGO ist einem Beteiligten auf Antrag Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne Verschulden verhindert war, eine
gesetzliche Frist einzuhalten. Dabei schließt jedes Verschulden, also auch einfache
Fahrlässigkeit, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus (BFH-Beschlüsse vom
9. Januar 2014 X R 14/13, BFH/NV 2014, 567, Rz 11; vom 26. Februar 2014
IX R 41/13, BFH/NV 2014, 881, Rz 10, und vom 16. September 2014 II B 46/14,
BFH/NV 2015, 49, Rz 4). Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten ist dem
Beteiligten nach § 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen.
9 b) Die Tatsachen zur Begründung des Antrags auf Wiedereinsetzung müssen
innerhalb der in § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO bestimmten Frist vollständig, substantiiert
und in sich schlüssig dargelegt werden (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-
Beschlüsse vom 13. September 2012 XI R 13/12, BFH/NV 2013, 60, Rz 13, 19; in
BFH/NV 2014, 881, Rz 10; vom 28. März 2014 IX B 115/13, BFH/NV 2014, 896,
Rz 4; in BFH/NV 2015, 49, Rz 6, und vom 2. Dezember 2014 III B 36/14, BFH/NV
2015, 505, Rz 13), soweit sie für das Gericht nicht offenkundig oder amtsbekannt sind
(BFH-Urteil vom 18. März 2014 VIII R 33/12, BFHE 246, 1, BStBl II 2014, 922, Rz
17). Sie müssen ferner bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag
glaubhaft gemacht werden (§ 56 Abs. 2 Satz 2 FGO).
10 c) Hinsichtlich einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird zwischen
Organisationsmängeln, die als solche einem Rechtsanwalt oder Steuerberater und
den von ihm Vertretenen als Verschulden zuzurechnen sind, einerseits und nicht
zurechenbarem Büroversehen andererseits unterschieden. Wird --wie im Streitfall--
ein dem Prozessbevollmächtigten und dem von ihm Vertretenen nicht
zuzurechnendes reines Büroversehen geltend gemacht, gehört zum erforderlichen
schlüssigen Vortrag des "Kerns" der Wiedereinsetzungsgründe die Darlegung, warum
ein Organisationsverschulden auszuschließen ist. Es müssen also die
Organisationsmaßnahmen vorgetragen werden, die den konkreten Fehler als
Büroversehen erkennen lassen (BFH-Urteil in BFHE 246, 1, BStBl II 2014, 922, Rz
18). Dazu muss substantiiert und schlüssig vorgetragen werden, dass der
Prozessbevollmächtigte alle Vorkehrungen getroffen hat, die nach vernünftigem
Ermessen die Nichtbeachtung von Fristen auszuschließen geeignet sind (z.B. BFH-
Beschlüsse vom 14. Dezember 2011 X B 50/11, BFH/NV 2012, 440; vom 30. April
2013 IV R 38/11, BFH/NV 2013, 1117, Rz 19, und in BFH/NV 2014, 567, Rz 12).
Kann aufgrund des Vortrags nicht ausgeschlossen werden, dass an der
Fristversäumnis ursächlich auch ein Organisationsverschulden des
Prozessbevollmächtigten mitgewirkt hat, kann keine Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand gewährt werden (BFH-Beschluss vom 13. September 2012 XI R 48/10,
BFH/NV 2013, 212, Rz 13, m.w.N.).
11 d) Angehörige der rechts- und steuerberatenden Berufe müssen die
Ausgangskontrolle von fristgebundenen Schriftsätzen so organisieren, dass sie einen
gestuften Schutz gegen Fristversäumungen bietet (Beschluss des
Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 4. November 2014 VIII ZB 38/14, Neue Juristische
Wochenschrift --NJW-- 2015, 253, Rz 9, m.w.N.). Dabei ist die für die Kontrolle
zuständige Bürokraft anzuweisen, dass Fristen im Kalender erst zu streichen oder als
erledigt zu kennzeichnen sind, nachdem sie sich anhand der Akte selbst vergewissert
hat, dass zweifelsfrei nichts mehr zu veranlassen ist (BGH-Beschluss vom
26. Februar 2015 III ZB 55/14, Wertpapier-Mitteilungen --WM-- 2015, 782, Rz 8).
12 Die ordnungsgemäße, zur Vermeidung von Fristversäumnissen geeignete
Büroorganisation setzt u.a. voraus, dass der Ausgang eines Schriftstücks, das eine
gesetzliche Frist wahren soll, nicht dokumentiert wird, solange die zur Absendung
erforderlichen Arbeitsschritte nicht vollständig getan sind, und eine Frist nicht vorher
gelöscht wird. Bei Übermittlung eines fristwahrenden Schriftstücks per Telefax darf
demgemäß die betreffende Frist erst gelöscht werden, wenn ein von dem
Telefaxgerät des Absenders ausgedruckter Einzelnachweis (Sendebericht) vorliegt,
der die ordnungsgemäße Übermittlung belegt. Werden diese Anforderungen nicht
beachtet, weist dies auf einen Organisationsmangel hin (BFH-Urteil in BFHE 246, 1,
BStBl II 2014, 922, Rz 20, m.w.N.).
13 Zu einer wirksamen Fristenkontrolle gehört auch eine Anordnung, durch die
gewährleistet wird, dass die Erledigung der fristgebundenen Sachen am Abend eines
jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders von einer dazu beauftragten
Bürokraft nochmals und abschließend selbständig überprüft wird (BGH-Beschlüsse in
NJW 2015, 253, Rz 8 f., und in WM 2015, 782, Rz 8, je m.w.N.). Diese Kontrolle
muss gewährleisten, dass am Ende eines jeden Arbeitstages von einer dazu
beauftragten Bürokraft geprüft wird, welche fristwahrenden Schriftsätze hergestellt,
abgesandt oder zumindest versandfertig gemacht worden sind und ob diese mit den
im Fristenkalender vermerkten Sachen übereinstimmen (BGH-Beschluss in NJW
2015, 253, Rz 9, m.w.N.).
14 Die Erforderlichkeit einer derartigen abschließenden Kontrolle ergibt sich schon
daraus, dass selbst bei sachgerechten Organisationsabläufen individuelle
Bearbeitungsfehler auftreten können, die es nach Möglichkeit aufzufinden und zu
beheben gilt (BGH-Beschlüsse in NJW 2015, 253, Rz 8, und in WM 2015, 782, Rz 18,
m.w.N.). Die allabendliche Kontrolle dient nicht allein dazu, zu überprüfen, ob sich aus
den Eintragungen noch unerledigt gebliebene Fristsachen ergeben. Sie soll vielmehr
auch feststellen, ob möglicherweise in einer bereits als erledigt vermerkten Frist die
fristwahrende Handlung noch aussteht (BGH-Beschluss in WM 2015, 782, Rz 18,
m.w.N.).
15 e) Diese Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen
Versäumung der Begründungsfrist sind im Streitfall nicht erfüllt. Nach dem Vorbringen
des Klägers kann nicht ausgeschlossen werden, dass an der Fristversäumnis
ursächlich ein Organisationsverschulden des P mitgewirkt hat. Der Kläger hat nicht
substantiiert und in sich schlüssig dargelegt, dass die Ausgangskontrolle von
fristgebundenen Schriftsätzen in der Kanzlei des P so organisiert war, dass sie den
erforderlichen gestuften Schutz gegen Fristversäumnisse bot. Er hat nicht
vorgetragen, dass in der Kanzlei angeordnet gewesen sei, dass eine Frist erst
gelöscht wird, wenn die zur Absendung des Schriftstücks erforderlichen
Arbeitsschritte vollständig getan sind und bei Übermittlung eines fristwahrenden
Schriftstücks per Telefax ein von dem Telefaxgerät des Absenders ausgedruckter
Einzelnachweis (Sendebericht) vorliegt, der die ordnungsgemäße Übermittlung belegt.
Er hat auch nicht ausgeführt, dass die für die Fristenkontrolle zuständige Bürokraft
angewiesen gewesen sei, Fristen im Kalender erst zu streichen oder als erledigt zu
kennzeichnen, nachdem sie sich anhand der Akte vergewissert hat, dass zweifelsfrei
nichts mehr zu veranlassen ist, und dass hinsichtlich fristgebundener Sachen eine
allabendliche Kontrolle mit einer nochmaligen, selbständigen Prüfung angeordnet war.
Individuelle Bearbeitungsfehler, wie sie selbst bei sachgerechten
Organisationsabläufen auftreten können, konnten, wie auch der Streitfall zeigt,
aufgrund der unzureichenden Büroorganisation allenfalls zufällig entdeckt werden.
Dies genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen an eine Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand.
16 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.