Urteil des BFH vom 18.12.2013

Kindergeldanspruch bei deutschem Zweitwohnsitz - Auflösung einer Anspruchskonkurrenz zwischen deutschem Kindergeldanspruch und ausländischer Familienleistung

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 18.12.2013, III R 44/12
Kindergeldanspruch bei deutschem Zweitwohnsitz - Auflösung einer Anspruchskonkurrenz
zwischen deutschem Kindergeldanspruch und ausländischer Familienleistung
Leitsätze
Ein deutscher Staatsangehöriger, der mit seiner Familie den Lebensmittelpunkt in Tschechien teilt
und dort sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, hat Anspruch auf deutsches (Differenz-
)Kindergeld, wenn er in Deutschland einen Zweitwohnsitz beibehält.
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger), Vater von zwei im Juni 1999 und im Dezember
2007 geborenen Töchtern, ist deutscher Staatsangehöriger. Er bewohnt seit 1977 mit seiner
Familie eine Einliegerwohnung im Hause seiner Eltern in K (Rheinland-Pfalz). Diese verfügt
über einen Wohnraum, ein Schlafzimmer, ein Duschbad und eine Kochnische, zwei
Kinderzimmer im Dachgeschoss sowie weiteren zu Wohnraum ausgebauten Speicherraum.
Nachdem der Kläger im Herbst 2005 arbeitslos geworden war, trat er am 1. Juni 2006 eine
Beschäftigung in Prag an. Seine Ehefrau wohnt dort mit beiden Kindern und die ältere Tochter
besucht die deutsche Schule. Der Kläger verbringt jedoch weiterhin seine gesamte freie Zeit
mit der Familie in seiner Wohnung in K, u.a. er selbst während seines Urlaubs und die Familie
während der Schulferien. Die Nutzung der dortigen Wohnung geht nach den Feststellungen
des Finanzgerichts (FG) über eine übliche Nutzung als Ferienquartier deutlich hinaus.
2 Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) hob die Kindergeldfestsetzung für die
ältere Tochter ab Juli 2006 nach § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf,
forderte den überzahlten Betrag für die Monate Juli 2006 bis September 2008 in Höhe von
4.158 EUR zurück und wies den dagegen eingelegten Einspruch im Februar 2009 als
unbegründet zurück.
3 Das FG wies die Klage, mit der der Kläger die Aufhebung des Aufhebungsbescheides und die
Verpflichtung der Familienkasse zur Gewährung von Kindergeld für beide Töchter ab Oktober
2008 begehrte, als unbegründet ab (Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 2128). Es
entschied, der Kläger erfülle zwar die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG, weil er im
Inland mit seiner Familie einen Zweitwohnsitz habe. Der Anspruch auf Kindergeld sei
indessen ausgeschlossen, da für den Kläger nach Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der
Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der
Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), das Recht des Beschäftigungsstaates
Tschechiens gelte.
4 Der Kläger rügt die Verletzung materiellen Rechts. Er beantragt, das FG-Urteil, den
Aufhebungsbescheid und die Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Familienkasse zu
verpflichten, Kindergeld für seine beiden Kinder ab Oktober 2008 zu gewähren.
5 Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
6 II. Die Familienkasse Sachsen der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines
Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom
18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche
Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2. der Anlage 2)
im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit ...
--Familienkasse-- eingetreten (s. dazu Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 3. März
2011 V B 17/10, BFH/NV 2011, 1105, unter II.A.).
III.
7 Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur
Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--).
8 1. Die Feststellung des FG, dass der Kläger die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1
EStG erfüllt, weil er in K einen "Zweitwohnsitz" hat, ist revisionsrechtlich nicht zu
beanstanden. Denn für den Anspruch auf Kindergeld nach dieser Vorschrift genügt es, dass
der Anspruchsberechtigte im Inland einen Wohnsitz hat. Eine Person kann, wie das FG
zutreffend ausgeführt hat, mehrere Wohnsitze i.S. des § 8 der Abgabenordnung haben, die
im Inland und/oder im Ausland belegen sein können, und zur Aufrechterhaltung eines
Wohnsitzes können unregelmäßige Aufenthalte genügen (z.B. BFH-Urteil vom 28. Januar
2004 I R 56/02, BFH/NV 2004, 917), sofern diese nicht lediglich als Besuche zu werten sind.
9 Die Anspruchsberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG setzt weder voraus, dass sich der
Anspruchsberechtigte überwiegend im Inland aufhält (z.B. mehr als 15 Tage im jeweiligen
Monat oder mehr als 183 Tage innerhalb eines Zeitraums von 12 Monaten, vgl. z.B. Art. 15
Abs. 2 Buchst. a des OECD-Musterabkommens), noch dass sich sein Lebensmittelpunkt im
Inland befindet.
10 2. Die Anwendbarkeit der §§ 62 ff. EStG wird im Streitfall nicht durch Gemeinschaftsrecht
ausgeschlossen.
11 Da das FG lediglich die Beschäftigung des Klägers in Prag, nicht aber seinen
Versicherungsstatus festgestellt hat, kann der Senat nicht sicher beurteilen, ob der Kläger
persönlich vom Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 erfasst wird. Wenn er --was aufgrund
seiner Beschäftigung in Prag nahe liegt-- gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71
den Rechtsvorschriften Tschechiens unterliegen sollte und Deutschland der für die
Gewährung der Familienleistungen unzuständige Mitgliedstaat wäre, stünde dies dem sich
aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ergebenden Kindergeldanspruch nicht entgegen. Denn die
Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 entfalten keine Sperrwirkung für die Anwendung des Rechts
des nicht zuständigen Mitgliedstaats, so dass sich die Anspruchsberechtigung auch bei
Personen und bei Leistungen, die dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich
der VO Nr. 1408/71 unterliegen, allein nach den Bestimmungen des deutschen Rechts
richtet. Die gegenteilige Auffassung, die dem FG-Urteil zugrunde liegt und die auch der
Senat in ständiger Rechtsprechung vertreten hat, ist aufgrund des Urteils des Gerichtshofs
der Europäischen Union vom 12. Juni 2012 C-611/10 und C-612/10 --Hudzinski und
Wawrzyniak-- (Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht 2012, 475) vom BFH
aufgegeben worden (BFH-Urteile vom 16. Mai 2013 III R 8/11, BFHE 241, 511; vom
5. September 2013 XI R 52/10, BFH/NV 2014, 33).
12 3. Die Sache ist nicht entscheidungsreif, da der Senat nicht entscheiden kann, ob der
Kindergeldanspruch des Klägers wegen eines vergleichbaren Anspruchs in Tschechien zu
kürzen ist.
13 a) Falls Tschechien sowohl als Beschäftigungsstaat wie auch wegen des gewöhnlichen
Aufenthalts der Familie in Prag (Art. 1 Buchst. h der VO Nr. 1408/71) als Wohnmitgliedsstaat
zuständig wäre, schiede eine Anwendung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung
Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 aus; eine Anspruchskonkurrenz wäre vielmehr
nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu lösen. § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG wäre im Übrigen
auch dann einschlägig, wenn --was im Streitfall kaum in Betracht kommen dürfte-- der
persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet sein sollte.
14 b) Der Senat weist darauf hin, dass der Kläger von der gemeinschaftsrechtlich verbürgten
Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht hat. Deshalb wäre § 65 Abs. 1 Satz 1
Nr. 2 EStG gemeinschaftsrechtskonform dahin auszulegen, dass nur eine Kürzung, nicht
aber eine vollständige Versagung des Kindergeldanspruchs in Betracht kommt, wenn
anderenfalls das Freizügigkeitsrecht der Wanderarbeitnehmer beeinträchtigt wäre
(Senatsurteil vom 18. Juli 2013 III R 71/11, BFH/NV 2014, 24, unter III.3.b bb).
15 Für die Kürzung des Kindergeldes genügt es nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, dass der
nach deutschem Recht kindergeldberechtigten Person oder einem Dritten für das betreffende
Kind nach ausländischem Recht ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die entsprechende
Leistung zusteht (Senatsurteil vom 13. Juni 2013 III R 10/11, BFHE 241, 562).