Urteil des BFH vom 05.06.2014

Voraussetzungen des Umsatzsteuer-Vergütungsverfahrens; Unionsrecht und innerstaatliches Verfahrensrecht; Auslegung von Rechtsbehelfen

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 5.6.2014, V R 50/13
Voraussetzungen des Umsatzsteuer-Vergütungsverfahrens; Unionsrecht und innerstaatliches
Verfahrensrecht; Auslegung von Rechtsbehelfen
Leitsätze
1. Prozessuale und außerprozessuale Rechtsbehelfe sind gemäß § 133 BGB auszulegen, wenn
eine eindeutige und zweifelsfreie Erklärung fehlt. Liegt eine solche Erklärung nicht vor, kommt es
maßgeblich darauf an, welcher Sinn der von der klagenden Partei in der Klageschrift gewählten
Parteibezeichnung bei objektiver Würdigung des Erklärungsinhalts beizulegen ist.
2. Die verfahrensrechtliche Umsetzung unionsrechtlicher Anforderungen an das nationale
Steuerrecht obliegt den Mitgliedstaaten. Das Verfahrensrecht ist aus diesem Grund grundsätzlich
einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich.
3. Die unionsrechtlichen Voraussetzungen einer Ansässigkeit im Inland sind nicht erfüllt, wenn der
Unternehmer im Inland lediglich eine "Zweigniederlassung" oder "Betriebsstätte" innegehabt hat,
von der aus keine Umsätze bewirkt worden sind.
4. Da der deutsche Verordnungsgeber mit der in § 59 UStDV getroffenen Regelung das
Unionsrecht nicht zutreffend umgesetzt hat und § 59 UStDV richtlinienkonform unter Einbeziehung
der unionsrechtlichen Ansässigkeitserfordernisse auszulegen ist, müssen von der
"Zweigniederlassung" oder der "Betriebsstätte" i.S. von § 59 UStDV aus "Umsätze" bewirkt worden
sein.
Tatbestand
1 I. Die Beteiligten streiten über die Berechtigung der Klägerin und Revisionsklägerin
(Klägerin) zum Vorsteuerabzug.
2 Klägerin ist die Hauptniederlassung der "A A/S". Das Finanzgericht (FG) bezeichnet
dagegen im Rubrum die "AD als Zweigniederlassung der A A/S, vertreten durch deren
Vorstand MS" als Klägerin und behandelt in seinem Urteil auch die Zweigniederlassung und
nicht die Hauptniederlassung als Klägerin.
3 Die Zweigniederlassung wurde als solche gemäß § 13 des Handelsgesetzbuchs (HGB) in
das Handelsregister des Amtsgerichts X eingetragen. Die Zweigniederlassung gab für sich
als Unternehmerin ab 2008 Umsatzsteuererklärungen ab. In ihren Umsatzsteuererklärungen
für 2008 und 2009 sowie für das erste Quartal 2010 erklärte sie keine steuerpflichtigen
Umsätze, machte aber Vorsteuerbeträge geltend. Der jeweilige Vorsteuerüberschuss wurde
an die Zweigniederlassung ausgezahlt. Der Vorsteuerbetrag für das zweite Quartal 2010
wurde nicht ausgezahlt.
4 Nach Durchführung einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung verneinte der Beklagte und
Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) die Unternehmereigenschaft der
Zweigniederlassung und setzte mit an die Zweigniederlassung gerichteten
Änderungsbescheiden die Umsatzsteuer für die Jahre 2008 und 2009 sowie für das erste
Quartal 2010 auf jeweils 0 EUR fest. Mit Bescheid vom 11. November 2010 setzte das FA
auch die Umsatzsteuer für das zweite Quartal 2010 auf 0 EUR fest.
5 Mit ihrem hiergegen gerichteten Einspruch trug die Zweigniederlassung im Wesentlichen
vor, dass sie nicht rechtlich selbständig sei; sie sei ein unselbständiger Teil der
Hauptniederlassung, könne nicht am Rechtsverkehr teilnehmen und folglich auch nicht
Unternehmerin sein. Die Hauptniederlassung sei Unternehmerin i.S. von § 2 des
Umsatzsteuergesetzes (UStG). Die Hauptniederlassung werde in der Bundesrepublik
Deutschland (Deutschland) durch sie, die Zweigniederlassung, tätig.
6 Mit Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2011 wies das FA die zur gemeinsamen
Entscheidung verbundenen Einsprüche als unbegründet zurück. Die Zweigniederlassung
sei als unselbständige Zweigstelle keine Unternehmerin i.S. von § 2 Abs. 1 UStG. Sie
nehme nicht selbständig am Rechtsverkehr in Deutschland teil, trage kein Unternehmerrisiko
und habe zudem kein eigenes Konto. Sie habe vielmehr nur die Funktion eines
Repräsentationsbüros in Deutschland; sämtliche Umsätze seien somit der
Hauptniederlassung zuzuordnen. Da es sich dabei um ein im Ausland ansässiges
Unternehmen handele, sei für eine Vorsteuervergütung das Bundeszentralamt für Steuern
unter den Voraussetzungen der §§ 59 bis 61 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung
(UStDV) zuständig. Eine Vorsteuererstattung nach den allgemeinen Vorschriften könne nicht
beansprucht werden.
7 Mit der Klage wiederholte die Zweigniederlassung ihr Vorbringen aus dem
Einspruchsverfahren. Wenn das Büro in Deutschland als Zweigniederlassung eingetragen
sei, müssten die damit zusammenhängenden Vorsteuern im Wege des
Veranlagungsverfahrens und nicht im Wege des Vergütungsverfahrens erstattet werden. Die
Hauptniederlassung sei wegen der inländischen Zweigniederlassung keine ausländische
Unternehmerin. Im Übrigen sei es durchaus beabsichtigt gewesen, in Deutschland Umsätze
zu erzielen. Sie, die Klägerin, habe in geringem Umfang ertragsteuerliche Erlöse erzielt, weil
sie von der Hauptniederlassung einen 5 %igen Aufschlag beim Kostenersatz erhalten habe.
Bei der Beurteilung ihrer Unternehmereigenschaft sei zu berücksichtigen, dass eine
eigenständige Organisation mit Mitarbeitern vorhanden gewesen sei und Innenumsätze
getätigt worden seien.
8 Die Klage hatte keinen Erfolg. Zur Begründung seines in Deutsches
Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2013, 218 veröffentlichten Urteils führte das FG im
Wesentlichen aus, Klägerin sei die Zweigniederlassung. Diese sei aber keine
Unternehmerin i.S. des § 2 Abs. 1 UStG und könne daher auch keinen Vorsteuerabzug in
Anspruch nehmen.
9 Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin, mit der sie Verletzung materiellen Rechts
geltend macht. Sie vertritt die Auffassung, eine Zweigniederlassung könne in keinem Fall
Unternehmer i.S. des § 2 UStG sein. Für einen ausländischen Unternehmer gebe es zwei
Möglichkeiten, Vorsteuerbeträge erstattet zu bekommen: das Regelverfahren nach § 18
Abs. 1 bis 4 UStG und das Vergütungsverfahren nach § 18 Abs. 9 UStG. Voraussetzung des
Vergütungsverfahrens sei aber, dass es sich um einen ausländischen Unternehmer handele.
Das setze gemäß § 59 UStDV aber voraus, dass der Unternehmer im Inland keinen
Wohnsitz, keinen Sitz, keine Geschäftsleitung und keine Betriebsstätte habe. Wegen des
Bestehens einer Zweigniederlassung in H seien die Voraussetzungen des
Vergütungsverfahrens im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Um einen Verstoß gegen das
System der Mehrwertsteuer zu vermeiden, müsse der Vorsteuerabzug daher im
Regelbesteuerungsverfahren gewährt werden.
10 Die Klägerin beantragt,
die Umsatzsteuerbescheide 2008 und 2009 sowie die Bescheide über die Festsetzung der
Umsatzsteuervorauszahlung für das I. und II. Kalendervierteljahr 2010, jeweils vom
11. November 2010, sowie die Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2011 und das
Urteil des FG aufzuheben.
11 Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
12 Das FA macht sich im Wesentlichen die Begründung des FG-Urteils zu eigen.
Entscheidungsgründe
13 II. Die Revision ist unbegründet; sie ist daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das Urteil des FG erweist sich aus anderen als den in den
Entscheidungsgründen dargelegten Gründen als zutreffend. Die Klägerin kann den
Vorsteuerabzug nicht im Besteuerungsverfahren nach § 16 und § 18 Abs. 1 bis 4 UStG
beanspruchen; sie muss Vorsteuerabzugsbeträge vielmehr im besonderen
Vergütungsverfahren nach § 18 Abs. 9 UStG i.V.m. §§ 59 ff. UStDV geltend machen.
14 1. Die Bezeichnung der Klägerin in der Vorentscheidung ist unrichtig. Das FG bezeichnet im
Rubrum zu Unrecht als Klägerin die "AD als Zweigniederlassung der A A/S, vertreten durch
deren Vorstand MS". Klägerin ist aber nicht die Zweigniederlassung, sondern die "A A/S".
15 Die Auslegung der Klageschrift und der weiteren Schriftsätze der Prozessbevollmächtigten,
die der Senat selbst vornehmen kann (Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 26. April
2012 V R 2/11, BFHE 237, 286, BStBl II 2012, 634; vom 14. November 1986 III R 12/81,
BFHE 148, 212, BStBl II 1987, 178, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs; vgl. auch BFH-Beschluss vom 22. Dezember 2008 I B 81/08, BFH/NV
2009, 948), führt zu dem Ergebnis, dass Klägerin von Anfang an die "A A/S" war.
16 a) Prozessuale und außerprozessuale Rechtsbehelfe sind nach ständiger Rechtsprechung
des BFH in entsprechender Anwendung von § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs
auszulegen, wenn eine eindeutige und zweifelsfreie Erklärung fehlt (z.B. BFH-Urteil in
BFHE 237, 286, BStBl II 2012, 634). Maßgeblich ist, welcher Sinn der von der klagenden
Partei in der Klageschrift gewählten Parteibezeichnung bei objektiver Würdigung des
Erklärungsinhalts beizulegen ist. Auch bei scheinbar eindeutiger Erklärung hängt die
Bestimmung des Klägers von allen dem FA und dem FG als den Empfängern der
Klageschrift bekannten oder erkennbaren Umständen tatsächlicher oder rechtlicher Art ab;
dabei ist auch der im weiteren Verfahren erfolgte Tatsachenvortrag mit einzubeziehen (z.B.
BFH-Urteil in BFHE 237, 286, BStBl II 2012, 634; BFH-Beschlüsse vom 7. Oktober 2009
VII B 26/09, BFH/NV 2010, 441; vom 26. Mai 2009 X B 215/08, Zeitschrift für Steuern und
Recht 2009, R683; BFH-Urteil in BFHE 148, 212, BStBl II 1987, 178).
17 b) Danach ist die "A A/S" Klägerin. In der Klageschrift wird die Ansicht vertreten, dass die
Zweigniederlassung keine Unternehmerin sei und umsatzsteuerrechtlich auch nicht sein
könne. Wenn die Zweigniederlassung aber nicht als Unternehmerin angesehen wird, dann
kann sie den geltend gemachten Vorsteueranspruch auch nicht erhalten, weil § 15 Abs. 1
UStG die Unternehmereigenschaft des Leistungsempfängers voraussetzt. Die Klageschrift
kann dann nur dahin verstanden werden, dass sie von demjenigen erhoben werden soll, der
die Grundvoraussetzung des geltend gemachten Anspruchs, die Unternehmereigenschaft,
erfüllt; und das ist die "A A/S".
18 2. Die Klägerin kann den ihr als Unternehmerin grundsätzlich zustehenden
Vorsteueranspruch aus § 15 Abs. 1 UStG nicht im Besteuerungsverfahren nach § 16 und
§ 18 Abs. 1 bis 4 UStG geltend machen. Da die Klägerin eine im Ausland ansässige
Unternehmerin ist und die übrigen Voraussetzungen des Vergütungsverfahrens nach § 18
Abs. 9 UStG i.V.m. §§ 59 ff. UStDV erfüllt sind, können die Vorsteuerbeträge nur in diesem
besonderen Vergütungsverfahren vergütet werden (BFH-Urteil vom 28. April 1988 V R 95,
96/83, BFHE 153, 247, BStBl II 1988, 748).
19 a) Nach § 18 Abs. 9 Satz 1 UStG kann das Bundesministerium der Finanzen mit
Zustimmung des Bundesrates zur Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens durch
Rechtsverordnung die Vergütung der Vorsteuerbeträge (§ 15 UStG) an im Ausland
ansässige Unternehmer, abweichend von § 16 und von § 18 Abs. 1 bis 4 UStG, in einem
besonderen Verfahren regeln. Von dieser Ermächtigung hat der Verordnungsgeber in
§§ 59 ff. UStDV Gebrauch gemacht.
20 aa) Gemäß § 59 UStDV in der bis 31. Dezember 2009 geltenden Fassung ist die "...
Vergütung der abziehbaren Vorsteuerbeträge (§ 15 des Gesetzes) an im Ausland ansässige
Unternehmer (§ 13b Abs. 4 des Gesetzes) ... abweichend von § 16 und § 18 Abs. 1 bis 4 des
Gesetzes nach den §§ 60 und 61 durchzuführen, wenn der Unternehmer im
Vergütungszeitraum" die in Nr. 1 bis 4 näher bezeichneten --hier vorliegenden--
Voraussetzungen erfüllt. § 13b Abs. 4 UStG definiert als einen im Ausland ansässigen
Unternehmer einen Unternehmer, "... der weder im Inland noch auf der Insel Helgoland oder
in einem der in § 1 Abs. 3 UStG bezeichneten Gebiete einen Wohnsitz, seinen Sitz, seine
Geschäftsleitung oder eine Zweigniederlassung hat".
21 bb) In § 59 UStDV in der ab 1. Januar 2010 geltenden Fassung durch das
Jahressteuergesetz 2009 vom 19. Dezember 2008 (BGBl I 2008, 2794) ist an Stelle der
Verweisung auf § 13b UStG die Regelung in § 59 Satz 2 UStDV getreten, wonach ein im
Ausland ansässiger Unternehmer ein Unternehmer ist, "... der weder im Inland noch auf der
Insel Helgoland oder in einem der in § 1 Abs. 3 des Gesetzes bezeichneten Gebiete einen
Wohnsitz, seinen Sitz, seine Geschäftsleitung oder eine Betriebsstätte hat; maßgebend
hierfür ist der Zeitpunkt, in dem die jeweilige Leistung an den Unternehmer ausgeführt wird".
22 cc) Da die weiteren Voraussetzungen des § 59 UStDV erfüllt sind, beantwortet sich die
Frage, ob die Klägerin ein ausländischer Unternehmer ist, der den Vorsteuerabzug im
Vergütungsverfahren geltend machen muss, nach § 59 UStDV in der bis 31. Dezember 2009
geltenden Fassung danach, ob sie im Inland eine Zweigniederlassung und in der ab
1. Januar 2010 geltenden Fassung danach, ob sie im Inland eine Betriebsstätte hat. Für die
Streitjahre 2008 und 2009 ist diese Frage schon deshalb zu bejahen, weil die
Zweigniederlassung der Klägerin gemäß § 13 HGB in das Handelsregister des Amtsgerichts
X eingetragen war. Für das Streitjahr 2010 gilt nichts anderes, weil nicht ersichtlich ist, dass
durch die Ersetzung des Begriffes der Zweigniederlassung durch den der Betriebsstätte
inhaltlich eine Rechtsänderung eingetreten sein könnte.
23 b) Die Klägerin ist dennoch eine im Ausland ansässige Unternehmerin, weil die
unionsrechtlichen Voraussetzungen einer Ansässigkeit im Inland nicht erfüllt sind, der
deutsche Verordnungsgeber mit der in § 59 UStDV getroffenen Regelung das Unionsrecht
nicht zutreffend umgesetzt hat und § 59 UStDV richtlinienkonform unter Einbeziehung der
unionsrechtlichen Ansässigkeitserfordernisse auszulegen ist.
24 aa) Bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung (II.3.) des § 59 UStDV setzt sowohl
der Begriff der Zweigniederlassung als auch der der Betriebsstätte voraus, dass von dort aus
Umsätze bewirkt wurden. Das ist ausweislich der von der Zweigniederlassung für die
Klägerin eingereichten Umsatzsteuererklärungen aber nicht der Fall. Ob Umsätze
beabsichtigt worden sind, ist insoweit ohne Bedeutung.
25 bb) Gemäß Art. 170 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über
das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (Mehrwertsteuersystem-Richtlinie --MwStSystRL--)
hat jeder Steuerpflichtige, "... der im Sinne des Artikels 1 der Richtlinie 79/1072/EWG, des
Artikels 1 der Richtlinie 86/560/EWG (ab 1.1.2010 des Artikels 1 der Richtlinie 86/560/EWG,
des Artikels 2 Nr. 1 und des Artikels 3 der Richtlinie 2008/9/EG) und des Art. 171 der
vorliegenden Richtlinie nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem er die Gegenstände
und Dienstleistungen erwirbt oder mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände einführt,
... Anspruch auf Erstattung dieser Mehrwertsteuer, soweit die Gegenstände und
Dienstleistungen für die Zwecke folgender Umsätze verwendet werden:
a) die in Artikel 169 genannten Umsätze
b) die Umsätze, bei denen die Steuer nach den Artikeln 194 bis 197 und 199 lediglich
vom Empfänger geschuldet wird".
26 Gemäß Art. 171 Abs. 1 der MwStSystRL erfolgt die Erstattung der Mehrwertsteuer an
Steuerpflichtige, die nicht in dem Mitgliedstaat, in dem sie die Gegenstände und
Dienstleistungen erwerben oder mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände einführen,
sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, nach dem in der Richtlinie
79/1072/EWG (ab 1. Januar 2010: Richtlinie 2008/9/EG) vorgesehenen Verfahren.
27 (1) Nach Art. 1 der bis 31. Dezember 2009 geltenden Richtlinie 79/1072/EWG gilt als nicht
im Inland ansässiger Steuerpflichtiger, wer in diesem Land weder den Sitz seiner
wirtschaftlichen Tätigkeit noch eine feste Niederlassung, von wo aus die Umsätze bewirkt
worden sind, noch --in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer festen Niederlassung--
seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort gehabt hat und im Inland keine
Gegenstände geliefert oder Dienstleistungen erbracht hat.
28 (2) Gemäß Art. 3 der ab 1. Januar 2010 geltenden Richtlinie 2008/9/EG gilt diese Richtlinie
für jeden nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässigen Steuerpflichtigen, der
-
im Mitgliedstaat der Erstattung weder den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit noch
eine feste Niederlassung, von der aus Umsätze bewirkt wurden, noch --in
Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung-- dort
seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hat und
-
keine Gegenstände geliefert oder Dienstleistungen erbracht hat, die als im
Mitgliedstaat der Erstattung bewirkt gelten [mit Ausnahme bestimmter
Beförderungsleistungen und der Erbringung bestimmter anderer Dienstleistungen].
29 Gemäß Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 gilt diese Richtlinie für Erstattungsanträge, die
nach dem 31. Dezember 2009 gestellt werden, und gemäß Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie
2008/9 wird die Richtlinie 79/1072/EWG mit Wirkung vom 1. Januar 2010 aufgehoben, wobei
sie jedoch für Erstattungsanträge, die vor dem 1. Januar 2010 gestellt werden, weiter gilt.
30 cc) Sowohl Art. 1 der bis 31. Dezember 2009 geltenden Richtlinie 79/1072/EWG als auch
Art. 3 Buchst. a der ab 1. Januar 2010 geltenden Richtlinie 2008/9/EG enthalten damit zwei
Voraussetzungen, die gleichzeitig erfüllt sein müssen, nämlich zum einen, dass eine "feste
Niederlassung" besteht, und zum anderen, dass von dort aus "Umsätze" bewirkt wurden
(Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union --EuGH-- vom 25. Oktober 2012 C-318,
319/11, Daimler und Widex, Umsatzsteuer-Rundschau 2012, 932 Rdnr. 32).
31 3. Zwar obliegt die verfahrensrechtliche Umsetzung unionsrechtlicher Anforderungen an das
nationale Steuerrecht mangels einer einschlägigen Unionsregelung autonom den einzelnen
Mitgliedstaaten (z.B. BFH-Urteile vom 11. Januar 2012 I R 30/10, BFH/NV 2012, 1105; vom
19. Dezember 2013 V R 5/12, juris; EuGH-Urteile vom 30. Juni 2011 C-262/09, Meilicke u.a.,
BFH/NV 2011, 1467, Rdnr. 55; vom 15. März 2007 C-35/05, Reemtsma, Slg. 2007, I-2425,
Rdnr. 40, jeweils m.w.N.). Das Verfahrensrecht als solches ist aus diesem Grund
grundsätzlich einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich. Demgegenüber ist der
Begriff der Ansässigkeit ausdrücklich in Art. 1 der bis 31. Dezember 2009 geltenden
Richtlinie 79/1072/EWG und in Art. 3 der ab 1. Januar 2010 geltenden Richtlinie 2008/9/EG
geregelt. Folglich ist der Begriff der Ansässigkeit richtlinienkonform auszulegen (BFH-Urteile
vom 22. Mai 2003 V R 97/01, BFHE 203, 193, BStBl II 2003, 819; vom 10. Februar 2005
V R 56/03, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2005, 1208). Von der
"Zweigniederlassung" oder der "Betriebsstätte" (§ 59 UStDV) aus müssen in
richtlinienkonformer Auslegung "Umsätze" bewirkt worden sein. Da von der
Zweigniederlassung der Klägerin aus keine Umsätze bewirkt wurden, ist die Klägerin
ungeachtet ihrer Zweigniederlassung in H ein im Ausland ansässiger Unternehmer und kann
den von ihr beanspruchten Vorsteuerabzug nur im Vergütungsverfahren geltend machen.
32 4. Ob der Klägerin der Vorsteuerabzug im Billigkeitsverfahren nach §§ 163, 227 der
Abgabenordnung zu gewähren sein könnte, kann der Senat im Festsetzungsverfahren nicht
entscheiden, weil Steuerfestsetzung und Billigkeitsentscheidung zwei unterschiedliche
Verwaltungsakte sind (BFH-Beschlüsse vom 12. Dezember 2012 V B 70/12, BFH/NV 2013,
515; vom 12. Oktober 2010 V B 134/09, BFH/NV 2011, 326). In einem Billigkeitsverfahren
könnte zu berücksichtigen sein, dass der deutsche Verordnungsgeber nach Unionsrecht
zwingende Voraussetzungen für die Annahme einer Ansässigkeit im Inland bzw. für die
Verneinung einer Ansässigkeit im Ausland nicht übernommen hat. Die Klägerin konnte auf
der Grundlage des Wortlautes des § 18 Abs. 9 UStG i.V.m. § 59 UStDV davon ausgehen,
dass sie unabhängig von der Ausführung von Umsätzen allein durch ihre
Zweigniederlassung in H kein im Ausland ansässiger Unternehmer ist, der Vorsteuerbeträge
im Vergütungsverfahren geltend machen muss. Es ist für die Klägerin kaum vorhersehbar
gewesen, dass das deutsche Recht das Unionsrecht unzutreffend umgesetzt hat und im
Wege der richtlinienkonformen Auslegung korrigiert werden muss. Dass die
Voraussetzungen für die Durchführung des von der Klägerin zu beschreitenden
Vergütungsverfahrens mittlerweile nicht mehr zu erfüllen sein dürften, könnte eine Härte
darstellen, über deren Unbilligkeit angesichts der Versäumnis des deutschen
Verordnungsgebers, das Unionsrecht zutreffend umzusetzen, gegebenenfalls noch zu
entscheiden sein könnte.