Urteil des BFH vom 24.07.2014

Anforderungen an leichtfertiges Handeln im Binnenmarkt - Leichtfertige Steuerverkürzung i.S. von § 173 Abs. 2 AO

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 24.7.2014, V R 44/13
Anforderungen an leichtfertiges Handeln im Binnenmarkt - Leichtfertige Steuerverkürzung i.S. von
§ 173 Abs. 2 AO
Leitsätze
Der Unternehmer handelt bei Inanspruchnahme der Steuerfreiheit nach § 6a UStG nur dann
leichtfertig i.S. von § 378 AO, wenn es sich ihm zumindest aufdrängen muss, dass er die
Voraussetzungen dieser Vorschrift weder beleg- und buchmäßig noch objektiv nachweisen kann.
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist im Handel mit Kraftfahrzeugen tätig. Für
das Streitjahr 2002 reichte sie ihre Umsatzsteuerjahreserklärung am 22. August 2003 beim
Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) ein. Hieraus ergab sich ein
Vergütungsanspruch in Höhe von 1.129.512,20 EUR. Das FA stimmte dem gemäß § 168
Satz 2 der Abgabenordnung (AO) zu. Im Februar 2006 fand bei der Klägerin eine
Außenprüfung statt, die auch das Streitjahr betraf. Aus hier nicht streitigen Gründen
verminderte das FA im Anschluss an die Außenprüfung den Vergütungsanspruch auf
1.129.286,60 EUR und hob den Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) auf. Änderungen bei
den nach § 6a des Umsatzsteuergesetzes in der für das Streitjahr geltenden Fassung (UStG)
steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferungen ergaben sich nicht.
2 Bereits am 11. Juli 2005 hatte eine Steuerfahndungsprüfung begonnen, die durch Bericht vom
31. Juli 2008 abgeschlossen wurde. Die Fahndungsprüferin ging davon aus, dass die
Klägerin für 15 Fahrzeuglieferungen an die italienische Firma RC und eine Fahrzeuglieferung
an die spanische Firma LC die Steuerfreiheit für innergemeinschaftliche Lieferungen zu
Unrecht in Anspruch genommen habe. Daher wurden Lieferungen mit einer Vergütung von
insgesamt 306.500 EUR (brutto), die die Klägerin als Entgelt für steuerfreie Lieferungen
behandelt hatte, als steuerpflichtige Lieferungen angesehen. Dem folgte das FA und erließ
am 3. November 2008 einen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geänderten Umsatzsteuerbescheid
für das Streitjahr. Der Vergütungsanspruch verminderte sich auf 1.087.010,76 EUR, so dass
sich ein Rückzahlungsanspruch von 42.275,84 EUR ergab.
3 Der hiergegen eingelegte Einspruch hatte nur insoweit Erfolg, als das FA die aufgrund der
Fahndungsprüfung als steuerpflichtig angesehene Lieferung an LC mit einer Gegenleistung
von 34.500 EUR als erst in 2004 ausgeführt behandelte. Durch den Änderungsbescheid vom
11. November 2010 ergab sich ein Vergütungsanspruch von nunmehr 1.091.769,32 EUR.
4 Die Klage zum Finanzgericht (FG) hatte keinen Erfolg. In seinem in Entscheidungen der
Finanzgerichte 2014, 793 veröffentlichten Urteil begründete das FG die Klageabweisung
damit, dass dem Erlass des Bescheides vom 3. November 2008 aufgrund einer
Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 5 Satz 1 AO nicht der Eintritt der Festsetzungsverjährung
entgegengestanden habe. Die Lieferungen seien nicht nach § 6a UStG steuerfrei gewesen.
Die Klägerin habe den Beleg- und Buchnachweis nicht ordnungsgemäß geführt. Die CMR-
Frachtbriefe erfüllten die Nachweisfunktion nicht. Es sei nicht ersichtlich, wer auf wessen
Veranlassung die Transporte durchgeführt habe. Es ergebe sich nicht, wer Auftraggeber der
Speditionen gewesen sei. Die Erwerberfirma RC sei nach behördlichen Feststellungen ein
Scheinunternehmen gewesen. In einem Abholfall fehle die Abholerversicherung. Der
Objektivnachweis sei nicht erbracht, obwohl Fahrzeuge zeitnah in Italien zugelassen worden
seien, da die Zulassungen auf Dritte erfolgt seien. Es komme auch kein Vertrauensschutz in
Betracht, da der Belegnachweis unvollständig sei. Die Klägerin habe sich selbst
unzutreffender Weise als Absender in den Frachtbriefen eingetragen.
5 § 173 Abs. 2 AO stehe dem Änderungsbescheid nicht entgegen, da der Klägerin eine
leichtfertige Steuerverkürzung vorzuwerfen sei. Diese ergebe sich daraus, dass die Klägerin
und ihre Mitarbeiter Frachtbriefe ausgefüllt hätten, obwohl ihnen Kenntnisse über die
tatsächlichen Lieferverhältnisse gefehlt hätten. Auftraggeber und Lieferwege seien nicht
nachvollziehbar gewesen. Ein auf dieser Grundlage ausgestellter Beleg erbringe nicht den
Nachweis der Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung. Die Klägerin habe auch
Zweifel an der Identität der Abnehmer haben müssen.
6 Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision. Das FG habe zu Unrecht die
Korrekturbefugnis nach § 173 Abs. 2 AO bejaht, da sie nicht leichtfertig gehandelt habe.
Insoweit liege ein Verstoß gegen Denkgesetze und gegen den klaren Inhalt der Akten vor.
Zudem habe das FG zu geringe Anforderungen an den Begriff der Leichtfertigkeit gestellt.
Dass sie als Absender im CMR-Frachtbrief eingetragen sei, stehe dem Nachweis der
Steuerfreiheit nicht entgegen. Der CMR-Frachtbrief müsse nicht vollständig ausgefüllt werden.
Wer Auftraggeber des Frachtführers sei, sei für die Steuerfreiheit irrelevant. Es bestünden
gleichwohl hinreichend Kontrollmöglichkeiten für die Finanzverwaltung. In Bezug auf die
Person des Abnehmers habe das FG lediglich Behördenfeststellungen wiedergegeben. Die
Belegfehler stünden der Gewährung von Vertrauensschutz nicht entgegen, da diese nicht
erkennbar gewesen seien.
7 Die Klägerin beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und das FG zu verpflichten, den Umsatzsteuerbescheid 2002 in
Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. November 2010 dahingehend zu ändern, dass
Lieferungen zu einem Bruttoentgelt in Höhe von 272.000 EUR als steuerfreie
innergemeinschaftliche Lieferungen behandelt werden.
8 Das FA beantragt sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.
9 Die Klägerin und ihre Mitarbeiter hätten wissentlich Frachtbriefe falsch ausgefüllt, da sie von
den tatsächlichen Lieferwegen keine Kenntnis gehabt hätten. Von der objektiven Sachlage
habe die Klägerin keine Kenntnis gehabt. Ein Verfahrensfehler liege nicht vor.
Entscheidungsgründe
10 II. Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und die Sache
an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Entgegen dem Urteil ergibt sich eine leichtfertige Steuerverkürzung nicht bereits allein
daraus, dass der Unternehmer die Steuerfreiheit nach § 6a UStG in Anspruch nimmt, ohne
über einen vollständigen Beleg- und Buchnachweis zu verfügen.
11 1. Ein aufgrund einer Außenprüfung ergangener Steuerbescheid kann nur geändert werden,
wenn zumindest eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt.
12 a) Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, wenn
Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer
führen. Steuerbescheide, die auf Grund einer Außenprüfung ergangen sind, können gemäß
§ 173 Abs. 2 Satz 1 AO nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine
Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt.
13 b) Ob eine leichtfertige Steuerverkürzung i.S. von § 173 Abs. 2 AO vorliegt, bestimmt sich
nach § 378 AO (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 7. Februar 2008 VI R 83/04, BFHE
220, 220, BStBl II 2009, 703, unter II.2.). Danach handelt ordnungswidrig, wer als
Steuerpflichtiger oder bei Wahrnehmung der Angelegenheiten eines Steuerpflichtigen eine
der in § 370 Abs. 1 AO bezeichneten Taten leichtfertig begeht.
14 aa) Täter i.S. von §§ 370, 378 AO ist, wer gegenüber den Finanzbehörden oder anderen
Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben
macht (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO), die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche
Tatsachen in Unkenntnis lässt (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) oder pflichtwidrig die Verwendung
von Steuerzeichen oder Steuerstemplern unterlässt (§ 370 Abs. 1 Nr. 3 AO) und dadurch
Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt.
15 bb) Leichtfertigkeit i.S. von § 378 AO erfordert einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit, der
im Wesentlichen der groben Fahrlässigkeit des bürgerlichen Rechts entspricht, dabei aber
die persönlichen Fähigkeiten des Täters berücksichtigt (BFH-Urteile vom 31. Oktober 1989
VIII R 60/88, BFHE 160, 7, BStBl II 1990, 518, und vom 16. Februar 2011 X R 10/10,
BFH/NV 2011, 977, unter II.4.d dd). Leichtfertig handelt, wer die Sorgfalt außer Acht lässt, zu
der er nach den besonderen Umständen des Falles und seinen persönlichen Fähigkeiten
und Kenntnissen verpflichtet und imstande ist und dem sich danach aufdrängen muss, dass
er dadurch Steuern verkürzt (BFH-Urteile vom 24. April 1996 II R 73/93, BFH/NV 1996, 731,
und vom 17. November 2011 IV R 2/09, BFH/NV 2012, 1309, unter II.4.b aa).
16 2. Im Streitfall erging der Bescheid, den das FA mit dem angefochtenen Bescheid vom
3. November 2008 geändert hat, aufgrund einer Außenprüfung. Eine Änderungsbefugnis
bestand daher für das FA nur nach § 173 Abs. 2 Satz 1 AO.
17 a) Ob Leichtfertigkeit vorliegt, ist im Wesentlichen Tatfrage, kann aber in der
Revisionsinstanz insbesondere daraufhin überprüft werden, ob das FG den Rechtsbegriff der
Leichtfertigkeit richtig erkannt hat (BFH-Urteil vom 30. Juni 2010 II R 14/09, BFH/NV 2010,
2002, unter II.2.b bb). Hieran fehlt es im Streitfall.
18 b) Das FG hat für ein leichtfertiges Handeln der Klägerin angeführt, dass sie und ihre
Mitarbeiter die CMR-Frachtbriefe ausgefüllt hatten, obwohl Kenntnisse über die
tatsächlichen Lieferverhältnisse fehlten. Derartige Belege seien zur Nachweisführung nicht
geeignet. Zudem hätten sich Zweifel an der Identität des Abnehmers ergeben.
19 Damit hat das FG nicht hinreichend berücksichtigt, dass der BFH seine frühere
Rechtsprechung, nach der Unternehmer die Steuerfreiheit für innergemeinschaftliche
Lieferungen ausschließlich beleg- und buchmäßig nachweisen konnten (vgl. BFH-Urteil vom
30. März 2006 V R 47/03, BFHE 213, 148, BStBl II 2006, 634, unter II.2.), aufgegeben hat
(BFH-Urteil vom 6. Dezember 2007 V R 59/03, BFHE 219, 469, BStBl II 2009, 57, Leitsatz 4):
Der Unternehmer ist berechtigt, das Vorliegen der Voraussetzungen der Steuerfreiheit auch
objektiv nachzuweisen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 12. Mai 2011 V R 46/10, BFHE 234, 436,
BStBl II 2011, 957, unter II.3.).
20 Aufgrund der geänderten Rechtsprechung des Senats handelt der Unternehmer nur
leichtfertig, wenn es sich ihm zumindest "aufdrängen muss" (s. oben II.1.b bb), dass er die
Voraussetzungen des § 6a UStG weder beleg- und buchmäßig noch objektiv nachweisen
kann (vgl. BFH-Urteil in BFHE 234, 436, BStBl II 2011, 957, unter II.4.). Das bloße Abstellen
auf die Beleglage reicht nach der geänderten Rechtsprechung nicht aus.
21 3. Da die Vorentscheidung diesen Maßstäben nicht entspricht, ist sie aufzuheben und die
Sache an das FG zurückzuverweisen. Im zweiten Rechtsgang ist zu prüfen, ob die Klägerin
davon ausgehen konnte, die Voraussetzungen der Steuerfreiheit zumindest objektiv
nachweisen zu können.
22 Dabei wird zu ermitteln sein, ob die Klägerin im Hinblick auf das unstreitige Gelangen der
Fahrzeuge nach Italien und der ihr darüber hinaus vom Bundeszentralamt qualifiziert
bestätigten Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des Abnehmers den Tatbestand der
innergemeinschaftlichen Lieferung als erfüllt ansehen konnte. Bei dieser Sachlage
rechtfertigten bloße "Zweifel" an den "Lieferwegen" und das vom FG als möglich
angesehene Vorliegen eines Reihengeschäfts ggf. zwar die Versagung der Steuerfreiheit
nach § 6a UStG, nicht aber auch die Annahme eines leichtfertigen Handelns i.S. von § 378
AO. Im Übrigen begründet auch die Kontaktaufnahme zur italienischen Abnehmerfirma über
dessen inländischen Vertreter für sich allein nicht den Vorwurf leichtfertigen Handelns.
23 4. Über die geltend gemachten Verfahrensfehler ist nicht zu entscheiden.