Urteil des BFH vom 28.04.2010

Gesonderte Vergleichsrechnung nach § 31 EStG für jedes einzelne Kind - Kein Wahlrecht für Zusammenfassung von Kinderfreibeträgen - Außerordentliche Einkünfte

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 28.4.2010, III R 86/07
Gesonderte Vergleichsrechnung nach § 31 EStG für jedes einzelne Kind - Kein Wahlrecht für Zusammenfassung von
Kinderfreibeträgen - Außerordentliche Einkünfte
Leitsätze
Die Vergleichsrechnung nach § 31 EStG, bei der geprüft wird, ob das Kindergeld oder der Ansatz der Freibeträge nach § 32
Abs. 6 EStG für den Steuerpflichtigen vorteilhafter ist, wird für jedes Kind einzeln durchgeführt. Dies gilt auch dann, wenn eine
Zusammenfassung der Freibeträge für zwei und mehr Kinder wegen der Besteuerung außerordentlicher Einkünfte nach § 34
Abs. 1 EStG (sog. Fünftelregelung) günstiger wäre.
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wurde für das Jahr 2000 (Streitjahr) zusammen mit seiner im Juni 2000
verstorbenen Ehefrau zur Einkommensteuer veranlagt. Für zwei seiner drei Töchter bezog er Kindergeld. Der Kläger,
der als Architekt tätig gewesen war, erzielte im Streitjahr einen tarifbegünstigten Veräußerungsgewinn von 140.000 DM
bei den Einkünften aus selbständiger Arbeit. Das zu versteuernde Einkommen belief sich auf 159.154 DM. Darin war
der Veräußerungsgewinn enthalten, der nach § 34 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der für das Jahr
2000 geltenden Fassung ermäßigt besteuert wurde. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) setzte
bei der Vergleichsrechnung nach § 31 EStG für die zwei Töchter jeweils den (doppelten) Kinderfreibetrag von 6.912
DM nach § 32 Abs. 6 EStG an. Nach Hinzurechnung des im Jahr 2000 gezahlten Kindergeldes von 6.480 DM setzte es
im Bescheid vom 12. November 2001 eine Steuer von 31.716 DM fest.
2 Aufgrund einer Mitteilung über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Einkünften aus einer Fondsbeteiligung
erließ das FA unter dem Datum des 12. Februar 2003 einen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung
geänderten Einkommensteuerbescheid 2000. Es erhöhte die Einkünfte des Klägers aus Kapitalvermögen um 2.485
DM. Bei der Vergleichsrechnung nach § 31 EStG kam es nunmehr zu dem Ergebnis, dass das gezahlte Kindergeld für
den Kläger günstiger sei als die Gewährung von Kinderfreibeträgen. Dabei fasste es die Kinderfreibeträge nicht
zusammen, vielmehr führte es die Vergleichsrechnung für die beiden Töchter einzeln durch. Das FA setzte im
Änderungsbescheid die Einkommensteuer auf 19.994,58 EUR (umgerechnet 39.106 DM) fest. Der Einspruch des
Klägers war erfolglos.
3 Das Finanzgericht (FG) gab der anschließend erhobenen Klage statt und setzte die Steuer auf (umgerechnet) 34.590
DM herab (Urteil vom 26. April 2007 3 K 60/07, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2008, 625). Es führte im
Wesentlichen aus, die Ansicht der Finanzverwaltung und die herrschende Ansicht in der Literatur, wonach sich aus
dem Gesetzeswortlaut ergebe, dass die Vergleichsrechnung für jedes einzelne Kind vorzunehmen sei, führe nicht zu
zutreffenden Ergebnissen. Sachgerecht sei nur eine Berechnung, bei der das Einkommen um die Kinderfreibeträge für
beide Kinder vermindert und die dadurch bewirkte Minderung der Einkommensteuer dem gezahlten Kindergeld
gegenübergestellt werde. Die vom FA angestellte Berechnung habe nicht nur eine Schlechterstellung zur Folge,
sondern sogar eine verfassungswidrige Überbelastung. So habe eine Erhöhung der Einkünfte aus Kapitalvermögen
um 2.485 DM eine zusätzliche Einkommensteuerbelastung von 7.390 DM ausgelöst.
4 Zur Begründung der Revision trägt das FA vor, aus der Formulierung in § 31 Satz 1 EStG, die steuerliche Freistellung
eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums "eines" Kindes werde entweder durch die Freibeträge oder
das Kindergeld bewirkt, ergebe sich, dass bei der Günstigerprüfung stets auf das einzelne Kind abzustellen sei. Eine
zusammengefasste Betrachtungsweise dergestalt, dass das Kindergeld für mehr als ein Kind ermittelt und mit der
steuerlichen Wirkung der Kinderfreibeträge verglichen werde, sei nicht zulässig. Verfassungsrechtliche Bedenken
wegen einer Übermaßbesteuerung bestünden nicht, weil die auf laufende Einkünfte entfallende Steuer nicht isoliert
betrachtet werden dürfe.
5 Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
6 Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
7 Er trägt vor, eine Einzelbetrachtung, die bei Anwendung der Fünftelregelung zu einer Ungünstigerprüfung führe, sei
nicht gesetzlich vorgeschrieben.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126
Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht bei der Vergleichsrechnung nach § 31
EStG die für zwei Kinder des Klägers zu berücksichtigenden Kinderfreibeträge zusammengefasst und keine
Einzelberechnung vorgenommen.
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1. Nach § 31 Satz 1 EStG wird die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums
eines Kindes einschließlich des Betreuungsbedarfs entweder durch die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG oder durch
das Kindergeld nach dem X. Abschnitt des EStG bewirkt. Für das Streitjahr 2000 wird ein Freibetrag von 3.456 DM für
das sächliche Existenzminimum des Kindes (Kinderfreibetrag) sowie --unter weiteren, hier nicht vorliegenden
Voraussetzungen-- ein Betreuungsfreibetrag von 1.512 DM gewährt. Die Freibeträge sind bei zusammen zur
Einkommensteuer veranlagten Ehegatten zu verdoppeln (§ 32 Abs. 6 Satz 3 EStG).
10 a) Welche der beiden Alternativen des § 31 Satz 1 EStG im Einzelfall zutrifft, bestimmt sich nach § 31 Satz 4 EStG.
Hiernach sind die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG abzuziehen, wenn das Kindergeld die gebotene steuerliche
Freistellung nicht in vollem Umfang bewirkt; in diesem Fall wird das gezahlte Kindergeld der Einkommensteuer
hinzugerechnet (§ 36 Abs. 2 Satz 1 EStG). Die gebotene steuerliche Freistellung wird nicht in vollem Umfang bewirkt,
wenn das Kindergeld geringer ist als die Entlastung, die bei Abzug der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG eintritt.
11 b) Die Systematik des Gesetzes erfordert eine Vergleichsrechnung. Der Einkommensteuer, die sich nach Abzug der
Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG ergibt, wird die Einkommensteuer gegenübergestellt, die bei einer
Steuerfestsetzung ohne Abzug der Freibeträge anfällt. Ist die Differenz geringer als das Kindergeld, so scheidet ein
Abzug der Freibeträge aus, der Familienleistungsausgleich wird durch das Kindergeld bewirkt. Wegen der
Progressionswirkung des Steuertarifs kann die Vergleichsrechnung bei mehreren Kindern unterschiedlich ausfallen,
wenn sie für jedes einzelne Kind, beginnend beim ältesten, gesondert durchgeführt wird. Die im Regelfall für den
Steuerpflichtigen günstige Einzelbetrachtung wird auch von der Finanzverwaltung angestellt (Schreiben des
Bundesministeriums der Finanzen vom 30. November 1995 IV B 5 -S 2282a- 438/95 II, BStBl I 1995, 805 Rz 7; R 31
Abs. 1 der Einkommensteuer-Richtlinien 2008).
12 2. Aus § 31 Satz 1 EStG und aus § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG ergibt sich, dass die Vergleichsrechnung für jedes Kind
einzeln durchzuführen ist, beginnend beim ältesten. Nach § 31 Satz 1 EStG ist ein Einkommensbetrag in Höhe des
Existenzminimums "eines" Kindes steuerlich freizustellen. Ebenso spricht der Wortlaut des § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG,
wonach die Freibeträge "für jedes zu berücksichtigende Kind" des Steuerpflichtigen anzusetzen sind, gegen eine
Zusammenfassung mehrerer Kinderfreibeträge (s. Schmidt/Loschelder, EStG, 29. Aufl., § 31 Rz 13; Kanzler in
Herrmann/Heuer/Raupach, § 31 EStG Rz 34; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 31
EStG Rz 242; Jachmann, in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 31 Rz B 28; Plenker, Der Betrieb --DB-- 1996, 2095;
i.E. ebenso Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 31 Rz 23;
Seiler in Kirchhof, EStG, 9. Aufl., § 31 Rz 8; Dürr in Frotscher, EStG, 6. Aufl., Freiburg 1998 ff., § 31 Rz 46; Stache in
Bordewin/Brandt, § 31 EStG Rz 33a; Leichtle, DB 1997, 1149; a.A. FG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 14.
Oktober 2002 1 K 925/98, EFG 2003, 169; FG München, Urteil vom 19. Juni 2008 15 K 4625/05, EFG 2008, 1460).
Für ein Wahlrecht dahingehend, die für mehrere Kinder zu gewährenden Freibeträge zusammenzufassen, wenn dies
bei Anwendung der sog. Fünftelregelung nach § 34 Abs. 1 EStG günstiger sein sollte, findet sich im Gesetz keine
Stütze.
13 3. Der vom FG hervorgehobene Umstand, dass im Streitfall der Ansatz zusätzlicher Kapitaleinkünfte von 2.485 DM
eine weitere Belastung mit Einkommensteuer von 7.390 DM bewirkt habe, ist kein ausreichender Grund, abweichend
von den vorstehenden Ausführungen die Vergleichsrechnung nach § 31 EStG unter Zusammenfassung der
Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG durchzuführen. Denn der starke Anstieg der Einkommensteuerbelastung, der
durch zusätzliche, nicht nach § 34 EStG begünstigte Einkünfte oder durch den Wegfall von Abzugsbeträgen bewirkt
wird, ist keine Besonderheit der Vergleichsrechnung. Er ist Folge der sog. Fünftelregelung in § 34 Abs. 1 EStG
(ebenso Bozza-Bodden, Anm. in EFG 2008, 626).
14 Nach § 34 Abs. 1 Satz 2 EStG beträgt die für außerordentliche Einkünfte anzusetzende Einkommensteuer das
Fünffache des Unterschiedsbetrags zwischen der Einkommensteuer für das um diese Einkünfte verminderte zu
versteuernde Einkommen (verbleibendes zu versteuerndes Einkommen) und der Einkommensteuer für das
verbleibende zu versteuernde Einkommen zuzüglich eines Fünftels dieser Einkünfte. Der aus dieser Art der
Berechnung resultierende Vorteil ist umso größer, je geringer die nicht begünstigten Einkünfte sind (s.a. Urteil des
Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 22. September 2009 IX R 93/07, BFHE 226, 510, BFH/NV 2010, 296). Die Erhöhung
nicht begünstigter Einkünfte oder der Wegfall von Abzugsbeträgen bewirkt dementsprechend eine Minderung dieser
(Über-)Begünstigung und einen starken Anstieg der Steuerprogression.
15 4. Entgegen der Rechtsansicht des Klägers und auch des FG führt der Ansatz der zusätzlichen Kapitaleinkünfte nicht
zu einer verfassungswidrigen Besteuerung. Der von einigen Autoren (Jahndorf/Lorscheider, Finanz-Rundschau --FR--
2000, 433; List, Betriebs-Berater 2003, 761; Siegel, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2007, 978; s.a.
Henning/Hundsdoerfer/Schult, DStR 1999, 131; Birk/Kulosa, FR 1999, 433) angenommene Verstoß gegen den
Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) oder gegen das Verbot einer konfiskatorischen
Besteuerung (Art. 14 GG) lässt sich nur bei einer isolierten Betrachtung der nicht begünstigten Einkünfte begründen.
Maßstab für die Gleich- oder Ungleichbehandlung zweier Steuerpflichtiger ist jedoch die Belastung des gesamten zu
versteuernden Einkommens (BFH-Urteil vom 6. Dezember 2006 X R 22/06, BFH/NV 2007, 442, unter Hinweis auf
Sieker, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 34 Rz A 102; ebenso Horn in Herrmann/Heuer/Raupach, § 34 EStG Rz
4). Entsprechendes gilt, wenn --wie im Streitfall-- eine konfiskatorische Besteuerung gerügt wird (s. BFH-Urteil in BFHE
226, 510, BFH/NV 2010, 296). Unabhängig hiervon ist die auf Antrag des Klägers durchgeführte Besteuerung der
außerordentlichen Einkünfte nach § 34 Abs. 1 EStG trotz des Wegfalls der Kinderfreibeträge für ihn weitaus
vorteilhafter als es eine Besteuerung sämtlicher Einkünfte mit dem normalen Steuertarif wäre.
16 5. Der im finanzgerichtlichen Verfahren gestellte Antrag des Klägers, ausländische Steuern von 622 DM nicht nach §
34c Abs. 1 EStG anzurechnen, sondern sie nach § 34c Abs. 2 EStG bei der Ermittlung der Einkünfte abzuziehen, führt
nicht zu einer Herabsetzung der vom FA in Höhe von 19.994,58 EUR festgesetzten Steuer (umgerechnet 39.106 DM).
Dies ergibt sich aus seiner dem FG mit Schreiben vom 5. April 2007 vorgelegten Berechnung, in der eine tarifliche
Einkommensteuer von 39.404 DM ermittelt ist.