Urteil des BFH vom 20.05.2014

Vorabentscheidungsersuchen zur Einreihung einer Aminosäuremischung als Arzneiware oder Nährstoffzubereitung

BUNDESFINANZHOF Entscheidung vom 20.5.2014, VII R 37/12
Vorabentscheidungsersuchen zur Einreihung einer Aminosäuremischung als Arzneiware oder
Nährstoffzubereitung
Leitsätze
Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Handelt es sich bei Aminosäuremischungen wie denen des Streitfalls, aus welchen (in
Verbindung mit Kohlehydraten und Fetten) ein Nahrungsmittel hergestellt wird, mit dem ein
grundsätzlich lebensnotwendiger, in der normalen Ernährung vorhandener, im Einzelfall aber
allergieauslösender Stoff ersetzt wird und dadurch allergiebedingte
Gesundheitsbeeinträchtigungen vermieden und die Linderung oder sogar Heilung bereits
eingetretener Schäden ermöglicht werden, um eine zu prophylaktischen oder therapeutischen
Zwecken aus mehreren Bestandteilen gemischte Arzneiware i.S. der Pos. 3003 der Kombinierten
Nomenklatur?
Für den Fall, dass Frage 1 zu verneinen sein sollte:
2. Handelt es sich bei den Aminosäuremischungen um Nährstoffzubereitungen der Pos. 2106 der
Kombinierten Nomenklatur, die nach Anmerkung 1 Buchst. a zu Kap. 30 der Kombinierten
Nomenklatur aus diesem Kapitel ausgewiesen sind, weil sie keine über die Zuführung von
Nahrung hinausgehende prophylaktische oder therapeutische Wirkung entfalten?
Tenor
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung
vorgelegt:
1. Handelt es sich bei Aminosäuremischungen wie denen des Streitfalls, aus welchen (in
Verbindung mit Kohlehydraten und Fetten) ein Nahrungsmittel hergestellt wird, mit dem ein
grundsätzlich lebensnotwendiger, in der normalen Ernährung vorhandener, im Einzelfall aber
allergieauslösender Stoff ersetzt wird und dadurch allergiebedingte
Gesundheitsbeeinträchtigungen vermieden und die Linderung oder sogar Heilung bereits
eingetretener Schäden ermöglicht werden, um eine zu prophylaktischen oder therapeutischen
Zwecken aus mehreren Bestandteilen gemischte Arzneiware i.S. der Pos. 3003 der Kombinierten
Nomenklatur?
Für den Fall, dass Frage 1 zu verneinen sein sollte:
2. Handelt es sich bei den Aminosäuremischungen um Nährstoffzubereitungen der Pos. 2106 der
Kombinierten Nomenklatur, die nach Anmerkung 1 Buchst. a zu Kapitel 30 der Kombinierten
Nomenklatur aus diesem Kapitel ausgewiesen sind, weil sie keine über die Zuführung von
Nahrung hinausgehende prophylaktische oder therapeutische Wirkung entfalten?
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) beantragte am 12. August 2008 die
Erteilung verbindlicher Zolltarifauskünfte (vZTA) zur Einreihung von Aminosäuremischungen
mit den Bezeichnungen ... (R-1 bzw. R-2) in die Kombinierte Nomenklatur (KN). Sie hielt die
Unterposition (Unterpos.) 3003 90 90 KN "Arzneiwaren (ausgenommen Erzeugnisse der
Position 3002, 3005 oder 3006), die aus zwei oder mehr zu therapeutischen oder
prophylaktischen Zwecken gemischten Bestandteilen bestehen, weder dosiert noch in
Aufmachungen für den Einzelverkauf - andere" für zutreffend.
2 Die von der Bundesfinanzdirektion B am 23. Oktober 2008 erteilten vZTA reihten die Waren
jeweils in die Unterpos. 2106 90 92 KN ein. Es handele sich um
"Lebensmittelzubereitungen, anderweit weder genannt noch inbegriffen, kein Milchfett und
keine Saccharose, Isoglucose, Stärke oder Glucose enthaltend; kein Erzeugnis der
Pos. 3003 KN, da es weder zu therapeutischen oder prophylaktischen Zwecken im Sinne
dieser Position noch intravenös verabreicht wird".
3 In ihrem Einspruch führte die Klägerin aus, die Aminosäuremischungen würden zu
Produkten verarbeitet, die hauptsächlich zur Therapie von Kuhmilchallergie, anderen
Nahrungsmittelallergien, Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts und zur Prophylaxe
verwendet würden und von ihrem Abnehmer für den Einzelverkauf aufgemacht seien. Der
zwischenzeitlich zuständig gewordene Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt --
HZA--) wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 5. Januar 2011 als
unbegründet zurück.
4 Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Die Ware sei nicht in die Position (Pos.) 3003 KN
einzureihen, weil sie keine Arzneiware im Sinne des Tarifs sei.
5 Es stellte fest, die Aminosäuremischungen bestünden aus verschiedenen, hochrein
hergestellten Einzelaminosäuren. Die Klägerin stelle die Mischungen nach Vorgaben ihres
Abnehmers her, der aus ihnen, Kohlehydraten und Fetten Säuglings- und Kindernahrung
("A") für Säuglinge und Kinder mit Kuhmilchproteinallergie herstelle. Diese Allergie rufe
Überempfindlichkeitsreaktionen auf ein oder mehrere (sogenannte) Kuhmilchproteine hervor,
die schwerwiegend seien und auch weitere gesundheitliche Störungen nach sich ziehen
könnten. Kuhmilchproteine seien nicht tierartspezifisch, sie könnten auch in der Muttermilch
auftreten. Bei Säuglingen und Kleinkindern sei der bloße Verzicht auf Milch bzw.
Milchprodukte schwierig bis unmöglich, weil der im Wachstum begriffene Organismus zur
Vermeidung von Mangelzuständen, Wachstumsstörungen und schweren
Entwicklungsstörungen die Proteine benötige. Medikamente, die bei Älteren gegen die
Symptome eingesetzt würden, vertrügen Säuglinge und Kleinkinder zumeist nicht. Bei ca.
80 % der Fälle führe eine Behandlung unter Verabreichung der Aminosäuremischungen
dazu, dass sich das Immunsystem des Kindes normal entwickle mit der Folge, dass auch
eine "normale" Ernährung möglich sei. Durch die Gabe der Aminosäuremischungen werde --
lediglich-- die Möglichkeit geschaffen, auf die Ernährung mit allergenen Stoffen zu
verzichten.
6 Obwohl die nach genau spezifizierten Vorgaben des Herstellers der "A"-Produkte
synthetisierten und gemischten Aminosäuren --insoweit gleich einer Arzneiware-- dazu
bestimmt seien, im Rahmen einer medizinischen Behandlung kuhmilchproteinallergischen
Säuglingen und Kleinkindern verabreicht zu werden, sah sich das FG gehindert, die
Aminosäuremischungen als Arzneimittel in die Pos. 3003 KN einzureihen.
Zwar enthalte die KN keine Definition eines Arzneimittels. Da nach den Erläuterungen zum
Harmonisierten System (ErlHS) zu Pos. 3003 Rz 20.0 Lebensmittelzubereitungen mit einem
arzneilichen Wirkstoff ausnahmsweise der Pos. 3003 unterfielen, während nach der ErlHS
zu Pos. 3003 Rz 17.0 Satz 2 solche, die nur Nährstoffe --wie Eiweißstoffe, Kohlehydrate und
Fette-- enthielten, nicht als Arzneimittel einzureihen seien, setze die Pos. 3003 KN aber auf
jeden Fall das Vorhandensein eines arzneilichen Wirkstoffs voraus. Dementsprechend seien
die streitgegenständlichen Aminosäuremischungen, welche nur die für die Ernährung
jeweils erforderlichen Eiweißbestandteile "als Paket" zur Verfügung stellten, im
maßgeblichen System der KN als "Nährstoffe" anzusehen. Eine arzneiliche Wirkung der
Aminosäuremischungen sei nicht festzustellen und habe die Klägerin auch auf Nachfrage
nicht dargelegt.
7 Die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 10. Dezember
1998 C-328/97 --Glob-Sped-- (Slg. 1998, I-8357), nachfolgend Senatsurteil vom 5. Oktober
1999 VII R 42/98 (BFHE 190, 501, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 2000, 56), sei
auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.
8 Mit der Revision trägt die Klägerin vor, die Feststellungen des FG ließen eine Einreihung der
Aminosäuremischungen als Arzneiware zu. Zu Unrecht greife das FG zur Begründung des
Erfordernisses eines eigenen pharmakologischen Wirkstoffs auf die ErlHS zur Pos. 3003
zurück. Diese ErlHS seien nicht verbindlich. Weder der maßgebliche Wortlaut der Pos. 3003
KN noch die dazugehörigen Anmerkungen enthielten ein solches Erfordernis. Für die
Einreihung als Arzneiware spreche die spezifische Zusammenstellung und Dosierung, die
die einzige in der Praxis medizinisch vertretbare Behandlung der Kleinkinder sei. Auch die
ErlHS zu Pos. 3003 Rz 17.0 betreffe ersichtlich nur Lebensmittel, die keinen therapeutischen
oder prophylaktischen Zweck verfolgten.
9 Schließlich verweist die Klägerin auf ein Urteil des britischen Upper Tribunal vom
27. September 2013 (FTC/61/2012), in dem --wie schon in der Vorinstanz (First Tier Tribunal
vom 8. Dezember 2011 (TC/2009/14700))-- die nämliche Aminosäuremischung in die Pos.
3003 KN eingereiht worden sei.
10 Das HZA schließt sich den Ausführungen des FG an.
Die Urteile der englischen Gerichte hält das HZA für unzutreffend.
Entscheidungsgründe
11 II. Der Senat setzt das Verfahren aus (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 74 der Finanzgerichtsordnung)
und legt dem EuGH gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen
Union (AEUV) die im Tenor bezeichneten Fragen zur Vorabentscheidung vor, weil die
Auslegung der für die Entscheidung des Streitfalls maßgeblichen Vorschriften des
Unionsrechts Zweifelsfragen aufwirft.
12 Der beschließende Senat möchte die Revision der Klägerin zurückweisen, weil er die
Einreihung der Aminosäuremischungen R-1 und R-2 in die Pos. 2106 KN durch die
streitigen vZTA und das diese bestätigende Urteil des FG für zutreffend hält. Da aber das
Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) in Großbritannien mit Entscheidung vom
27. September 2013 FTC/61/2012 die nämlichen Mischungen als Arzneiwaren in die Pos.
3003 KN eingereiht hat, ersucht er den Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV um eine Klärung,
welche Einreihung zutreffend ist.
13 1. In die Unterpos. 2106 90 92 KN sind "Lebensmittelzubereitungen, anderweit weder
genannt noch inbegriffen; andere" einzureihen. Ausgewiesen aus Kap. 21 KN sind nach der
Anmerkung 1 Buchst. f Halbsatz 2 zu diesem Kapitel "andere Waren der Position 3003 oder
3004".
14 Die Pos. 3003 KN erfasst "Arzneiwaren ..., die aus zwei oder mehr zu therapeutischen oder
prophylaktischen Zwecken gemischten Bestandteilen bestehen, weder dosiert noch in
Aufmachungen für den Einzelverkauf", die Pos. 3004 KN erfasst ebenfalls "Arzneiwaren ...,
die aus gemischten oder ungemischten Erzeugnissen zu therapeutischen oder
prophylaktischen Zwecken bestehen, dosiert (einschließlich solcher, die über die Haut
verabreicht werden) oder in Aufmachungen für den Einzelverkauf".
15 Zu Kap. 30 gehören nach Anmerkung 1 Buchst. a zu Kap. 30 KN nicht Nahrungsmittel ... (wie
diätetische ...), andere nicht intravenös zu verabreichende Nährstoffzubereitungen ...
16 Mit der Verordnung (EG) Nr. 1777/2001 (VO Nr. 1777/2001) der Kommission vom
7. September 2001 zur Änderung des Anhangs I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des
Rates über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif
(Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- Nr. L 240/4 vom 8. September 2001,
berichtigt in ABlEG Nr. L 185/37 vom 16. Juli 2005) wurde zu Kap. 30 KN die Zusätzliche
Anmerkung 1 eingefügt: "Zu Position 3004 gehören pflanzliche Arzneizubereitungen und
Zubereitungen auf der Grundlage folgender Wirkstoffe: Vitamine, Mineralstoffe, essentielle
Aminosäuren oder Fettsäuren, in Aufmachungen für den Einzelverkauf. Diese Zubereitungen
sind in Position 3004 einzureihen, wenn auf dem Etikett, der Verpackung oder dem
Beipackzettel folgende Angaben gemacht werden:
a) die spezifischen Krankheiten, Leiden oder deren Symptome, bei denen diese Erzeugnisse
verwendet werden sollen;
b) die Konzentration der aktiven Wirkstoffe oder der darin enthaltenen Stoffe;
c) die zu verabreichende Menge und
d) die Art der Anwendung."
(die weiteren Bestimmungen bleiben hier außer Betracht).
17 In den ErlHS zu Pos. 3003 heißt es in Rz 17.0: "Die verschiedenen Bestimmungen in der
Überschrift zu dieser Position gelten weder für Lebensmittel noch für Getränke (z. B. für
diätetische Lebensmittel, angereicherte Lebensmittel, Lebensmittel für Diabetiker, tonische
Getränke und natürliche oder künstliche Mineralwässer), die nach ihrer Beschaffenheit
einzureihen sind. Dies gilt vor allem für Lebensmittelzubereitungen, die nur Nährstoffe
enthalten. Die wichtigsten Nährstoffe, die in Lebensmitteln vorkommen, sind Eiweißstoffe,
Kohlehydrate und Fette. Vitamine und Mineralsalze spielen in der Ernährung ebenfalls eine
Rolle."
Und in Rz 18.0: "Das Gleiche gilt für Lebensmittel und Getränke mit Zusatz von arzneilichen
Wirkstoffen, sofern diese Wirkstoffe keinen anderen Zweck haben, als ein besseres
diätetisches Gleichgewicht zu schaffen, den Energie- oder Nährwert des Erzeugnisses zu
heben oder seinen Geschmack zu verbessern, ihm aber nicht den Charakter einer
Lebensmittelzubereitung nehmen."
18 2. Der Senat teilt im Ergebnis die Auffassung des FG, die Aminosäuremischungen R-1 und
R-2 seien als "Lebensmittelzubereitungen" in die Unterpos. 2106 90 92 KN einzureihen, da
sie anderweitig weder genannt noch inbegriffen sind. Insbesondere kommt eine Einreihung
in die Pos. 3003 KN "Arzneiwaren" nicht in Betracht, da die Mischungen ausschließlich zur
Herstellung von Säuglingsnahrung für kuhmilchallergische Kinder nach den Vorgaben des
Abnehmers zusammengestellt werden. Da diese Nahrung nach den übereinstimmenden
Angaben der Beteiligten und den Feststellungen des FG als Ersatz für allergieauslösende
Milchprodukte eingesetzt werden, bis sich das Immunsystem des Kindes entwickelt hat, ist
ein therapeutischer oder prophylaktischer Zweck dieser Ernährung nicht ersichtlich. Sie
ersetzt lediglich einen krankheitsauslösenden Bestandteil der normalen Ernährung, ohne auf
die Allergie einzuwirken, sie zu beseitigen oder zu mindern.
19 Dabei verkennt der Senat nicht, dass beim allergischen Kleinkind ohne Zuführung nicht
allergieauslösender Proteine schwere Entwicklungsstörungen zu erwarten wären. Das
könnte dazu verleiten, den Aminosäuremischungen einen prophylaktischen Zweck
beizumessen. Allerdings dienen auch diätetische Lebensmittel dazu, Gesundheitsstörungen
vorzubeugen oder Zustandsverschlechterungen zu vermeiden (z.B. Sojaprodukte bei
Laktoseüberempfindlichkeit, fettreduzierte Lebensmittel bei erhöhten Cholesterinwerten). In
diesem weiten Verständnis ist der prophylaktische Zweck demzufolge kein geeignetes
Abgrenzungskriterium.
20 Auch der Verordnungsgeber hat die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen
Arzneiwaren und diätetischen Zubereitungen einschließlich Zubereitungen für besondere
Ernährungszwecke und Nahrungsergänzungsmittel erkannt, wie sich den
Erwägungsgründen der VO Nr. 1777/2001, die die Zusätzliche Anmerkung 1 zu Kap. 30 KN
eingefügt hat, entnehmen lässt. Danach waren eben diese Schwierigkeiten Anlass für das
Tätigwerden des Unionsgesetzgebers. Durch die Erstellung einer Liste verbindlicher
Kriterien, bei deren Erfüllung ein Erzeugnis als Arzneimittel in die Pos. 3004 KN einzureihen
ist, sollten die in der Abfertigungspraxis aufgetretenen Probleme jedenfalls in den Fällen der
Pos. 3004 KN gelöst werden. Eine Definition der Arzneiware enthält diese Regelung aber
nicht. Sie trifft auch keine Aussagen über die Einreihung eines Nahrungsergänzungsmittels
in die Pos. 2106 oder 2202 KN (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 30. März 2010
VII R 35/09, BFHE 229, 399, BStBl II 2011, 74, und BFH-Beschluss vom 16. August 2012
VII R 8/11, BFH/NV 2013, 99). Allerdings liegt der VO Nr. 1777/2001 ersichtlich die
Erwägung zugrunde, dass die Wirkstoffe Vitamine, Mineralstoffe, essentielle Aminosäuren
oder Fettsäuren nicht von vornherein den auf ihrer Grundlage zubereiteten Waren den
Charakter einer Arzneiware verleihen. Der 5. Erwägungsgrund der Verordnung lässt aber
erkennen, wie sich der Verordnungsgeber die Unterscheidung vorstellt: Zubereitungen für
besondere Ernährungszwecke oder diätetische Zwecke sind danach solche, die zum Erhalt
der Gesundheit oder des Wohlbefindens (to maintaining health or well-being) beitragen
können, während pflanzliche Arzneizubereitungen oder Zubereitungen auf der Grundlage
verschiedener Wirkstoffe dazu beitragen können, Krankheiten oder bestimmten Leiden
vorzubeugen oder sie zu behandeln (to prevent or treat diseases or specific ailments can be
established).
21 Die damit umschriebenen therapeutischen oder prophylaktischen Zwecke, die eine
Zubereitung zu einer Arzneiware machen, setzen demnach voraus, dass sie geeignet ist, auf
eine Krankheit einzuwirken, sie zu heilen, zu lindern oder zumindest ihre Verschlimmerung
oder Folgeerkrankungen zu verhindern. Das entspricht der allgemeinen
"selbstverständlichen" Verwendung der aus dem griechischen stammenden Begriffe
Prophylaxe und Therapie: Prophylaxe ist die Verhütung einer Krankheit durch vorbeugende
Maßnahmen, Therapie die Heilbehandlung von Krankheiten.
22 Dieses Verständnis einer "Arzneiware" wird übrigens auch gestützt von der ErlHS zu Pos.
3003 Rz 17.0, wonach die verschiedenen Bestimmungen in der Überschrift zu dieser
Position nicht für Lebensmittelzubereitungen gelten, die nur Nährstoffe enthalten. Denn
solche dienen zweifellos nicht der Verhütung oder Behandlung von Krankheiten, sondern
der Ernährung. Vor diesem Hintergrund versteht der Senat auch die Ausführungen des FG,
welches die Aminosäuremischungen nicht für Arzneiwaren hält, weil sie keine eigene
pharmakologische Wirkung haben und ihnen ein über einen reinen Nährstoff
hinausgehender "arzneilicher Wirkstoff" fehlt.
23 Aus dem EuGH-Urteil in Slg. 1998, I-8357 ergibt sich nichts Gegenteiliges. Denn der Gehalt
an Vitamin C im Produkt jenes Falls ging deutlich über das für die allgemeine Ernährung
notwendige oder empfohlene Maß hinaus und diente nicht nur zur Stärkung des
Immunsystems des menschlichen Organismus bei der Abwehr von Infektionen, sondern
darüber hinaus zur Behandlung allergischer Reaktionen und schwerer Traumata und zur
Bekämpfung von Mangelkrankheiten wie Skorbut oder der Möller-Barlow-Krankheit. Im
Gegensatz zum vorliegenden Fall war damit der auf die Bekämpfung einer vorliegenden
Krankheit gerichtete Zweck des Mittels ausdrücklich festgestellt. Ebenso wenig lassen sich
aus dem EuGH-Urteil vom 30. April 2014 C-267/13 --Nutricia NV-- (Amtsblatt der
Europäischen Union Nr. C 207/30) Anhaltspunkte für die Einreihung einer Ware der
vorliegenden Art in die Pos. 3003 KN herleiten. Jene Entscheidung betrifft ein für den
Einzelverkauf vorgesehenes Erzeugnis der Pos. 3004 KN.
24 3. Obwohl der Senat aufgrund der vorstehenden Erwägungen die vom HZA vorgenommene
und vom FG bestätigte Einreihung der Aminosäuremischungen R-1 und R-2 in die Pos. 2106
KN für zutreffend hält, erscheint eine Vorabentscheidung des EuGH im Hinblick auf die
abweichende Auffassung des Upper Tribunal UK zur Sicherung einer einheitlichen
Rechtsauslegung in der Union erforderlich.
Das britische Gericht hatte die gleichen Aminosäuremischungen zu beurteilen und ist zum
Ergebnis gekommen, es handele sich um Arzneiwaren i.S. der Pos. 3003 KN, da sie die
ernährungsphysiologischen Bedürfnisse des Kleinkinds erfüllten und zudem in der Lage
seien, die zugrunde liegenden allergischen Symptome zu behandeln. Es komme nicht
darauf an, ob durch die Behandlung das Leiden tatsächlich geheilt werden könne. Die
Unterscheidung danach, ob mithilfe der Ware ein Leiden geheilt oder die Symptome unter
Kontrolle gehalten oder unterdrückt werden könnten, sei gekünstelt. Die Verwendung von
Stoffen zum Zweck der Behandlung einer Erkrankung, indem deren Symptome kontrolliert
oder ihnen vorgebeugt werde, falle unter den Begriff "therapeutisch" i.S. der Überschriften zu
Kap. 3003 und 3004 KN. Die Säuglingsnahrung bewirke, dass die Auswirkungen der
Stoffwechselerkrankung (Milchallergie) bekämpft und manchmal auch gemildert würden.
Darüber hinaus sei auch bezeugt, dass bereits hervorgerufene Ekzeme abklängen und
Koliken verschwänden, obwohl die Allergie nicht geheilt werde.
25 Das Upper Tribunal UK berücksichtigt nach Auffassung des erkennenden Senats nicht
hinreichend, dass das Abklingen der --infolge der Einnahme der allergieauslösenden Stoffe
aufgetretenen-- Symptome auf der Umstellung der Säuglingsernährung (Ersetzen der
Milchproteine durch die Aminosäuremischungen) beruht und gerade nicht durch eine durch
die Aminosäuren geförderte Ausbildung des Immunsystems hervorgerufen wird. Eine
Einwirkung der Ernährungsumstellung auf die Krankheit selbst hat es nicht festgestellt.